Seit knapp 57 Jahren leistet das Friedensdorf International in Oberhausen medizinische Hilfe für Kinder aus Kriegs- und Krisenregionen. Die kleinen Patienten im Alter zwischen zwei und 13 Jahren können in ihren Herkunftsländern nicht angemessen versorgt werden und werden zur Behandlung nach Deutschland geflogen. Ein Besuch.
von Marc Strohm
Ausgelassenes Lachen erfüllt den Raum, als der siebenjährige Abdul vor seinen Spielkameraden die Löwenmaske aufsetzt. Die Kinder spielen Zoo. Es gibt Gebäck, fröhliche Musik schallt durch den Raum, manche Mädchen und Jungen tanzen. Und doch unterscheiden sich die umhertollenden Kinder im Oberhausener Friedensdorf von ihren Altersgenossen: Brandnarben und fehlende Gliedmaßen lassen die Schicksale der kleinen Patienten erahnen. Hier in Oberhausen werden Kinder behandelt, die in ihren Herkunftsländern nicht adäquat medizinisch versorgt werden können. So auch Abdul: Die Therapie von Xeroderma Pigmentosum, einer seltenen genetisch bedingten Erkrankung, war in seiner afghanischen Heimat unmöglich: es fehlten die Spezialisten. Tumore wucherten in seinem Gesicht, er befand sich in einem kritischen Zustand, als er für eine Behandlung in Deutschland vorgesehen wurde. Im Helios St. Johannes Klinikum in Duisburg-Hamborn, einem Partnerkrankenhaus des Friedensdorfes, werden die Wucherungen durch eine spezielle Chemotherapie behandelt. Mit Erfolg, denn die Wucherungen im Gesicht und die Metastasen im Körper bilden sich erfolgreich zurück. Der Siebenjährige blüht regelrecht auf.
Alle Kinder im Friedensdorf stammen aus Kriegs- und Krisenregionen weltweit. Aktuell leben dort 165 Kinder aus Usbekistan, Kirgisistan, Tadschikistan und Angola, die meisten sind zwischen zwei und dreizehn Jahre alt. Ihr gemeinsames Ziel: Schnell gesund werden, um nach Hause zu ihren Familien zurückkehren zu können. „Am häufigsten versorgen wir hier Knochenentzündungen (Osteomyelitis) und Zustände nach Verbrennungen, die zum Beispiel durch Haushaltsunfälle mit Erdöfen entstehen“, sagt Claudia Peppmüller, die seit 1994 als Sozialarbeiterin im Friedensdorf arbeitet. Sie begleitet häufig die Flüge aus Afghanistan und kennt die Situation im Land. „Seit dem Abzug der westlichen Truppen ist Afghanistan eine vergessene Nation“, erklärt sie. Prekär sei die Lage vor allem außerhalb der großen Städte wie Kabul. Nach der Machtübernahme der Taliban im Spätsommer 2021 sei die Wirtschaft des Landes zusammengebrochen, viele Afghanen seien arbeitslos und Wohnraum kaum mehr bezahlbar. Großfamilien lebten häufig in kleinen Lehmhütten auf engstem Raum zusammen. Immer wieder werde das Land von Naturkatastrophen heimgesucht, zuletzt richtete ein Erdbeben schwere Schäden in der Region Herat an. Auch plagt eine verheerende Dürre das Land, die Brunnen versiegen lasse. Auch an Nahrungsmitteln mangle es derzeit, sodass viele Kinder unterernährt seien, berichtet Peppmüller.
Afghanistan – ein vergessenes Land
Nicht einmal eine medizinische Grundversorgung gebe es noch: viele Ärzte seien ins Ausland geflohen, eine funktionierende Krankenversicherung gab es ohnehin noch nie und eine kostspielige Behandlung sei für die meisten Familien nicht bezahlbar. Dazu fehle es an medizinischem Gerät, an Medikamenten und Verbandsmaterial. Das Land sei dringend auf internationale Hilfe angewiesen, doch kaum eine westliche Organisation kooperiere mit den aktuellen Machthabern, den Taliban.
Bevor ein verletztes oder krankes Kind im Friedensdorf in Oberhausen aufgenommen wird, muss sichergestellt werden, dass eine Behandlung im dortigen Medizin-Zentrum stattfinden kann oder etwa ausreichend freie Betten in kooperierenden deutschen Kliniken verfügbar sind. Ist das der Fall, werden behandlungsbedürftige Kinder in ihren Herkunftsländern nach einem vorgegebenen Verfahren von Ärztinnen und Ärzten vor Ort ausgewählt. Dabei spielt neben der Dringlichkeit der Behandlung auch die Transportfähigkeit des Kindes eine wichtige Rolle. In Afghanistan ist der Rote Halbmond Partnerorganisation des Friedensdorfs Oberhausen. Vor dem Transport nach Deutschland gilt es noch, bürokratische Hürden zu überwinden. So müssen für die kleinen Patienten zum Beispiel Visa beantragt werden. Dabei unterstützt sie das Einsatzteam des Friedensdorfes, die während ihres Aufenthaltes im Herkunftsland der Kinder bereits eng mit den ehrenamtlich tätigen Ärztinnen und Ärzten bundesweit zusammenarbeiten.
Tränenreiche Abschiede
Der Abschied der Kinder von ihren Eltern und Geschwistern ist immer hart und tränenreich. Meist bleiben die kleinen Patienten für Therapie und Reha ein Jahr lang in Deutschland und für viele Familien ist es schwierig, mit den Kindern in direktem Kontakt zu bleiben. In Afghanistan verfügten nicht alle Familien über ein Telefon, sagt Peppmüller. Und doch würden Eltern und Kinder die Zeit, die sie voneinander getrennt sind, meist stoisch ertragen. „Die meisten Eltern haben ihre Kinder lange leiden sehen und setzen nun große Hoffnungen auf die Behandlung in Deutschland“, betont die Sozialarbeiterin. Außerdem könnten sie sich jederzeit an den Roten Halbmond vor Ort wenden, der dann den Behandlungsfortschritt im Friedensdorf erfrage.
Nach der Landung in Deutschland werden die meisten Kinder zunächst auf Infektionskrankheiten untersucht, bevor es für die kleinen Patienten direkt in die Krankenhäuser weitergeht. Einige der Kinder werden im eigenen Medizin-Zentrum mit OP-Saal medizinisch versorgt. Die langen weißen Korridore wirken steril, dafür gibt es im Wartebereich eine Spielecke mit Ritterburg und Bauklötzen. Im Narkoseraum des Medizin-Zentrums schaut eine kleine Patientin aufmerksam eine Zeichentrickserie am Fernseher, bis ihr schläfrig die Augen zufallen. Für circa 80 Prozent der Operationen ist das Friedensdorf nach wie vor auf die Expertise der Partner-Krankenhäuser angewiesen, erklärt Peppmüller. Mit dem im Jahr 2021 eröffneten OP-Zentrum agiere das Friedensdorf etwas autarker und könne beispielsweise Verbrennungsverletzungen und Narbenkontrakturen selbst behandeln.
Dr. Raouf Onallah und Dr. Marios Bugariu gehören zum Team aus zehn ehrenamtlich engagierten Ärztinnen und Ärzten, die die Operationen im OP-Zentrum des Friedensdorfes durchführen. Beide sind plastische Chirurgen. „Viele Verletzungen, die wir hier versorgen, wie beispielsweise Narbenkontrakturen, sind für deutsche Verhältnisse völlig ungewöhnlich“, sagt Onallah. Der erfahrene Chirurg ist Leitender Arzt am Zentrum für Schwerbrandverletzte/Brandverletzungen am BG Klinikum Duisburg und hat für die Hilfsorganisation Interplast unter anderem chirurgische Einsätze in Eritrea absolviert. Er ist mit den klassischen „Drittweltverletzungen“ vertraut. Häufig schränkten Narbenkontrakturen an den Gelenken die Bewegungsfreiheit der Kinder ein, sodass sie in schmerzhaften Zwangspositionen verharrten. Onallah erinnert sich gut an eine dreijährige Patientin aus Afghanistan, die eine Narbenkontraktur in der Armbeuge hatte, in deren Folge die Hand an der Stirn festgewachsen war. In ihrem kurzen Leben habe sie bereits so viel Schmerz und Angst ertragen müssen, dass sie völlig verschüchtert zu ihm in die Behandlung gekommen sei. Nachdem er die Kontraktur aus der Armbeuge entfernt und die Hand von der Stirn gelöst habe, sei das Mädchen im Friedensdorf regelrecht aufgeblüht, erklärt der Chirurg. Heute sei sie ein lebensfrohes Kind, die ihren Alltag mühelos meistern kann, sagt Onallah. „Schwieriger, als Narbenkontrakturen zu entfernen, ist die Behandlung von Knochenentzündungen, die als Folge einer verschleppten Behandlung auftreten“, erklärt sein Kollege Bugariu. Häufig müssten sich die Kinder mehreren Operationen unterziehen, damit der Knochen gesäubert werden könne. Danach erfolge die Wiederherstellung des Weichgewebes. Damit verbunden sei eine lange Antibiotikatherapie. Oftmals kehre die Entzündung nach erfolgreich geglaubter Behandlung wieder. Eine Amputation sei dann die letzte Option, so der Chirurg. Aber auch urologische Erkrankungen können in den Partnerkrankenhäusern des Friedensdorfes behandelt werden. So litten viele der Oberhausener Patienten unter einer Blasenexstrophie, einer seltenen, aber schwerwiegenden Fehlbildung. Andere Kinder litten unter den Folgen einer mangelhaften Stomaversorgung im Herkunftsland, bei der statt Stomabeuteln Plastikflaschen oder Plastiktüten genutzt wurden. „Leider gibt es für diese Diagnose eine lange Warteliste“, erklärt Peppmüller
Leben im Friedensdorf
Sowohl Bugariu als auch Onallah empfinden die Arbeit im Friedensdorf als äußerst sinnstiftend. „Im Vergleich zu anderen Ländern leben wir in einem großen Wohlstand und ich bin froh, dass wir diesen Wohlstand hier mit den Kindern teilen, um ihnen Gesundheit zu schenken“, sagt Onallah.
Derweil lassen sich die Kinder im Friedensdorf trotz ihrer schweren Erkrankungen oder Verletzungen und fern der Heimat die Lebensfreude nicht nehmen. Claudia Peppmüller erklärt, dass die Kinder in der Regel schnell neue Freunde finden. „Woher kommst du?“ fragen sich Abdul und die anderen gegenseitig und zeigen auf bunten Weltkarten ihr Herkunftsland. Oft schaffe es zwischen den Kindern Nähe, wenn sie herausfinden, dass sie zwar auf unterschiedlichen Kontinenten lebten, aber dennoch die gleichen Erfahrungen von Krieg oder Mangel gemacht hätten. Gesprochen werde im Friedensdorf meist Deutsch. Die Kinder lernten schnell, sich mit rudimentären Sätzen zu verständigen, sagt Peppmüller. Bei Neulingen dolmetschten häufig die schon länger im Dorf lebenden Kinder. Verständigungsprobleme gebe es kaum. Neben der medizinischen Hilfe in Deutschland leistet das Friedensdorf International in den Heimatländern der Patientinnen und Patienten „Hilfe zur Selbsthilfe“. Unter anderem finanziert das Friedensdorf kleinere Operationen in Usbekistan. So können in einer usbekischen Einrichtung seit 2015 unter anderem Gaumenspalten behandelt werden. „Ziel ist, dass die Kinder zur Behandlung nicht mehr nach Deutschland geflogen werden müssen, sondern vor Ort versorgt werden können“, sagt Peppmüller.
Damit während des langen Aufenthalts in Deutschland die Bildung nicht zu kurz kommt, findet täglich Unterricht im Lernhaus der Hilfseinrichtung statt. Auf dem Whiteboard in einem Klassenzimmer sind die Grundrechenarten mit schwarzem Permanentstift festgehalten. Die fitten Kinder müssen darüber hinaus leichte Aufgaben in der Heimeinrichtung übernehmen. So fegen gerade ein paar kleinere Kinder mit einem zu großen Besen durch den Speisesaal. Dabei wird viel gelacht. „So gut wie alle Kinder hier stammen aus Großfamilien, bei denen sie im Haushalt mit anpacken. Zu sehr verwöhnt wird hier niemand“, betont Peppmüller. Schließlich sollen sich die Kinder nach Abschluss ihrer Behandlung wieder möglichst reibungslos in ihre Ursprungsfamilien einfügen. „Die Kinder sollen nicht von ihren Eltern entfremdet werden“, sagt die Sozialarbeiterin. Deshalb werde auch vermieden, sie in Deutschland zu sozialisieren oder zu große emotionale Bindungen zum Pflege- oder Betreuungspersonal entstehen zu lassen.
Auch wenn die Kinder im Friedensdorf gemeinsam viel Spaß haben, kommt manchmal Heimweh auf. „Wann geht es nach Hause?“ ist eine der am meisten gestellten Fragen, die Abdul und seine Spielkameraden umtreibt. Denn die Vorfreude auf ihre Familien ist riesengroß. Dennoch bleiben viele der kleinen Patientinnen und Patienten dem Friedensdorf verbunden. Manche halten jahrelang Kontakt über die Ausgabe ihrer Dauermedikation im Heimatland oder melden sich auch über soziale Medien. Die Fotos dort zeigen meist geheilte Kinder mit einem glücklichen Lächeln im Kreise ihrer Lieben.
Spenden und Ehrenamt im Friedensdorf
Das Friedensdorf finanziert sich fast ausschließlich durch Spenden. Eine Liste der möglichen Spendenmöglichkeiten unter www.friedensdorf.de/spenden/
Spendenkonto:
Friedensdorf International
Stadtsparkasse Oberhausen
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BIC: WELADED1OBH
Daneben sucht das Friedensdorf Freibetten in Kliniken, Ärztinnen und Ärzte aller Fachrichtungen
sowie Angehörige anderer Gesundheitsberufe, die sich ehrenamtlich engagieren wollen.
Informationen unter:
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Tel.: 02064 49 74-0
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