Ethische Fallbesprechungen haben sich an unserem Klinikum seit Jahren als feste Plattform zur gemeinsamen Beratung komplexer Fälle etabliert. In diesem Fall geht es um die Frage, ob ein mutilierender Eingriff bei einem Kind mit seltener Erkrankung indiziert ist und eine seit langem für das Kind äußerst schmerzhafte und stark die Lebensqualität beeinträchtigende Situation verbessern könnte. Das Kind wird durch die Kinderklinik und das sozialpädiatrische Zentrum unserer Klinik gemeinsam mit den Eltern betreut.
von Thomas Zeile, Lina Igel, Guido Wolf
Es geht um einen neun Jahre alten Jungen aus Marokko mit einer Epidermolysis bullosa mit einer Mutation im TSPAN24-Gen, dessen Fall und bisherige Therapie aus Sicht des Behandlungsteams nachfolgend dargestellt wird. Durch die Mutation ist das Protein CD151, das für die Widerstandsfähigkeit der Haut verantwortlich ist, betroffen. Der genetische Befund erklärt die Symptomatik des Kindes nicht ausreichend, zumal der Junge noch zwei weitere Mutationen hat, die im Zusammenhang mit einer Epidermolysis bullosa stehen können.
Falldarstellung durch das Behandlungsteam
In der Literatur finden sich zwölf beschriebene Fälle weltweit (Stand Januar 2024), in Deutschland ist der Junge der einzige Patient mit dieser Mutation.
Die Erkrankung Epidermolysis bullosa geht mit Blasen, Wunden und Narben an Haut und Schleimhäuten einher. Sie ist kausal nicht behandelbar. Wunden können versorgt, Schmerzen gelindert werden.
Der Junge ist nicht stark an der Haut betroffen. Ihm fehlen Haare und Zähne, die Haut ist pergamentartig. Er hat drei Zahnstümpfe im Mund; eine Versorgung mit Prothesen ist nicht gelungen. Er ist untergewichtig, seit 2022 hat er stark abgenommen. Es geht ihm in den vergangenen zwei Jahren zunehmend schlechter. Bei dem Jungen sind vor allem die Schleimhäute stark betroffen – insbesondere die Atemwege und der Harntrakt.
Die Atemwege sind insbesondere im oberen Bereich betroffen, es hat sich eine Kehlkopfenge gebildet, die bereits zu einem Ruhestridor führt. Der Junge setzt kontinuierlich die Atemhilfsmuskulatur ein, was zu einem hohen Kalorienverbrauch führt. Die unteren Atemwege und die Lunge sind nicht betroffen, der Gasaustausch ist hinreichend gut.
Die Harnblasenschleimhaut bildet Blasen, die sich ablösen und zu stärksten Schmerzen bei der Miktion führen, zum Teil verstopft dieser Gewebeabgang auch den Harntrakt, was zur Retention führen kann. Seit vier Jahren kommt es zum Blutabgang bei der Miktion; diese Symptomatik ist progredient.
Zur Therapie der Blasensymptome ist ein Vesikostoma angelegt worden. Die Kapazität dieser Blase ist sehr gering. Die anhaltenden Entzündungsprozesse haben bereits zweimal zu einem Verschluss des Stomas geführt, das revidiert werden musste. Da aufgrund der Erkrankung keine Ableitung mit einem Katheter möglich ist, wird der Urin über eine auf der Bauchhaut befestigte Windel aufgefangen. Die Wechsel der Windel sind äußerst schmerzhaft und führen jedes Mal zu einer blutigen Bauchhaut. Dafür muss sich der Junge jedes Mal in eine Art Trancezustand versetzen, um die Schmerzen überhaupt ertragen zu können. Dann gibt er seiner Mutter die Anweisung zum Abziehen der Windel.
Der Junge leidet unter stärksten Schmerzen, die durch Schmerzmittel kaum oder nicht zu kontrollieren sind. Er dissimuliert die Schmerzen – insbesondere gegenüber der Mutter –, Gesicht und Körperhaltung signalisieren aber etwas anderes. In Schmerzprotokollen gibt er keine Schmerzbereiche an, weil er die Eltern nicht mit seinem Leid belasten will. Er sitzt überwiegend zusammengekauert mit angezogenen Beinen, um den Bauch zu entlasten. Er kann aufgrund der Schmerzen nicht laufen und nicht im Liegen schlafen.
Zunächst wurde der Junge durch einen Palliativdienst ambulant betreut, die Eltern hätten dies jedoch nicht genügend unterstützt. Der Junge war dann zur Therapie seiner ausgeprägten Schmerzen mehrere Wochen in einer anerkannten Kinderklinik mit Spezialisierung in der pädiatrischen Palliativmedizin. Eine Morphintherapie war nicht erfolgreich. Der Junge hat zeitweise die Morphintherapie verweigert. Zurzeit wird er mit Neuroleptika und Gabapentin behandelt. Trotzdem hat er weiterhin stärkste Schmerzen bei Miktion und Defäkation. Eine Defäkation ist nur in Verbindung mit einer Miktion möglich.
Der Junge ist normal intelligent und hat keine größeren Entwicklungsstörungen. Er hat bereits zweimal eine Migration erlebt, zunächst nach Spanien, später nach Deutschland. Durch sein Äußeres ist er ausgegrenzt, er riecht aus dem Urostoma. In seiner Klasse wird er gut angenommen. Eine Teilhabe im Leben ist aufgrund der Schmerzen und der immer wieder auftretenden Schübe nur sehr eingeschränkt möglich. Er ist häufig erschöpft, zu oft abwesend in der Schule. Er hat ein gutes Sozialverhalten. Er hat einen ausgeprägten Lebenswillen. Er ist interessiert an den therapeutischen Optionen, kann aber diesbezüglich keine Entscheidung treffen. Er hat Angst, eine Operation nicht zu schaffen. Seine grundsätzliche Haltung ist aber optimistisch und positiv.
Therapeutische Optionen mit hohem Operationsrisiko
Die behandlungsführende Kinderklinik hat Kontakt zu einer Klinik in Schweden, wo ein ebenfalls neunjähriges Kind mit ähnlicher Symptomatik durch eine Zystektomie gut profitiert habe. Es benötige keine Opiate mehr, könne sich besser ernähren und wieder regelmäßig zur Schule gehen.
Das Operationsrisiko für den Jungen wird aufgrund der respiratorischen Situation und der Kachexie als signifikant eingeschätzt. Eine Mortalitätsrate von 50 Prozent wurde mehrfach genannt.
Die Kehlkopfversorgung ist dringlich nötig und unumgänglich. Zurzeit wird die Versorgung durch eine Kryotherapie, Lasertherapie oder ein Tracheostoma im Hinblick auf eine erneute Blasenbildung an den Atemwegen diskutiert. Da jede Berührung (zum Beispiel Intubation) der Schleimhäute zu Verletzungen und Entzündungsprozessen führt, hält das Team eine einzeitige Intervention zur Behandlung von Kehlkopf und Blase für geboten.
Eltern wollen zunächst nur Eingriff am Kehlkopf
Bereits in den Vorgesprächen hatten die Eltern dem Behandlungsteam mitgeteilt, dass sie eine große Operation ablehnten, weil sie Angst davor hätten, dass der Junge die Operation nicht überleben, keine Zeugungsfähigkeit mehr bestehen und der Urinbeutel vom Körper nicht angenommen würde.
Die Mutter schlägt vor, die Harnleiter nach außen abzuleiten und die Blase zu belassen. Ihr wird darauf mitgeteilt, dass die Nephrostomie bei dem Kind in Schweden ohne Effekt war und zudem eine „trockene“ Blase dann schnell funktionsuntüchtig sei und außerdem eine weitere Entzündungs- und Infektquelle darstelle.
Es wird erläutert, dass die Erektion ein Trigger für Schmerzen sei und man nur ohne Schmerzen eine Erektion haben könne. Es wird darauf hingewiesen, dass auch aktuell schon die Samenkanälchen verklebt sein dürften, also bereits jetzt eine Unfruchtbarkeit bestehen könnte. Die Asservierung von Samen vor einem Eingriff wird thematisiert.
Die Eltern wünschen zunächst nur die Versorgung des Kehlkopfes. Der Junge solle sich danach erholen, könne dann besser atmen und gegebenenfalls auch essen.
Ethische Fragestellung und Diskussion
Es stellt sich also die Frage, ob die Entfernung der Blase als mutilierender Eingriff ethisch vertretbar ist. Denn damit besteht keine Chance mehr, den Urin via naturalis abzugeben, und dieser Eingriff geht mit einer möglichen Funktionsstörung der Erektionsfähigkeit und einem wahrscheinlichen Verlust der Fruchtbarkeit einher. Zudem muss berücksichtigt werden, dass eine sehr hohe Komplikationsrate unter der Operation mit einer Mortalitätsrate von circa 50 Prozent angenommen wird.
Das Behandlungsteam möchte sich deshalb vor der Entscheidung ethisch beraten lassen.
In der ethischen Fallbesprechung wird mehrfach betont, dass es sich definitiv um eine palliative Situation handelt. Ziel sei die Schmerzreduktion und die Steigerung der Lebensqualität. Die Krankheit ist nicht heilbar.
Die Zystektomie sollte erfolgen, da bei externem Ableiten des Urins die Blase rasch schrumpft und nicht mehr erweiterbar ist. Auch sei die Blase weiterhin Ursache für heftigste Schmerzen, da sich der Sphinkter der Blase bei der Defäkation ebenfalls öffnet und durch den Urinabgang Schmerzen auftreten; zudem stellt die Blase selbst noch einen Entzündungsherd dar. Empyembildung in dem Blasenresiduum sei möglich.
Der Zusammenhang zwischen der Defäkation und den Schmerzen führt möglicherweise dazu, dass die Nahrungsaufnahme eingeschränkt ist. Durch die geplante Operation an den Atemwegen und eine verminderte Atemarbeit könnte die Kalorienbilanz verbessert und die Kachexie überwunden werden.
Erektionsstörung: Die Kinderurologie geht davon aus, dass eine Erektionsstörung aufgrund der Zystektomie eher unwahrscheinlich ist. Bei weiterhin stärksten Schmerzen ist aufgrund der Innervation von Blase und Penis eine Erektion physiologisch nicht möglich.
Fruchtbarkeit: Bei weiterhin bestehenden Entzündungen im unteren Bauchraum ist es wahrscheinlich, dass die Fruchtbarkeit auch ohne operativen Eingriff in naher Zukunft eingeschränkt sein wird. Es wird diskutiert, Samen zu gewinnen und einzufrieren. Dies ist aber im präpubertären Alter nur durch eine Gewebeentnahme an speziellen Zentren möglich und mit Risiken der Narkose verbunden.
Die Lebenserwartung des Kindes kann nicht abgeschätzt werden, da der genetische Befund nicht eindeutig zu dem klinischen Befund passt und deshalb auf der Grundlage der wenigen Fälle weltweit eine Prognose extrem unsicher ist. Insgesamt wird die Lebenserwartung jedoch als eingeschränkt angesehen.
Bei der Fallbesprechung wird betont, dass es sich um einen palliativen Eingriff handelt. Eine hohe Lebenserwartung ist unwahrscheinlich. So ist zu erwägen, was dem Neunjährigen angeboten werden kann, um die Schmerzen zu lindern. Auch wird darauf hingewiesen, dass, selbst wenn die Zystektomie zum jetzigen Zeitpunkt nicht erfolgt, in den nächsten sechs Monaten wahrscheinlich eine Revision des Urostomas ansteht. Auch diese Revision geht mit einem deutlich erhöhten Mortalitätsrisikos des Kindes einher.
Alternative Schmerztherapien wie zum Beispiel ein Periduralkatheter oder eine entzündungshemmende Medikation wurden diskutiert und als nicht zielführend verworfen.
Die potenziellen Komplikationen der Operation – erektile Dysfunktion und Zeugungsunfähigkeit – haben die Eltern sehr beschäftigt. Es besteht insbesondere bei der Mutter die Sorge, dass der Junge sie bei einer Entscheidung im Fall nachfolgender Komplikationen verantwortlich machen wird.
Votum für das weitere therapeutische Vorgehen
Das Ethikkomitee sieht die Entfernung der Blase als mutilierenden Eingriff aufgrund der Gesundheitssituation des Jungen als ethisch vertretbar an. Die Zystektomie ist ethisch gerechtfertigt aufgrund der potenziellen Schmerzreduktion und Verbesserung der Lebensqualität. Darüber hinaus ist die Fruchtbarkeit des Jungen aufgrund der Grunderkrankung auch ohne diesen Eingriff überaus fraglich. Der Erhalt der Erektionsfähigkeit ist ein Scheinziel, da auch die Schmerzen eine Erektion verhindern würden.
Das Ethikkomitee empfiehlt, das Zeitfenster mit den Eltern zu diskutieren. Am Ende werden die Eltern über den Eingriff entscheiden.
Die Eltern haben in der Zwischenzeit dem Eingriff am Kehlkopf zugestimmt. Inzwischen konnte eine Klinik in der Schweiz gefunden werden, die bereit ist, den Eingriff vorzunehmen. Der Verlauf bleibt abzuwarten.
Dr. Thomas Zeile, Facharzt für Innere Medizin, Gastroenterologie, Geriatrie, Physikalische Therapie und Balneologie, Klinik für Innere Medizin, Geriatrie und Frührehabilitation, Helios Marien Klinik Duisburg
Dr. Guido Wolf, Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Sozialpädiatrisches Zentrum/Abt. Phoniatrie und Pädaudiologie, Helios St. Anna Klinik Duisburg
Lina Igel, Fachärztin für Kinderheilkunde, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Helios St. Johannes Klinik Duisburg