Der Präsident der Ärztekammer Nordrhein hat angesichts des Bruchs der Regierungskoalition in Berlin davor gewarnt, dringend notwendige Reformen im Gesundheitswesen zu verschleppen. Politische Versprechen, die Hausärzte zu entbudgetieren, Notfallversorgung und Rettungsdienst zu reformieren und das Gesundheitswesen zu entbürokratisieren, müssten endlich umgesetzt werden, forderte Dr. Sven Dreyer bei der Kammerversammlung Mitte November in Düsseldorf.
von Heike Korzilius
Die Zeiten sind turbulent. Die Koalition aus SPD, Grünen und FDP ist am 6. November zerbrochen, und damit ist das Schicksal einiger gesundheitspolitischer Gesetzesvorhaben, die noch im parlamentarischen Verfahren stecken, ungewiss. Das gilt für die geplante Reform der Notfallversorgung ebenso wie für das Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz, das die von der Ärzteschaft lange geforderte Entbudgetierung der hausärztlichen Vergütung vorsieht, oder das von Bundesgesundheitsminister Professor Dr. Karl Lauterbach für diesen Herbst angekündigte Entbürokratisierungsgesetz, das bislang allerdings nicht einmal in Eckpunkten vorliegt. Man könne daher nur an die amtierende Minderheitsregierung aus SPD und Grünen und die Opposition aus Union und FDP appellieren, dringend notwendige Reformvorhaben im Gesundheitswesen in der noch verbleibenden Zeit bis zu den Neuwahlen am 23. Februar 2025 im Bundestag gemeinsam zu beschließen, erklärte der Präsident der Ärztekammer Nordrhein (ÄkNo), Dr. Sven Dreyer, bei der Kammerversammlung am 16. November im Düsseldorfer Haus der Ärzteschaft. Alles andere wäre angesichts der unübersehbaren Probleme in der ambulanten und stationären Versorgung bitter, betonte Dreyer.
Das vom Bundestag bereits Mitte Oktober verabschiedete Krankenhausversorgungsstärkungsgesetz (KHVVG) stieß hingegen bei einer Mehrheit der Delegierten auf Ablehnung. Das Gesetz in seiner jetzigen Form sei nicht geeignet, die drängenden finanziellen Probleme der Krankenhäuser in Deutschland zu lösen, heißt es in einem Beschluss. Die Kammerversammlung appellierte deshalb an den Bundesrat, das KHVVG bei seiner nächsten Sitzung am 22. November (nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe) in den Vermittlungsausschuss zu überweisen, um dringend notwendige Verbesserungen zu verhandeln. Die Kritik der nordrheinischen Delegierten zielte insbesondere auf die im Gesetz vorgesehenen Regelungen für eine Vorhaltevergütung, die sich immer noch zu stark an der Zahl der behandelten Fälle und nicht an den tatsächlichen Kosten unter anderem für das ärztliche Personal orientiere. Dadurch würden insbesondere kleine, bedarfsnotwendige Krankenhäuser auf dem Land benachteiligt.
ÄkNo-Präsident Dreyer sparte zudem nicht mit Kritik am Politikstil des Bundesgesundheitsministers. Er beziehe die Expertise der Ärztinnen und Ärzte und deren Selbstverwaltung zu wenig in gesundheitspolitische Vorhaben ein und setze stattdessen auf ministeriell ernannte Experten. „Das hat den meisten Gesetzen hinsichtlich ihrer Praktikabilität, Sachgerechtigkeit und ihrem Nutzen für unsere Patientinnen und Patienten nicht gutgetan“, kritisierte Dreyer. Von der neuen Bundesregierung wünsche sich die Ärzteschaft, dass sich dieser Politikstil nicht weiter fortsetze. Denn die Herausforderungen seien groß. Bleibe die wirtschaftliche Lage schlecht, müssten die Krankenkassen auch in den nächsten Jahren mit weniger Einnahmen auskommen. Zugleich steige der Bedarf an medizinischen Leistungen in einer älter werdenden Gesellschaft. Hier drifteten der Bedarf und eine durch Fachkräftemangel und Bürokratie gekennzeichnete Versorgungsrealität auseinander. Die Folge seien lange Wartezeiten auf Facharzttermine und die Fehlnutzung von Notfallpraxen und Notaufnahmen. Angesichts dieser Entwicklungen sei es unehrlich, wenn die Politik an ihrem uneingeschränkten Leistungsversprechen festhalte, betonte Dreyer.
Patienten besser steuern
Einen Lösungsansatz sieht die Kammerversammlung in einer besseren Steuerung der Patienten in die für ihre Beschwerden angemessene Versorgungsebene. In einem Beschluss sprachen sich die Delegierten für die Einführung eines freiwilligen Primärarztsystems sowie eine „ehrliche Priorisierungsdebatte im Bundestag“ aus. Wenn Patientinnen und Patienten sich nicht an einen Hausarzt oder eine Hausärztin binden wollten, müssten sie für den ungehinderten Zugang zur Versorgung gegebenenfalls mehr bezahlen, heißt es dort. „Die nächste Bundesregierung sollte genau da ansetzen, um Fehlnutzung und teure Doppelbehandlungen auch im Sinne des Patientenschutzes zu verhindern“, betonte Dreyer.
Klare und vernetzte Behandlungspfade braucht es dem ÄkNo-Präsidenten zufolge auch in der Notfallversorgung. Die von Bundesgesundheitsminister Lauterbach geplante Einrichtung von integrierten Notfallzentren an Krankenhäusern und die Zusammenlegung der Notrufnummern 112 und 116 117 seien Schritte in die richtige Richtung. Die im Gesetzentwurf zur Notfallreform vorgesehene Verpflichtung der Kassenärztlichen Vereinigungen, telemedizinische Versorgung und Hausbesuche rund um die Uhr, also auch zu den normalen Praxisöffnungszeiten, sicherzustellen, schaffe hingegen unnötige Doppelstrukturen und eine unangemessene Anspruchshaltung bei den Patienten, kritisierte Dreyer. Statt unerfüllbare Leistungsversprechen zu machen und damit einen gefährlichen Keil zwischen Patienten und Ärzte zu treiben, sollten sich Politik und Kassen ernsthaft überlegen, wie bürokratische Lasten reduziert werden könnten. Das schaffe schnell mehr Arzt-Patienten-Zeit, ohne dass man dafür mehr Geld in die Hand nehmen müsse. Viele Menschen suchten zudem aus Unwissenheit oder Angst die Notaufnahmen auf, räumte Dreyer ein. Hier gelte es, Gesundheitskompetenz, möglichst von Kindheit an, zu stärken und mehr Aufklärungsarbeit zu leisten.
Für die akute Finanznot der gesetzlichen Krankenkassen machte der ÄkNo-Präsident die scheidende Bundesregierung mitverantwortlich. „Hätte die Ampelregierung, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, den Bundeszuschuss für versicherungsfremde Leistungen erhöht und die Refinanzierung der GKV-Ausgaben für Empfänger von Bürgergeld aus Steuermitteln umgesetzt, stünden den Kassen ausreichend Mittel zu Verfügung, um die Gesundheitsversorgung der Patienten zu finanzieren“, sagte Dreyer. Doch statt das GKV-System zu entlasten, werde es mit immer neuen versicherungsfremden Leistungen belastet. Jüngstes Beispiel: der sogenannte Transformationsfonds zur Finanzierung der Krankenhausreform, zu dem die Kassen 25 Milliarden Euro aus Versichertengeldern beisteuern sollen. Das sei aus Sicht der Kassen auch verfassungsrechtlich bedenklich, erklärte Dreyer. Allerdings werde die gewünschte Kliniktransformation nicht gelingen, wenn sie nicht finanziell unterfüttert werde. 70 Prozent der Krankenhäuser schrieben schon heute rote Zahlen. Der Um- und Aufbau, aber auch der Abbau von Kapazitäten werde sie ohne finanziellen Ausgleich in die Insolvenz treiben. „Eine Katastrophe für die Patientenversorgung“, so Dreyer.
Mit Blick auf die weit fortgeschrittene Krankenhausreform in Nordrhein-Westfalen lobte der ÄkNo-Präsident die verlängerten Übergangsfristen. Das NRW-Gesundheitsministerium hatte angekündigt, zwar wie geplant die Feststellungsbescheide über das zukünftige Leistungsportfolio bis zum Jahresende an die Krankenhäuser zu verschicken. Inkrafttreten werden diese aber erst zum 1. April. Für einige Leistungsgruppen ist eine Übergangsfrist bis Ende 2025 geplant. „Das ist vernünftig“, sagte Dreyer vor der Kammerversammlung. Die Kliniken benötigten einen angemessenen Zeitraum, um notwendige Veränderungen umsetzen zu können. Dreyer lobte in diesem Zusammenhang NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann für seine Bereitschaft, auf die berechtigten Sorgen der Selbstverwaltung einzugehen. Diese pragmatische Vorgehensweise stimme ihn optimistisch, dass die Krankenhausplanungsreform in NRW gelingen könne, ohne die Patientenversorgung zu gefährden.
Die Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung werde die beabsichtigte Spezialisierung der Krankenhäuser allerdings vor Herausforderungen stellen, denn viele Kliniken würden nicht mehr das gesamte in der Weiterbildungsordnung festgelegte Leistungsspektrum anbieten können. Hier seien auch die Ärztekammern gefragt, so Dreyer. „Wir müssen verhindern, dass sich Weiterbildungszeiten wegen häufiger Stellen- und Wohnortwechsel verlängern, schon allein damit sich der Mangel an Fachärztinnen und Fachärzten nicht weiter verschärft und darüber neue Wartezeiten für Patienten entstehen.“
Haushalt 2025
Die Kammerversammlung hat den Jahresabschluss 2023 festgestellt und beschlossen, den Überschuss den Pensionsrückstellungen zuzuführen. Die Kammerversammlung folgte der Empfehlung des Finanzausschusses, den Vorstand für das Haushaltsjahr 2023 zu entlasten. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft hat der Ärztekammer einen uneingeschränkten Bestätigungsvermerk erteilt.
Der Vorsitzende des Finanzausschusses, Dr. Wilhelm Rehorn, verwies bei seinen Ausführungen zum Jahresabschluss 2023 insbesondere auf die höhere Umlage zur Finanzierung der Bundesärztekammer und die Konkurrenz kostenloser Fortbildungsangebote der Pharmaindustrie, unter der die Ärztliche Akademie für medizinische Fort- und Weiterbildung zu leiden habe.
Auf der Grundlage des von der Kammerversammlung beschlossenen Haushaltsplans für das Jahr 2025 bleibt es weiterhin bei einem unveränderten Beitragssatz von 0,54 Prozent. Bei den Gebühreneinnahmen, etwa bei Fachsprachprüfungen oder bei der Anerkennung von Fortbildungsmaßnahmen und den Kostenerstattungen wird für das Haushaltsjahr 2025 mit einer stabilen Steigerung von 3,4 Prozent gerechnet. Bei den Ausgaben schlagen die Erhöhung der Personalausgaben auf der Grundlage tarifvertraglicher Bindung und die erhöhten Sätze der 2025 in Kraft tretenden novellierten Entschädigungsordnung für Ehrenamtsträger zu Buche.
Die Verringerung des für 2025 veranschlagten Haushaltsvolumens in Höhe von rund 44 Millionen Euro gegenüber dem Vorjahr um rund sechs Prozent ist darauf zurückzuführen, dass die Einstellung nicht verbrauchter Haushaltsmittel geringer als in den Vorjahren gewesen ist.
Die Kammerversammlung beschloss auf gemeinsamen Vorschlag des Aufsichts- und des Verwaltungsausschusses der Nordrheinischen Ärzteversorgung (NÄV) eine Erhöhung der Versorgungsleistungen und Anwartschaften um 0,70 Prozent ab 1. Januar 2025. Außerdem stellte sie den Jahresabschluss 2023 der NÄV fest und entlastete deren Organe für das Geschäftsjahr 2023. Der Geschäftsbericht ist unter www.naev.de abrufbar.
tg
Resolution gegen Gewalt
Die Kammerversammlung nahm zwei aktuelle Vorfälle zum Anlass, sich noch einmal klar gegen die zunehmende Gewalt in medizinischen Einrichtungen auszusprechen. Im September war in einem Essener Krankenhaus ein Reanimationsteam von Angehörigen angegriffen worden, eine Ärztin wurde dabei schwer verletzt. Nur einen Monat später kam es in einem Wuppertaler Krankenhaus bei einem Streit unter zwei Besuchern zu einer Messerstecherei. In einer Resolution hat die Kammerversammlung deshalb dazu aufgerufen, Gewalt gegen Gesundheitsberufe systematisch zu erfassen und konsequent strafrechtlich zu verfolgen. Derartige Taten seien nicht nur ein Angriff auf die seelische und körperliche Unversehrtheit des medizinischen Personals, sondern auf das gesamte Gesundheitssystem. Wenn Helfer aus Angst vor Übergriffen psychisch belastet seien oder sich ganz aus ihrem Beruf zurückzögen, schade das auch der Patientenversorgung. Vor diesem Hintergrund sei auch die Gesellschaft aufgefordert, jede Form von Gewalt gegenüber Gesundheitspersonal zu ächten.
Nach Ansicht von Dr. Oliver Funken, Rheinbach, muss man die zunehmende Gewalt in medizinischen Einrichtungen im Gesamtkontext sehen. Die soziale Sicherheit bröckele, das verunsichere die Patienten. Deren Frustration schlage dann häufig um in Gewalt, die aber natürlich keine Lösung sei. Funken sieht das Land NRW und den Bund in der Pflicht, für eine konsequente Strafverfolgung der Täter zu sorgen. Dr. Stefan Schröter, Essen, sieht die zunehmende Gewalt gegen Helfer als Ausdruck allgemeiner Verrohung in der Gesellschaft, die über die sozialen Medien zusätzlich geboostert werde. „Wir erleben in allen Bereichen eine Diskursverengung, die das Gegenüber in seiner moralischen Autorität herabsetzt, nur weil es anderer Meinung ist“, warnte Schröter vor der Kammerversammlung. Das mache ihn fassungslos. Daniel Wellershaus, Wuppertal, forderte mehr Unterstützung für die ärztlichen Kolleginnen und Kollegen. Es fehle an Präventionsmaßnahmen, Deeskalationstrainings, Handlungsanweisungen, aber auch an Nachsorgeangeboten und psychosozialer Unterstützung für die Opfer von Gewalt. Wieland Dietrich, Essen, schlug den Bogen zurück zur Gesundheitspolitik. Ein unbegrenztes Leistungsversprechen von Politik und Krankenkassen ohne Hinweis auf die begrenzten Ressourcen schaffe Frust und leiste Gewaltausbrüchen in Notaufnahmen, Kliniken und Praxen Vorschub.
Besonders beschäftigte die Delegierten auch die Einführung der „elektronischen Patientenakte (ePA) für alle“. Sie soll ab dem 15. Januar zunächst in drei Modellregionen, darunter in NRW, getestet und dann bundesweit ausgerollt werden. Die Kammerversammlung forderte jetzt das Bundesgesundheitsministerium auf, die Aufklärungskampagne zur ePA so anzupassen, dass die Information über Start und Funktionen der Akte nicht den Praxen aufgebürdet werde. Außerdem müssten neben den Vorteilen auch Probleme und Beschränkungen kommuniziert werden. Zugleich sprachen sich die nordrheinischen Delegierten dafür aus, die Pilottests zur ePA erheblich auszuweiten. Nur so könne sichergestellt werden, dass die Akte in der Praxis funktioniere.
Am Rande der 2. Kammerversammlung der neuen Legislaturperiode haben sich die vier Fraktionen – Marburger Bund, FuturMed 29, VoxMed und Freiberufliche Ärzteschaft Nordrhein – außerdem auf die Grundsätze ihrer Zusammenarbeit für die nächsten fünf Jahre verständigt und einen „Letter of Intent“ unterzeichnet.
Bericht der Gutachterkommission
Bereits im Vorgriff auf das im Jahr 2025 anstehende 50-jährige Jubiläum der Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler (GAK) würdigte der Vorsitzende Johannes Riedel, Präsident des Oberlandesgerichts a.D., die Zusammenarbeit mit der Ärztekammer Nordrhein, zu deren gesetzlichem Auftrag die Einrichtung der Gutachterstelle gehöre: „Wir haben das Gefühl, dass unsere Arbeit von der Ärztekammer sehr geschätzt wird.“ Riedel verwies in seinem Bericht vor den Delegierten auf die Unabhängigkeit der Mitglieder der Gutachterkommission, die keinen Weisungen unterlägen. Er machte insbesondere auf die klare Trennung von Berufsaufsicht der Ärztekammer und gutachterlicher Tätigkeit aufmerksam – ausgenommen die GAK gelange aus Gründen der Gefahrenabwehr zu der Überzeugung, dass eine Gefahr für Patientinnen und Patienten zu befürchten sei.
Riedel präsentierte den Delegierten der Kammerversammlung den GAK-Geschäftsbericht für den Berichtszeitraum 2023/2024: Gegenüber dem Vorjahr nahm die Zahl der Anträge um 4,1 Prozent zu (1.753 gegenüber 1.684). Die Verfahrensdauer lag mit 10,7 Monaten weiterhin deutlich unter einem Jahr. Der Anteil festgestellter Fehler an der Gesamtzahl begutachteter Fälle sank in Nordrhein auf einen Stand von 23,8 Prozent (Vorjahr 27,5 Prozent). Der GAK-Vorsitzende wies auf das sehr enge Zusammenwirken von Ärzten und Juristen in der Gutachterkommission und das große ehrenamtliche Engagement der medizinischen Gutachter hin.
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