Vorlesen
Philipp Heymann, Arbeitsmediziner und Schiffsarzt

„Mich fesselt der Beruf des Seemanns“

17.07.2024 Seite 71
RAE Ausgabe 8/2024

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 8/2024

Seite 71

© ASD Rhein-Ruhr
Job, Beruf, Berufung? – An dieser Stelle berichten junge Ärztinnen und Ärzte über ihren Weg in den Beruf, darüber, was sie antreibt und warum sie – trotz mancher Widrigkeiten – gerne Ärztinnen und Ärzte sind.

RhÄ: Herr Heymann, was gefällt Ihnen an der Arbeitsmedizin?
Heymann: Ich bin schon seit meinem Medizinstudium in Hannover von der Arbeitsmedizin begeistert. Eine arbeitsmedizinische Exkursion in die Hauptniederlassung von VW hatte damals das Feuer entfacht. Dabei sagte mir besonders zu, dass man als Arbeitsmediziner hinter die Kulissen eines Betriebes schaut, denn vom einfachen Angestellten bis zur Konzernspitze betreut man jeden. Besonders fesselt mich allerdings der Beruf des Seemannes: Seeleute sind weltweit unterwegs und lernen auf ihren Touren immer wieder neue Länder und Kulturen kennen. Darum freut es mich sehr, dass ich in unserer überbetrieblichen Praxis im Duisburger Stadtteil Ruhrort nicht nur den größten Binnenhafen der Welt direkt vor „meiner“ Haustür habe, sondern auch verschiedene Reedereien arbeitsmedizinisch betreue. Als Spezialgebiet führe ich in der Praxis neben der allgemeinen Arbeitsmedizin zusätzlich Seediensttauglichkeitsuntersuchungen durch, die Seeleuten bescheinigen, dass sie fit genug für den Dienst auf einem Schiff sind.

RhÄ: Wieso diese Spezialisierung? 
Heymann: Dazu muss ich etwas ausholen: Neben der arbeitsmedizinischen Betreuung von Rheinschiffern führen wir in unserer Praxis für ein großes Kreuzfahrtunternehmen Gesundheits-Checks für angehendes Schiffspersonal durch. Wer an Bord eines Kreuzfahrtschiffes arbeiten will, benötigt ein Seetauglichkeitszeugnis. Im Westen Deutschlands ist es nicht ganz einfach, dafür einen Arzt zu finden, denn ein Großteil der darauf spezialisierten Mediziner arbeitet küstennah, meist in Hamburg oder Kiel. Diese Lücke wollten wir schließen und hier in Duisburg ein wohnortnahes Angebot schaffen. Um diese Untersuchung durchführen zu dürfen, braucht es eine Zertifizierung durch die Berufsgenossenschaft Verkehr. Verlangt wird ein Facharzttitel, beispielsweise in Allgemein- oder Arbeitsmedizin, mindestens vier Jahre Berufserfahrung in der ambulanten oder stationären Versorgung sowie ein vierwöchiger Einsatz auf einem Schiff. Mein Praktikum führte mich an Bord eines Kreuzfahrtschiffes entlang der norwegischen Küste und auf die Nordsee zwischen Hamburg und Southampton. 

RhÄ: Wie haben Sie die Zeit an Bord erlebt? 
Heymann: Die Arbeit auf einem Kreuzfahrtschiff ist kein Urlaub. Während meines Praktikums habe ich nicht nur Reisende im Bordkrankenhaus behandelt, sondern auch die Schiffsbesatzung betreut. Deren Arbeitsbedingungen sind herausfordernd: Die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wohnen in fensterlosen Innenkabinen und manche sehen den ganzen Tag kein Tageslicht. Wochenenden oder Feiertage gibt es nicht, manche Mitarbeiter arbeiten bis zu 14 Stunden pro Tag. Insbesondere das Hauswirtschafts- und Service-Personal ist viel Stress, aber auch großen körperlichen Belastungen ausgesetzt. Diese Mitarbeiter kamen häufig mit körperlichen Erschöpfungserscheinungen sowie Schulter- oder Rückenbeschwerden in meine Sprechstunde. Die meisten Passagiere, die ins Bordkrankenhaus kamen, litten unter grippalen Infekten oder Magen-Darm-Beschwerden, die sie zum Teil von Landausflügen mitgebracht hatten. Viel Zeit, um die Städte zu erkunden hatte ich im Übrigen nicht: Während die Passagiere auf den Landgängen waren, habe ich mit der Besatzung Sicherheitsübungen durchgeführt und unter anderem Evakuierungen von Verletzten aus dem Bordkrankenhaus im Brandfall erprobt.   

RhÄ: Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus, wenn Sie nicht an Bord eines Schiffes sind?
Heymann: Als Arbeitsmediziner betreue ich neben vielen Betrieben einige Reedereien und begehe dort auch die Binnenschiffe, wo ich insbesondere ein Auge auf potenzielle Stolperfallen habe, die zu Unfällen führen können. Seediensttauglichkeitsuntersuchungen nehme ich in der Praxis an bis zu zwei Wochentagen vor. Ein Großteil meiner Patienten ist jung und körperlich sehr fit – also für die Tätigkeit an Bord eines Schiffes gut geeignet. Ein klares Ausschlusskriterium für die Seetauglichkeit ist zum Beispiel Adipositas. Jemand der kaum beweglich ist, wird in einem möglichen Evakuierungsfall weder sich noch andere retten können. Nicht zu unterschätzen ist die psychische Belastung von Seeleuten, insbesondere auf Kreuzfahrtschiffen: manche sind bis zu sechs Monate an Bord, fern von Freunden und Familie. Wer in dieser Zeit keine tiefergehenden Freundschaften mit den Kolleginnen und Kollegen knüpft, leidet schnell unter Einsamkeit. Daraus können im schlimmsten Fall Depressionen oder Suchtprobleme entstehen. Bei Binnenschiffern beobachte ich das eher weniger, denn diese haben in der Regel ein gesünderes Sozialleben: nach zwei bis drei Wochen im Einsatz kehren sie für längere Zeit in die Heimat zurück. 

Das Interview führte Marc Strohm

Philipp Heymann studierte Medizin in Hannover. Zunächst absolvierte er eine internistische Weiterbildung im Klinikum Braunschweig, bevor er 2019 als Arbeitsmediziner am Duisburger Standort des überbetrieblichen arbeitsmedizinischen Dienstes ASD Rhein-Ruhr anfing.