Vorlesen
Forum

Assistierter Suizid: Medizinische Fachgesellschaften streben Leitlinie an

08.05.2024 Seite 37
RAE Ausgabe 6/2024

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 6/2024

Seite 37

Grauzone Suizidhilfe: Weil sie schwer psychisch kranken Sterbewilligen eine Infusion mit tödlich wirkenden Medikamenten verabreichten, wurden zwei Ärzte kürzlich zu Haftstrafen verurteilt. © Pitchayanan Kongkaew/istockphoto.com
Gemeinsam mit weiteren medizinischen Fachgesellschaften hat die Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) bei der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) eine Leitlinie angemeldet, die Ärzte und andere Gesundheitsberufe im Umgang mit Anfragen nach Assistenz bei der Selbsttötung unterstützen soll. Zentrale Inhalte betreffen die Prüfung der Freiverantwortlichkeit sowie die Aufklärung und Beratung über Alternativen zum Suizid.

von Heike Korzilius

Die Tendenz ist steigend. 419 ärztliche Freitodbegleitungen hat die Deutsche Gesellschaft für humanes Sterben (DGHS) im vergangenen Jahr für ihre Mitglieder vermittelt, nach 229 im Jahr 2022 und 120 im Jahr 2021. Das teilte die Gesellschaft Ende Februar in ihrer Jahresbilanz mit. Für die Suizidassistenz hat sich die DGHS eigene Regeln gegeben, die unter anderem vorsehen, im Rahmen von zwei Beratungsgesprächen die Freiverantwortlichkeit der Entscheidung des Sterbewilligen zu prüfen. Weil diese in Zweifel stand, seien 34 Anträge auf eine Freitodbegleitung 2023 abgelehnt worden, so die DGHS. 

Sterbehilfe-Vereine können seit 2020 wieder legal in Deutschland tätig sein. Damals hatte das Bundesverfassungsgericht das 2015 eingeführte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung, das unter anderem auf diese Vereine zielte, gekippt. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasse das Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Das schließe die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen – und zwar unabhängig von Alter oder Krankheit, urteilten die Karlsruher Richter. Allerdings betonten sie auch, es müsse sichergestellt sein, dass eine solche Entscheidung freiverantwortlich und wohlüberlegt getroffen wurde und der Wunsch, aus dem Leben zu scheiden, von Dauer sei. Außerdem stellte das Bundesverfassungsgericht klar, dass niemand verpflichtet werden kann, Suizidhilfe zu leisten, und räumte dem Gesetzgeber die Möglichkeit ein, Regelungen zum Schutz vor Missbrauch zu treffen. Zu denen, die vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das Verbot der Sterbehilfe geklagt hatten, gehörte unter anderem die DGHS. 
Während die Sterbehilfe-Vereine derzeit keinen weiteren Handlungsbedarf des Gesetzgebers zur Regelung der Suizidassistenz sehen, warnen andere vor einer rechtlichen Grauzone. Zwei ähnlich gelagerte Verfahren im Rahmen der Hilfe zur Selbsttötung gegen zwei Ärzte vor den Landgerichten Essen und Berlin scheinen den Kritikern gesetzgeberischer Untätigkeit Recht zu geben. In Essen hatte ein Neurologe und Psychiater (81) dem Gericht zufolge einem schwer psychisch kranken 42-Jährigen eine Infusion mit einer tödlich wirkenden Menge Thiopental angehängt, deren Zuflussventil der Sterbewillige dann selbst öffnete und starb. In Berlin hatte ein pensionierter Hausarzt (74) einer 37-jährigen, unter Depressionen leidenden Frau ebenfalls eine Infusion mit einer tödlichen Dosis Thiopental gelegt, die die Sterbewillige selbst in Gang setzte und starb. In beiden Fällen wurden die Ärzte jetzt wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Die Gerichte waren jeweils zu der Ansicht gelangt, dass die Suizidenten aufgrund ihrer psychischen Erkrankung die Entscheidung, ihrem Leben ein Ende zu setzen, nicht mehr freiverantwortlich treffen konnten und eine objektive Abwägung des Für und Wider krankheitsbedingt nicht mehr möglich war. Der vom Essener Landgericht verurteilte Psychiater hat angekündigt, in Revision zu gehen.

Ärzte beklagen Unsicherheiten

Wer definiert und bescheinigt nach welchen Kriterien die Freiverantwortlichkeit eines Suizidwunsches? Wer berät nach welchen Kriterien über Alternativen zum Suizid? Welche Rolle sollen Ärztinnen und Ärzte oder Psychologische Psychotherapeuten dabei übernehmen? All das sind Fragen, auf die es bislang keine verbindlichen Antworten gibt. Koordiniert von der Akademie für Ethik in der Medizin haben deshalb Anfang des Jahres mehrere medizinische Fachgesellschaften bei der AWMF eine Leitlinie angemeldet, die Ärzte und andere Gesundheitsberufe im Umgang mit Anfragen nach Assistenz bei der Selbsttötung unterstützen soll, darunter auch die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO). „Unsere Fachgesellschaft hat sich bereits 2015 und 2022 in wissenschaftlichen Symposien, Online-Umfragen unter Ärztinnen und Ärzten sowie in zwei Publikationen zu Kriterien für den professionellen Umgang mit Anfragen nach assistierter Selbsttötung und dem Erwerb entsprechender Kompetenzen geäußert“, erklärt Professor Dr. Andreas Hochhaus, Geschäftsführender Vorsitzender der DGHO auf Anfrage des Rheinischen Ärzteblattes (RÄ). Denn viele DGHO-Mitglieder beklagten Unsicherheiten beim Umgang mit Sterbewünschen und sähen einen erheblichen Bedarf an Empfehlungen. Zugleich entwickele sich seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts eine Praxis der assistierten Selbsttötung, die weder gesetzlich noch anderweitig normiert sei. Diese Leerstelle soll die geplante Leitlinie füllen helfen. Zu den wichtigen Inhalten gehören Hochhaus zufolge die Beratung über alternative Handlungsoptionen zum Suizid sowie die Prüfung der Freiverantwortlichkeit des Sterbewunsches – beides Gegenstand der Prozesse in Berlin und Essen.

Gewissensfreiheit wahren

Für Professor Dr. Jan Schildmann, stellvertretender Leiter des DGHO-Arbeitskreises „Medizin und Ethik“, ist es wichtig, dass die geplante Leitlinie unter Beteiligung mehrerer Fachgesellschaften und interdisziplinär entwickelt wird. Denn die Suizidhilfe werde in unterschiedlichen klinischen Kontexten angefragt. „Die Situation von Patientinnen und Patienten mit einer lebensbegrenzenden Krebserkrankung unterscheidet sich beispielsweise von der eines hochaltrigen Menschen in einer Pflegeeinrichtung“, erklärt Schildmann. Dazu kämen die unterschiedlichen professionsethischen Haltungen in den verschiedenen Fachgesellschaften.

Es sei wichtig, einen angemessenen Weg eines medizinisch begleiteten Suizids zu konzipieren, der zugleich der Gewissensfreiheit der beteiligten Ärztinnen und Ärzte sowie der Angehörigen anderer Heilberufe gerecht werde, meint Professor Dr. phil. Alfred Simon, Leiter der Geschäftsstelle der AEM. „Es gibt gute Gründe, das Recht auf selbstbestimmtes Sterben nicht ohne medizinische Hilfe wahrnehmen zu müssen.“ Eine Leitlinie könne eine verantwortbare Praxis im Umgang mit Anfragen nach Assistenz bei der Selbsttötung unterstützen, begründet er den Beschluss der AEM, den Prozess zu koordinieren.

Neuer Anlauf zur Gesetzgebung

Auch vonseiten der Politik sieht man offenbar weiterhin Handlungsbedarf. Im Sommer 2023 hatte der Deutsche Bundestag zwei fraktionsübergreifende Gesetzentwürfe zur Neuregelung der Sterbehilfe abgelehnt. Eine Gruppe von Abgeordneten um Lars Castellucci (SPD) zielte darauf, die Arbeit von Sterbehilfe-Vereinen grundsätzlich wieder unter Strafe zu stellen. Um das Recht auf selbstbestimmtes Sterben zu gewährleisten, sollte es aber Ausnahmen geben. Menschen, die freiverantwortlich und frei von sozialem Druck aus dem Leben scheiden wollen, sollten Zugang zu einem tödlich wirkenden Medikament erhalten. Einen liberaleren Ansatz vertrat eine zweite Gruppe um Katrin Helling-Plahr (FDP). Deren Gesetzentwurf stellte klar, dass Hilfe zur Selbsttötung straffrei und erlaubt ist und sah sichere Zugangsmöglichkeiten zu tödlichen Medikamenten vor. Beide Gesetzentwürfe sahen unterschiedliche Beratungsfristen und -pflichten unter anderem auch durch Ärzte für die Sterbewilligen vor.

„Für uns als interfraktionelle Gruppe steht außer Frage, dass es eines klaren Rechtsrahmens bedarf und wir den Weg zu einer eindeutigen gesetzlichen Regelung der Sterbehilfe weiterverfolgen müssen“, erklärt Katrin Helling-Plahr auf Anfrage des RÄ. Die derzeitige Rechtslage erzeuge bei allen Beteiligten Unsicherheiten, die durch klare Rahmenbedingungen vermieden werden könnten. Damit ein nächster Anlauf die notwendigen parlamentarischen Mehrheiten im Bundestag finde, habe man nach der Bundestagsdebatte im Juni 2023 eine Befragung aller Abgeordneten der demokratischen Fraktionen zu möglichen Verbesserungen am ursprünglichen Gesetzentwurf durchgeführt. „Wir befinden uns nun wieder in der inhaltlichen Arbeit an einem liberalen Sterbehilfegesetz“, erklärte Helling-Plahr. Ziel sei es, ein entsprechendes Gesetz noch in dieser Legislaturperiode auf den Weg zu bringen.

Auch Lars Castellucci sieht nach wie vor den Gesetzgeber in der Pflicht, eine neue Regelung zum begleiteten Suizid zu finden. „Dabei sollte sowohl der Zugang zu einem todbringenden Medikament geregelt als auch möglichem Missbrauch und einer Normalisierung dieser Form des Sterbens vorgebeugt werden“, teilt der SPD-Politiker dem RÄ mit. Zurzeit berate er mit seiner fraktionsübergreifenden Gruppe, welche Änderungen einem neuen Gesetzentwurf in einem neuen Anlauf im Parlament zu einer Mehrheit verhelfen könnten, so Castellucci.

Die Ärztekammer Nordrhein wird sich Anfang 2025 in einer eigenen Veranstaltung der Reihe „Update Ethik“ mit dem Thema Freiverantwortlichkeit beim Suizid befassen.
 

Hinweise zum Umgang mit Todeswünschen

Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2020 veröffentlichte die Bundesärztekammer (BÄK) „Hinweise zum ärztlichen Umgang mit Suizidalität und Todeswünschen“ (https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=220611). Neben dem komplexen und in der Regel volatilen Phänomen der Suizidalität beschreibt sie dort, was Ärztinnen und Ärzten mit Blick auf die Hilfe zum Suizid erlaubt ist und was verboten bleibt, nämlich die Tötung auf Verlangen. Sie verweist zudem auf einen Beschluss des 124. Deutschen Ärztetages von 2021, wonach die Mitwirkung von Ärztinnen und Ärzten bei der Selbsttötung keine ärztliche Aufgabe ist. Nach den Berufsordnungen für Ärztinnen und Ärzte umfasse die berufliche Tätigkeit – unter Achtung des Selbstbestimmungsrechtes der Patienten – Leben zu erhalten, Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen sowie Leiden zu lindern und Sterbenden bis zum Tod beizustehen. In Reaktion auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hob der 124. Deutsche Ärztetag das berufsrechtliche Verbot des ärztlich assistierten Suizids jedoch auf. Die individuelle ärztliche Entscheidung, einen anderen Menschen bei einem Suizid, zum Beispiel durch Anleitung oder Verschreibung von Betäubungsmitteln zu unterstützten, sei in konkreten Fällen berufsrechtlich zu respektieren, erklärte die BÄK.