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„Wenn wir nicht helfen, dann tut es keiner“

26.11.2024 Seite 31
RAE Ausgabe 12/2024

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 12/2024

Seite 31

Engagieren sich für eine angemessene Behandlung von Bedürftigen: Krankenpflegerin Saskia Redenius, Professor Dr. Mark Oette und Dr. Heinz-Wilhelm Esser (v.l.n.r.). © Marc Strohm
Die CAYA-Praxis in Köln-Mülheim bietet Wohnungslosen und Bedürftigen seit 2022 eine kostenlose und niedrigschwellige medizinische Versorgung. Behandelt werden die aktuell rund 300 regelmäßigen Patientinnen und Patienten von einem Team aus 20 ehrenamtlichen Ärztinnen und Ärzten. Ein Besuch in „Kölns kleinster Praxis“ 

von Marc Strohm  

Wer die Gruppe aus graffitiverzierten Metallcontainern von außen betrachtet, die zwischen Pfützen auf einem Schotterparkplatz am Rande des Stadtgartens in Köln-Mülheim stehen, würde wohl kaum vermuten, dass sich im Inneren eines dieser unscheinbaren Wellblechcontainer eine Arztpraxis verbirgt. Ein weißer Zettel, der an einem der Fenster klebt, lässt in roten, handgeschrieben Buchstaben verlauten: „Patienten bitte ans Fenster klopfen. Ihr werdet der Reihe nach aufgerufen“. Tatsächlich sitzen an diesem lauen Oktobernachmittag mehrere Patienten vor der schweren Metalltür auf Plastikstühlen und warten geduldig, bis sie von der Medizinischen Fachangestellten zur Behandlung aufgerufen werden. „Come as you are“ prangt in weißer Kreideschrift an der Eingangstür, das Motto der CAYA-Praxis. „Komm, wie du bist“ – ganz gleich, wie beißend der Körpergeruch, wie stark die Alkoholfahne oder wie verwahrlost das Äußere ist. Denn die CAYA-Praxis richtet sich überwiegend an Menschen, die auf der Straße leben. Aber auch Menschen aus prekären Verhältnissen und solche ohne Krankenversicherung gehören zu den Patientinnen und Patienten. „Ein Großteil unserer Patienten ist nicht mehr ,wartezimmerfähig‘ und geht entweder aus Scham nicht mehr zum Hausarzt oder wird dort abgewiesen – etwa, weil er oder sie alkoholisiert ist oder aggressiv auftritt,“ sagt Professor Dr. Mark Oette, der die CAYA-Praxis leitet. Der 62-jährige Gastroenterologe ist Chefarzt im Kölner Krankenhaus der Augustinerinnen. Schon seit 30 Jahren setzt er sich für eine angemessene medizinische Versorgung von Obdachlosen ein und führte zwischenzeitlich etwa in einem „Praxisbus“ kostenlose und niedrigschwellige Behandlungen durch. „Wohnungslose leben meist unter dem Radar. Es gibt so gut wie niemanden, der sich um ihre gesundheitlichen Probleme kümmert“, kritisiert Oette. Den Verein für die CAYA-Praxis gründete er im Jahr 2021 gemeinsam mit neun weiteren Ehrenamtlerinnen und Ehrenamtlern, seit Mai 2022 hat die Praxis ihre Pforten für Patienten geöffnet. 

Eine Frage von Respekt

Die CAYA-Praxis ist in zwei der insgesamt zwölf Container untergebracht, die zur Mülheimer Arche gehören, einer zentralen Anlaufstelle für die Obdachlosen im Stadtteil. Im geräumigen Aufenthaltsraum der Arche spendet ein surrender Heizlüfter Wärme, das Mittagessen wird auf metallenen Warmhalteplatten serviert und kostet nur einen Euro. Gegenüber dem Aufenthaltsraum befindet sich ein schmaler Korridor mit zwei Waschmaschinen, der in einem beigegekachelten Badezimmer mit Duschbrausen mündet. Der Geruch von Waschmittel hängt in der Luft. In der angrenzenden Kleiderkammer reiht sich eine bunte Sammlung aus Wintermänteln und wärmenden Daunenjacken für die kalte Jahreszeit aneinander. Ebenfalls in dem Containerdorf vertreten sind die Sozialarbeiter des Sozialdienstes Katholischer Männer (SKM), mit dem die Ärztinnen und Ärzte der CAYA-Praxis ein eingespieltes Team bildeten: die Sozialarbeiter kümmern sich Oette zufolge um alle Probleme, die über das Medizinische hinausgehen und unterstützen beispielsweise die auf der Straße lebenden Menschen bei der Wohnungssuche. „Nicht selten entscheiden sich Patientinnen und Patienten eher spontan zu einem Besuch in der Praxis, nachdem sie eigentlich für eine warme Mahlzeit in die Arche gekommen sind“, erläutert Oette. Nicht zuletzt leiste Krankenpflegerin Saskia Redenius, die bei CAYA unter anderem die Empfangstheke besetzt, durch ihre herzliche Art einen wichtigen Beitrag, um das Vertrauen der oftmals sozial schwierigen Patienten zu gewinnen. Häufig spreche sie die unsicher vor der Tür stehenden Patienten aktiv an und helfe ihnen dabei, sich zu einer Behandlung durchzuringen. „Der Dreh- und Angelpunkt unserer Arbeit ist es, das Vertrauen der Patienten zu gewinnen und zu erhalten“, sagt Redenius. Als zusätzliche vertrauensbildende Maßnahme habe sich das Praxisteam dazu entschieden, die Wände im Praxis-Container wie in einer „normalen“ Arztpraxis weiß zu streichen, um damit unseren Patientinnen und Patienten unsere Ernsthaftigkeit zu zeigen, sie angemessen und hygienisch korrekt zu versorgen, betont Oette. Eine Frage von Respekt. Der rund 20 Quadratmeter große Container beherbergt ein Empfangs- und zwei Behandlungszimmer. In einem steht eine blaugepolsterte Liege, über allem liegt der stechende Geruch von Desinfektionsmittel. Platz ist ein knappes Gut: Erst kürzlich mussten neue Wandregale unter die tiefe Decke gebohrt werden, um Pappkartons mit Verbandsmaterial unterzubringen. „Kölns kleinste Praxis“, nennt Oette den Container daher scherzhaft.
 
An Erkrankungen könne in der CAYA-Praxis alles behandelt werden, was auch „in einer gewöhnlichen Hausarztpraxis anfalle“, so zum Beispiel Diabetes, Bluthochdruck und – für die Jahreszeit typisch – auch wieder vermehrt Atemwegserkrankungen, berichtet Dr. Heinz-Wilhelm Esser. Der 50-jährige Pneumologe ist eines der Gründungsmitglieder von CAYA und aktuell Oettes Stellvertreter im Verein. Auch er versorgt seine Patienten ehrenamtlich. Außerhalb der CAYA-Praxis arbeitet Esser als Leitender Oberarzt in der Pneumologie im Sana-Klinikum in Remscheid und moderiert als „Doc Esser“ unter anderem Formate im Hörfunk und Fernsehen. Neben dem typischen hausärztlichen Behandlungsspektrum versorgt Esser in der CAYA-Praxis insbesondere Mangelerscheinungen, Skabies und Parasitenbefall. Viele Patienten hätten offene Wunden an den Beinen oder Füßen, die nicht selten eiterten und bis zum Knochen reichten. Solche Verletzungen seien bei Menschen, die auf der Straße lebten, nichts Ungewöhnliches. Trotz starker Schmerzen weigerten sich viele Obdachlose einen Arzt aufzusuchen, manche kämen erst dann, „wenn es gar nicht mehr geht.“ „Im Durchschnitt werden Menschen, die auf der Straße leben, nur etwa 47 Jahre alt“, sagt Esser. Seine Patienten sind zwischen 20 und 50 Jahre alt, Männer und Frauen seien gleichermaßen vertreten. Zu vielen von ihnen habe er ein gutes Verhältnis, der Ton sei herzlich aber direkt, mit den meisten Patienten sei er per „Du“. Viele Patientinnen und Patienten zeigten ein besonderes Maß an Dankbarkeit. Obwohl es ihnen selbst am Nötigsten mangle, kämen viele nach der Behandlung mit kleinen Geschenken zurück, um die Praxis „zu verschönern.“ Doch auch mit aggressiven und alkoholisierten Patienten hat Esser regelmäßig zu tun. In diesen Fällen versucht er deeskalierend auf die Patienten einzuwirken. Der Internist mit der lässigen Schiebermütze lässt sich so schnell nicht aus der Ruhe bringen und zeigt dabei stets Verständnis für seine Patienten in ihren schwierigen Lebenslagen. Besonders nahe geht es dem Familienvater allerdings, wenn wohnungslose Mütter mit kleinen Kindern die Praxis aufsuchen. „Es ist schrecklich zu sehen, dass diese Kinder in so großer Armut aufwachsen. So etwas sollte es in einem so wohlhabenden Land wie dem unseren nicht geben“, sagt er. 

Begrenzte Möglichkeiten

Für die Versorgung der Patienten engagieren sich in der CAYA-Praxis insgesamt 20 Ärztinnen und Ärzte aus acht  verschiedenen Fachrichtungen, darunter Internisten, Allgemeinmediziner sowie Chirurgen. Die Ausstattung entspricht annähernd der einer regulären Hausarztpraxis. Besonders stolz ist Esser auf das tragbare Ultraschall-Gerät. „Damit können wir unseren Patienten hier eine Behandlung ermöglichen, die in so gut wie allen Hausarztpraxen Standard ist“, sagt er. Daneben könnten die Ärzte EKG-Untersuchungen und Sehtests durchführen, auch Blutuntersuchungen seien durch die Kooperation mit einem in der Nähe gelegenen Labor möglich.

Doch bei manchen Indikationen gerät die CAYA an ihre Grenzen: „Viele unserer Patienten sind alkoholabhängig, manche sind auch abhängig von Heroin oder Crack“, sagt Esser. Diese Erkrankungen könne die CAYA nicht versorgen. Die Ärzte in der Praxis verwiesen die Patientinnen und Patienten dann an die umliegenden Substiutionsambulanzen und Suchtberatungsstellen. Außerdem litten einige seiner Patientinnen und Patienten unter schweren Entzündungen, oftmals müssten Zehen amputiert werden. Dazu kooperiere die Caya-Praxis mit verschiedenen Krankenhäusern in der Umgebung, auf die die Ärzte in solchen Fällen verweisen könnten. „Doch ob diese Empfehlung angenommen wird, steht auf einem anderen Blatt. Insbesondere bei Patienten mit Suchterkrankungen verflüchtigen sich viele gute Vorsätze mit dem nächsten Rausch,“ sagt Esser. Doch es gibt auch Patienten, die ihr Leben ändern wollen. Dabei können sie auf die Unterstützung durch die ehrenamtlichen Ärztinnen und Ärzte der CAYA-Praxis zählen. Denn eine gute medizinische Versorgung, die die Gesundheit im besten Fall wieder herstelle, könne dazu beitragen, den Bedürftigen zurück in ein Leben jenseits der Straße zu verhelfen. 

Keine Resignation 

In den Mülheimer Schlafstätten für Obdachlose hat sich das Angebot der CAYA-Praxis herumgesprochen, die Zahl der Patienten ist in den letzten zwei Jahren stark angestiegen, sagt Praxisgründer Oette. Derzeit zähle die CAYA-Praxis etwas mehr als 300 regelmäßige Patientinnen und Patienten und mehr als eintausend Patientenkontakte im Jahr, bei weiterhin steigender Nachfrage. Allein in Köln sind einer Schätzung des NRW-Gesundheitsministeriums zufolge rund 10.300 Menschen wohnungslos – so viele wie in keiner anderen nordrhein-westfälischen Stadt. Rund 400 Personen schlafen permanent im Freien. Hilflos fühlen sich Oette und Esser angesichts dieser großen Zahl jedoch nicht. „Wenn wir uns nicht um die Menschen kümmern, dann macht es keiner“, sagen sie. Und auch für die Zukunft planen die beiden weitere Projekte, um die medizinische Versorgung von Obdachlosen in Köln zu verbessern. Im nächsten Schritt wird über einen Bus nachgedacht, der als „rollende CAYA-Praxis“ die Schlafstätten potenzieller Patienten aufsucht. So können auch Menschen versorgt werden, die es nicht in das Containerdorf schaffen. Eine große Herausforderung stelle allerdings die Nachsorge dar, wenn Wohnungslose beispielsweise nach einer Operation aus dem Krankenhaus „auf die Straße entlassen“ werden. Eigentlich benötigten diese eine stationäre Übergangseinrichtung, bevor sie zum harten Leben auf der Straße zurückkehrten. Entsprechende Räumlichkeiten seien jedoch schwer zu finden, kritisiert Oette.

Mitmachen und spenden

In der CAYA-Praxis können sich Ärztinnen und Ärzte aller Fachrichtungen ehrenamtlich engagieren. Insbesondere ein Dermatologe wird gebraucht, um das Team zu vervollständigen. Daneben besteht Bedarf an Ärztinnen und Ärzten, die polnisch, rumänisch oder bulgarisch sprechen, um Patientinnen und Patienten mit diesen Muttersprachen adäquat versorgen zu können. Interessierte können sich mit einer E-Mail wenden an info@caya-koeln.de. 

Die CAYA-Praxis finanziert sich ausschließlich über Spenden. 
Spendenkonto
Volksbank KölnBonn eG
IBAN: DE20 3806 0186 4954 4570 15