Aktuellen Berichten zufolge hat die Zahl der gewalttätigen Übergriffe durch Patienten oder deren Angehörige gegenüber Ärzten und Pflegepersonal an deutschen Krankenhäusern und in Notfallpraxen in den letzten Jahren deutlich zugenommen. In einer Studie des Deutschen Krankenhausinstituts gaben 75 Prozent der befragten Krankenhäuser an, dass es in ihren Notfallambulanzen in den letzten Jahren zu Gewaltanwendung kam. Die Kliniken rüsten mit Sicherheitspersonal auf und für die Belegschaften werden Deeskalationskurse angeboten. Doch das allein kann nicht die Lösung sein.
Seit nunmehr sieben Jahren diskutieren wir in Deutschland über eine Reform der Notfallversorgung. Nach wie vor klagen die Krankenhäuser über eine Fehlinanspruchnahme der Notaufnahmen zum Beispiel durch Menschen, die mit dem deutschen Gesundheitssystem nicht vertraut oder denen die Wartezeiten auf einen Termin in der Arztpraxis zu lang sind. Jetzt hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach Eckpunkte für eine Reform vorgelegt. Das Ziel: Der ärztliche Notdienst, die Notaufnahmen der Krankenhäuser und der Rettungsdienst sollen besser miteinander verzahnt werden, damit die Patienten dort behandelt werden, wo es ihre Erkrankung erfordert. Zentrale Punkte der Reform sind eine digitale Vernetzung der Terminservicestellen mit den Rettungsleitstellen, abgestimmte Ersteinschätzungssysteme, sowie Integrierte Notallzentren an ausgewählten Krankenhäusern, die ebenfalls der Ersteinschätzung dienen.
Damit nimmt der Bundesgesundheitsminister nicht nur eine lange überfällige Reform in Angriff, er greift auch langjährige Forderungen aus der Ärzteschaft auf. Nur durch eine verlässliche Unterstützung der Patientinnen und Patienten auf dem Weg zur Hilfe können Notaufnahmen und Rettungsdienste entlastet und kann allen Hilfesuchenden eine qualitativ hochwertige Versorgung angeboten werden.
Geradezu kontraproduktiv ist es aber, wenn – wie in den Eckpunkten aus dem BMG vorgesehen – durch eine rund um die Uhr Versorgung mit telemedizinischen Leistungen und Hausbesuchen Parallelangebote zur Regel- und Notfallversorgung geschaffen werden. Solche Angebote sind weder medizinisch notwendig, noch können sie angesichts des sich verschärfenden Fachkräftemangels umgesetzt werden. Und sie senden auch das falsche Signal an die Patientinnen und Patienten: Denn nicht jedes Gesundheitsanliegen muss und kann sofort versorgt werden. Es gehört zur Ehrlichkeit zu sagen, dass uns das Personal dafür fehlt, sich um jede Bagatellerkrankung umgehend zu kümmern. Aus solchen Versprechungen droht eine Anspruchshaltung zu erwachsen, die sich, wenn sie enttäuscht wird, gegen das ohnehin schon stark belastete Personal in den Notaufnahmen und Notdienstpraxen richtet.
Statt also eine unmögliche Rundumversorgung im Gesundheitswesen zu versprechen, sollte die Politik mehr Anstrengungen unternehmen, grundlegend die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung im Krankheitsfall zu stärken, inklusive einer Aufklärung über die sachgerechte Inanspruchnahme der Strukturen der Akut- und Notfallversorgung. Mehr Informationen bei gleichzeitiger Nulltoleranz gegenüber jeder Form von Gewalt gegen medizinisches Personal müsste die Strategie sein. Im April 2021 wurde eine Strafrechtsverschärfung umgesetzt: Hilfeleistende eines ärztlichen Notdienstes oder einer Notaufnahme wurden in den Paragrafenteil des Strafgesetzbuches integriert. Das ist gut, reicht aber nicht aus. Unabhängig vom Tätigkeitsort und Einsatzgebiet müssen alle Ärztinnen und Ärzte stets dem Schutz dieses Gesetzes unterliegen. Dafür wollen wir uns als Kammer gegenüber der Politik einsetzen.
Rudolf Henke, Präsident der Ärztekammer Nordrhein