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Meinung

Haben Evidenz und Wirtschaftlichkeit ausgedient?

16.07.2024 Seite 3
RAE Ausgabe 8/2024

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 8/2024

Seite 3

Rudolf Henke © Jochen Rolfes
Gesundheitsminister Karl Lauterbach will mit einem neuen Gesetz zur Senkung der Krankheitslast durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen in Deutschland beitragen. Dazu hat er im Juni einen Referentenentwurf zur Stärkung der Herzgesundheit (Gesundes-Herz-Gesetz, GHG) vorgelegt, der sowohl Fragen zur Evidenz und Zuständigkeit als auch zur Wirtschaftlichkeit der Maßnahmen aufwirft. 

Nicht-übertragbare Erkrankungen sind heute die Haupttodesursache weltweit. Krebs, Diabetes, Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen machen über 80 Prozent der Todesfälle aus. Viele Risikofaktoren wie Rauchen, mangelnde körperliche Bewegung, schädlicher Alkoholkonsum und ungesunde Ernährung sind durch einen gesundheitsförderlichen Lebensstil vermeidbar. 

Zurecht heißt es daher in der Problembeschreibung des Referentenentwurfs zum GHG, dass nach aktuellem wissenschaftlichen Kenntnisstand bis zu 70 Prozent der Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch modifizierbare Lebensstilfaktoren verursacht würden. Der Verminderung dieser Risikofaktoren und damit zusammenhängender Erkrankungen wie Diabetes mellitus und Bluthochdruck durch Unterstützung eines gesunden Lebensstils komme daher eine Schlüsselrolle zu. 

Doch dieser zutreffenden Beschreibung folgt eine Auflistung von Maßnahmen, die aus Sicht vieler wissenschaftlicher Fachgesellschaften und der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen nicht geeignet sind, die lebensstilbedingten Risikofaktoren in geeigneter Weise zu senken.

Denn statt für mehr Bewegungsangebote und gesunde Ernährung in Lebenswelten wie Kitas, Schulen, Krankenhäusern oder Seniorenheimen zu sorgen, statt über Sonderabgaben auf gesundheitsschädliche Genussmittel mehr Mittel für die Primärprävention zu gewinnen, sollen per Rechtsverordnung Screeninginstrumente wie Fragebögen und Laboruntersuchungen eingeführt werden, um kardiovaskuläre Risikofaktoren im Rahmen der J1-Untersuchungen (12-14 Jahre) und der „Check-up“-Untersuchungen (25, 30 und 50 Jahre) verbindlich und ohne hinreichende Prüfung der Evidenz durch den Gemeinsamen Bundesausschuss zu erheben. Ebenso ist eine Ausweitung der Indikationen für die präventive Verordnung von Statinen auf gesetzlich festgelegte altersabhängige Risikoschwellen geplant. Finanzieren sollen das Vorhaben die Krankenkassen, indem sie bisherige Mittel im Bereich der Gesundheitsförderung und Primärprävention nach § 20 Absatz 6 SGB einsetzen. 

Doch damit nicht genug: Laut Referentenentwurf wird das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) ermächtigt, bei der Bestimmung von Gesundheitsuntersuchungen die zentralen Merkmale der gesetzlichen Krankenversicherung außer Kraft zu setzen: dass GKV-Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen müssen und dass bei diesen Leistungen das Wirtschaftlichkeitsgebot gilt. Regelungen zum Screening ebenso wie zur Statinverordnung sollen nun nach Konsultation von Expertinnen und Experten vom BMG getroffen werden können, ohne dass Transparenz zum Auswahlverfahren der Expertinnen und Experten hergestellt oder mögliche Interessenkonflikte dokumentiert werden. 

Mit dieser Herangehensweise gefährdet der Gesundheitsminister nicht nur die Akzeptanz der beschriebenen Präventionsmaßnahmen, er höhlt damit auch die Grundsätze evidenzbasierter Medizin, der Therapiefreiheit und der partizipativen Entscheidungsfindung aus und öffnet somit die Pforte zur Staatsmedizin.
Gleichzeitig ist zu befürchten, dass mit dem Gesetz das Signal gesendet wird, dass lebensstilbedingte Zivilisationserkrankungen mithilfe von Medikamenten und Check-ups in den Griff zu kriegen sind und von der Versichertengemeinschaft bezahlt werden müssen.

Rudolf Henke, Präsident der Ärztekammer Nordrhein