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Gesundheits- und Sozialpolitik

Gesundheitsdaten: Kritik an versichertenindividueller Auswertung

16.10.2023 Seite 18
RAE Ausgabe 11/2023

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 11/2023

Seite 18

Gerade die Coronapandemie hat es deutlich werden lassen: Es fehlt in Deutschland an rasch verfügbaren Daten, die eine bessere und schnellere Forschung und damit auch Steuerung im Gesundheitswesen ermöglichen. Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz soll hier Abhilfe schaffen.  

von Thomas Gerst

Am 30. August ist das im Koalitionsvertrag vereinbarte Projekt einer verbesserten Nutzung von Gesundheitsdaten als Gesetzentwurf des Bundeskabinetts auf den Weg gebracht worden. Mit dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) soll das bereits bestehende Forschungsdatenzentrum Gesundheit beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) als eine „zentrale Datenzugangs- und Koordinierungsstelle für die Nutzung von Gesundheitsdaten“ ausgebaut werden. So sollen dezentral gespeicherte Gesundheitsdaten besser verknüpft, Abrechnungsdaten der Krankenkassen umfassender und schneller nutzbar gemacht und pseudonymisierte Daten aus der elektronischen Patientenakte (ePA) für die Forschung bereitgestellt werden.  

Grundsätzlich stimmen alle Player im Gesundheitswesen darin überein, dass die mit dem Gesetz angestrebte bessere Nutzbarkeit von Gesundheitsdaten für gemeinwohlorientierte Zwecke sinnvoll und erforderlich ist. 

Deutlicher Widerspruch kommt allerdings aus der Ärzteschaft gegen die mit dem GDNG in § 287a SGB V geplante Neuregelung, dass Kranken- und Pflegekassen künftig Leistungsdaten versichertenindividuell auswerten und Versicherte direkt ansprechen dürfen. Im Zuge der automatisierten Datennutzung sollen potenziell schwerwiegende gesundheitliche Risiken von Versicherten erkannt und diesen die Inanspruchnahme ärztlicher Behandlung empfohlen werden. Sollten Versicherte mit diesem Verfahren nicht einverstanden sein, müssten sie der Datennutzung aktiv widersprechen. 

Die Bundesärztekammer (BÄK) bezweifelt in ihrer Bewertung des Gesetzentwurfs, dass die automatisiert ausgewerteten individuellen Abrechnungsdaten die Morbidität von Versicherten in einer Weise abbilden können, dass valide Aussagen zu schwerwiegenden Gesundheitsgefährdungen möglich sind. „Krankheitsfrüherkennung oder gar die Identifikation akuter Gesundheitsgefährdungen allein auf Basis von Abrechnungsdaten ist sehr unzuverlässig und kann medizinisch sogar fahrlässig sein“, kritisiert BÄK-Präsident Dr. Klaus Reinhardt. 

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung bewertet die Neuregelung als Screening-Maßnahme mit unklarem Nutzen und fordert deren Streichung. Bei falsch-positiven Ergebnissen sei neben der unnötigen Verunsicherung der Versicherten mit überflüssigen Folgeleistungen im Versorgungssystem zu rechnen. Zugestehen mag man den Kassen allein, dass sie die Versicherten auf Basis von Abrechnungsanalysen bei der Inanspruchnahme von Früherkennungsmaßnahmen aktiv informieren und unterstützen. 

Sehr scharf kommentiert Prof. Dr. Jürgen Windeler, bis vor Kurzem Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, im Informationsdienst Observer Gesundheit den Anspruch der Krankenkassen, sich auf der Grundlage automatisierter Auswertungen direkt an die Versicherten wenden zu können. Die vorgeschlagene Regelung markiere den „vorläufigen Tiefpunkt bezüglich Evidenzbasierung und Patientensouveränität im deutschen Gesundheitswesen“.

Nutzung der ePA-Daten

Auch die Nutzung der pseudonymisierten Daten aus der elektronischen Patientenakte über das Forschungsdatenzentrum dürfte noch für Diskussionen sorgen. Für die Datenfreigabe aus der ePA soll das „Opt-out“-Verfahren gelten, das heißt Patienten müssten aktiv widersprechen, wenn sie mit der Nutzung ihrer in der ePA gespeicherten Daten nicht einverstanden sind. Grundsätzliche Bedenken gegen die Anwendung des Opt-out-Prinzips hatte die Kammerversammlung der Ärztekammer Nordrhein im März 2023 formuliert. Das Recht der Patientinnen und Patienten auf Nicht-Aufnahme bestimmter Daten in die ePA sei zu gewährleisten, Zugriffsrechte darauf müssten diese jederzeit barrierefrei ändern können, heißt es in einem Beschluss.

Bessere Forschungsgrundlage

Aus der Versorgungsforschung wird der Gesetzentwurf grundsätzlich positiv bewertet. Für Ingo Meyer, Leiter der PMV forschungsgruppe am Universitätsklinikum Köln, stellt das GDNG einen ganz wesentlichen Fortschritt dar. Dies werde in der Community der Versorgungsforschung allgemein so gesehen. „Mit diesem Gesetz holen wir endlich ein wenig von dem Vorsprung auf, den sich andere Länder in Europa, aber auch die USA, Australien oder Kanada über viele Jahre aufgebaut haben.“ Meyer hätte sich allerdings eine bessere Verknüpfbarkeit der Daten gewünscht mit anderen Forschungsdatenzentren, etwa der Rentenversicherung oder der Bundesagentur für Arbeit, und anderen Registern sowie generell mit Daten, die in klinischen Studien oder Kohortenstudien erhoben werden. 

Auch Dr. Andres Schützendübel, Leiter des Landeskrebsregisters NRW, kommt zu einer grundsätzlich positiven Bewertung des Gesetzesentwurf, weil damit erstmalig einheitliche bundesweite Strukturen für die Nutzung von Gesundheitsdaten geschaffen werden sollen. Dagegen seien die Vorgaben im Gesetz für schnelle Maßnahmen der Versorgungssteuerung in Krisenzeiten, etwa einer Pandemie, nicht geeignet. Hierzu hätte es einer institutionellen Anbindung aller relevanten Datenlieferanten (hier vor allem Gesundheitsämter, gegebenenfalls Meldeämter und  Krankenhäuser) bedurft und einer zentralen Stelle, die in der Lage ist, diese Daten entsprechend zeitnah auszuwerten und zur Verfügung zu stellen. Das GDNG ziele in erster Linie auf Forschung und wissenschaftliche Fragestellungen ab. Hinsichtlich der Kompatibilität der Daten kritisiert Schützendübel, dass der Gesetzentwurf derzeit ausschließlich eine qualitätsgesicherte Zusammenführung von GKV-Daten im Forschungsdatenzentrum vorsehe. „Die Erwartung, dass in naher Zukunft Gesundheitsdaten aus unterschiedlichen Datenquellen quasi ,on demand‘ kompatibel zusammengeführt werden können, teile ich nicht.“