Die Euregios wollen die Grenzregionen wirtschaftlich, kulturell und gesellschaftlich stärken und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit fördern – auch im Gesundheitswesen. In der Euregio Maas-Rhein, zu der die Region „Aachen Zweckverband“ gehört, stellt die Grenze für Ärzte und Patienten heute kaum noch ein Hindernis dar.
von Marc Strohm
Für den niederländischen Kinderchirurgen Professor Dr. Wim van Gemert ist es nichts Ungewöhnliches, zur Arbeit über die Grenze nach Deutschland zu fahren. Eigentlich wohnt er in Maastricht und arbeitet am dortigen Universitätsklinikum UMC +. Doch neben seiner Tätigkeit in den Niederlanden führt der Kinderchirurg auch Operationen an der RWTH Aachen durch. Als Initiator des „Internationalen Zentrums Kinderchirurgie“ setzt er sich in der Euregio Maas-Rhein für eine enge Kooperation der Universitätskliniken in der Grenzregion zwischen den Niederlanden, Belgien und Deutschland ein. In einem Umkreis von rund 40 Kilometern finden sich hier gleich drei Universitätskliniken: neben dem Universitätsklinikum Maastricht die RWTH Aachen auf deutscher Seite und im belgischen Liège die Universitätsklinik CHU. „Eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit liegt da nahe, um Kompetenzen zu bündeln und unnötige Parallelstrukturen zu vermeiden“, erklärt van Gemert im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt. So werde zum Beispiel in Maastricht aktuell ein Labor zur Diagnose von Darmerkrankungen aufgebaut, das auch von den Kliniken in Liège und Aachen genutzt werden könne. Die Behandlung und Nachsorge solle dann möglichst in den Heimatländern der Patienten stattfinden.
Van Gemert überweist seine kleinen Patientinnen und Patienten regelmäßig zur Behandlung in die Nachbarländer. Aktuell gebe es in Maastricht beispielsweise zu wenige OP-Kapazitäten in der Kinderchirurgie. Um lange Wartezeiten zu vermeiden, könnten die kleinen Patienten in Liège oder Aachen behandelt werden. Innerhalb der Niederlande gebe es entsprechende Behandlungsmöglichkeiten beispielsweise in Amsterdam, was deutlich weiter vom Wohnort der Patienten entfernt sei. Ähnlich ist die Situation in der Kinderonkologie: In Maastricht würden keine Krebstherapien für Kinder angeboten. Die nächste Möglichkeit zur Behandlung in den Niederlanden bestehe im 145 Kilometer entfernten Utrecht. Für die kleinen Patienten und deren Eltern bedeute dies eine knapp zweistündige Autofahrt quer durch die Niederlande — dabei gebe es in der nahegelegenen Uniklinik in Aachen angemessene Therapiemöglichkeiten. „Vor die Wahl gestellt, entscheiden sich viele Patienten und deren Eltern für die Behandlung im nahegelegenen Deutschland,“ weiß van Gemert. Die Kooperation stelle die Krankenhäuser jedoch auch vor neue Herausforderungen. So müssten sensible Patientendaten sicher von einem Land ins andere übertragen werden. Sprachbarrieren spielen van Gemert zufolge dagegen nur eine untergeordnete Rolle. Viele niederländische Ärztinnen und Ärzte beherrschten – wie er selbst – die deutsche Sprache. In Maastricht plane man zudem, künftig Patienten von speziell ausgebildeten Case Managern begleiteten zu lassen, die dann in Liège oder Aachen die bürokratischen Angelegenheiten regeln. „Wir möchten in dieser Euregio eine Blaupause für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Krankenhäusern schaffen“, erklärt van Gemert.
Unterstützt werden die Krankenhäuser bei ihrer Vernetzung von der Euregio Maas-Rhein mit Sitz im belgischen Eupen. Diese hat es sich seit den 1970er-Jahren zum Ziel gesetzt, grenzbedingte Hindernisse abzubauen und die Region durch grenzübergreifende Zusammenarbeit auf wirtschaftlicher, kultureller und gesellschaftlicher Ebene zu stärken. Wie das NRW-Gesundheitsministerium mitteilt, existieren im Land vier Euregios: neben Maas-Rhein gibt es die Euregio Rhein-Maas-Nord mit Sitz in Mönchengladbach und die Euregio Rhein-Waal mit Sitz in Kleve. Die älteste Euregio in NRW ist die 1958 gegründete EUREGIO mit Sitz im westfälischen Gronau. Das Land NRW unterstützt jede dieser Euregios mit einer jährlichen Zuwendung von jeweils knapp 40.000 Euro. Daneben erhalten die Euregios durch Programme der Europäischen Union, insbesondere durch das INTERREG-Programm, Fördermittel. In der Euregio Maas-Rhein haben sich fünf Regionen in NRW, den Niederlanden und Belgien für eine grenzübergreifende Kooperation zusammengeschlossen. Zu den belgischen Kooperationspartnern gehören die Provinzen Belgisch-Limburg und Liège sowie Ostbelgien. Auf niederländischer Seite ist die Provinz Limburg Teil der Kooperation. In NRW wirkt die Region „Aachen Zweckverband“ an der Euregio mit.
Über die Grenze zum Arzt
„Von der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit profitieren aber nicht nur Patienten, die stationär versorgt werden müssen. Die Euregio hat auch den Zugang zu den Praxen niedergelassener Fachärzte jenseits der Grenze vereinfacht“, erklärt Michael Dejozé, Geschäftsführer der Euregio Maas-Rhein. Denn für viele Patienten aus den Niederlanden sei ein Besuch beim niedergelassenen Facharzt in Deutschland eine gute Option, um lange Wartezeiten auf eine Behandlung zu vermeiden. In den Niederlanden finde die fachärztliche Versorgung ausschließlich im Krankenhaus statt. Benötige ein Patient eine fachärztliche Behandlung, werde er von seinem Hausarzt direkt in die entsprechende Fachabteilung eines Krankenhauses überwiesen. Entsprechend lang seien die Wartelisten, sagt Dejozé.
Ermöglicht wird die unkomplizierte Versorgung in den Praxen im Rahmen der Modellprojekte „Integration Zorg op Maat“ (IZOM) und „Zorg op Maat“ (ZOM), an denen die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein (KVNO) beteiligt ist. In den drei nordrheinischen Euregios Maas-Rhein, Rhein-Waal und Rhein-Maas-Nord haben sich Krankenversicherer aus Deutschland (AOK Rheinland/Hamburg und IKK classic), Belgien und den Niederlanden über eine Kostenübernahme für Behandlungen im Ausland verständigt. Die „Euregioverträge“ umfassen die fachärztliche Versorgung einschließlich der Arzneimittelversorgung sowie gegebenenfalls eine erforderliche stationäre Behandlung. 1.800 Patientinnen und Patienten wurden der KVNO zufolge im letzten Quartal des Jahres 2023 im Rahmen der IZOM- und ZOM-Vereinbarungen behandelt—insbesondere im Bereich der Allgemeinmedizin, Gynäkologie und Augenheilkunde.
Bis zum 30. Juni 2017 galt die IZOM-Regelung auch für belgische Patientinnen und Patienten. Dann beendete die belgische Seite das Abkommen. Das Projekt sei zu teuer gewesen, erklärte das belgische Landesinstitut für Kranken- und Invalidenversicherung (LIKIV). Ferner habe IZOM zu Diskriminierung geführt, weil Ostbelgier in Deutschland Leistungen in Anspruch nehmen konnten, die im übrigen Belgien nicht von der Krankenkasse erstattet werden, so zum Beispiel Akupunktur. Daneben klagten Kliniken und Ärzte über Wettbewerbsverzerrung. So sei
es für belgische Patienten preiswerter, in Deutschland einen Arzt aufzusuchen, weil dort keine Selbstbeteiligung anfalle. Anstelle von IZOM trat in der Folge das Ostbelgien-Abkommen in Kraft: Ein Besuch bei deutschen Ärzten ist seither in der Regel auf „Privatrechnung“ oder per Kostenerstattung möglich. Die Aufkündigung des IZOM-Abkommens sei insbesondere für die deutschsprachige Gemeinschaft in Ostbelgien ein schwererer Schlag gewesen, sagt Euregio-Geschäftsführer Dejozé. Durch IZOM konnten diese Patientinnen und Patienten sich in Praxen und Krankenhäusern in Deutschland unkompliziert in ihrer Muttersprache behandeln lassen. Durch die Ostbelgien-Regelung ist dies auch in vielen Fällen weiterhin möglich – bei bestimmten Erkrankungen müssten einige Patienten aber in wallonische Krankenhäuser gehen, wo sie sich auf Französisch verständigen müssten.
Gemeinsam entscheiden
Wie wichtig die Zusammenarbeit in der Euregio Maas-Rhein ist, habe insbesondere die Coronapandemie gezeigt: Zu Beginn der Pandemie war die Grenze zwischen den Niederlanden und Belgien geschlossen. Darunter hätten insbesondere ältere Menschen gelitten, die von Angehörigen jenseits der Grenze gepflegt wurden. Die enge Zusammenarbeit in der Grenzregion habe dazu geführt, dass für diese Menschen schnell Sonderregelungen gefunden werden konnten, berichtet Brigitte van der Zanden, Direktorin von euPrevent, einem Netzwerk der Euregio Maas-Rhein zur Gesundheitsförderung. Sie hat aber auch Beispiele dafür, was geschieht, wenn die Länder sich beispielsweise bei Präventionsmaßnahmen nicht abstimmen. Nachdem die Niederlande das Mindestalter für den Konsum von Bier von 16 Jahren auf 18 erhöhten, organisierten die niederländischen Jugendlichen ihre Partys eben in Deutschland oder Belgien, wo Bier weiterhin ab 16 Jahren erhältlich ist. Einen ähnlichen Effekt beobachtet van der Zanden aktuell bei der Anfang des Jahres in Kraft getretenen niederländischen Zuckersteuer: Bewohner der niederländischen Grenzregion ziehe es nun zum Einkaufen von zuckerhaltigen Erfrischungsgetränken in die deutschen Supermärkte.
Trotz einiger Baustellen in der grenzübergreifenden Zusammenarbeit ist Euregio-Geschäftsführer Dejozé stolz auf das bisher Erreichte. „In den drei Ländern der Euregio werden wir nie das gleiche Gesundheitssystem haben, aber wir können uns in kleinen Schritten aufeinander zubewegen“, meint er. Ein großer Erfolg sei beispielsweise die grenzübergreifende Unfall- und Krisenbewältigung EMRIC. Dabei unterstützen sich die öffentlichen Dienste in der Euregio beispielsweise bei Brandbekämpfung, Infektionsschutz und der Notfallversorgung. Im Grenzgebiet seien ausländische Rettungskräfte in manchen Fällen schneller vor Ort als die eigenen, weshalb vor allem in diesem Bereich eine Kooperation zwingend notwendig sei, erklärt Dejozé. Jährlich überqueren knapp 900 Rettungswagen die Grenzen, um in den Nachbarländern schnelle Hilfe zu leisten. Viele Regelungen seien allerdings bisher eher „pragmatisch“ getroffen worden. „Juristisch steht noch viel Arbeit an“, so Dejozé. In internationalen Arbeitsgruppen wurde und wird nach wie vor unter anderem abgesprochen, welche Befugnisse und Qualifikationen Notärzte und Notfallsanitäter in den verschiedenen Nationen besitzen müssen.
Mittlerweile gebe es kaum einen Lebensbereich, den die Euregio Maas-Rhein nicht aktiv mitgestalte, sagt euPrevent-Direktorin van der Zanden. Das grenzüberschreitende Leben sei für viele Menschen in der Region selbstverständlich. Sie führen zum Studieren, Arbeiten, Einkaufen oder zum Entspannen ins Nachbarland. Ein Arztbesuch „bei den Nachbarn“ sei allerdings trotz der guten Zusammenarbeit der Länder für viele noch kein Alltag. Häufig scheuten Patientinnen und Patienten den Gang zum Arzt über die Grenze, weil für viele unklar sei, welche Leistungen in welcher Höhe erstattet würden. Die Sorge, auf den Kosten sitzen zu bleiben, begleite viele Patienten, so van der Zanden. Bisher würden sich die Patienten bei Fragen zur Kostenübernahme an die Krankenkassen wenden. Doch den Versicherern in den verschiedenen Nationen fehlt van der Zanden zufolge oftmals der Blick „über die Grenze.“ Auch über das fachärztliche Angebot jenseits der Grenze fehle es an Informationen. Um die Menschen in der Euregio besser über Gesundheitsangebote diesseits und jenseits der Grenze aufzuklären, brauche es eine unabhängige und serviceorientierte Beratungsstelle, sagt van der Zanden, wie es sie im Übrigen für das Wohnen, Arbeiten und Studieren im benachbarten Ausland bereits gebe.
Van der Zanden ist 48 Jahre alt und erinnert sich noch gut zurück an ihre Kindheit im niederländischen Enschede, als die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der Region noch in den Kinderschuhen steckte: „Wir sind damals zum Einkaufen oft über die Grenze nach Deutschland gegangen, aber für die Versorgung im Krankenhaus fuhren wir quer durch die Niederlande bis nach Amsterdam – dabei hatten wir im rund fünfzig Kilometer entfernten Münster ein gut ausgestattetes Universitätsklinikum in unmittelbarer Nähe.“
Der niederländische Kinderchirurg Professor Dr. Wim van Gemert lebt und arbeitet gerne in der Euregio. „Um grenzübergreifend zu arbeiten, braucht es aber Ärzte und Pfleger mit einer ‚euregionalen‘ Mentalität, die den Gang über die Grenze nicht scheuen“, weiß van Gemert. Denn häufig seien die Arbeit und der Umzug ins Nachbarland mit bürokratischen Hürden verbunden. Auch kulturelle Unterschiede am Arbeitsplatz überraschten van Gemert zu Beginn seiner Tätigkeit in Aachen. So waren die Hierarchien dort deutlich ausgeprägter als in den Niederlanden. Heute lockere sich das aber, sagt der Niederländer.