Die Zahl der Organspenden in Deutschland hat einen neuen Tiefstand erreicht. 869 Menschen spendeten im vergangenen Jahr nach ihrem Tod ein oder mehrere Organe. Das waren knapp sieben Prozent weniger als 2021. Dimitrios Christodoulou haben Herzen von Fremden das Leben gerettet.
von Heike Korzilius
Dimitrios kommt direkt aus der Berufsschule in die Ärztekammer Nordrhein. T-Shirt, schwarze Jeans, bunte Sneaker, Freundschaftsbändchen an den Armen – rein äußerlich unterscheidet sich der 21-Jährige nicht von vielen Altersgenossen. Lediglich die breite Narbe an seinem Halsausschnitt lässt auf das schließen, was er in seinem jungen Leben bereits durchgestanden hat. Dimi, wie ihn die meisten nennen, ist zweifach herztransplantiert.
Angefangen hatte alles im Jahr 2017. Dimi – gesund, sportlich und topfit, wie er selbst sagt – erkrankte an einer Lungenentzündung, in deren Folge sich eine Herzmuskelentzündung entwickelte. „Ich konnte gar nichts mehr, ich kam nicht mal mehr die Treppen hoch zu unserer Wohnung im zweiten Stock“, erinnert er sich im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt. Sein Zustand verschlechtert sich dramatisch, er wird in das Kinderherzzentrum in Bad Oeynhausen eingewiesen, wo schnell klar wird, dass er ein neues Herz braucht. Dimi hat Glück. Ein halbes Jahr verbringt er in der Klinik, eine tragbare Maschine ersetzt seine linke Herzseite, dann erhält er ein Spenderorgan. Die körperlichen Wunden heilen gut, doch psychisch ist er angeschlagen. „Ich war richtig depressiv“, sagt er im Rückblick. „Warum ich?“, habe er sich gefragt. „Ich brauchte lange, bis ich wieder richtig gut drauf war und die Situation akzeptieren konnte.“ Geholfen hat ihm in dieser Zeit neben der Familie vor allem der Kinderpsychologe in der Herzklinik, zu dem er heute noch Kontakt hat.
Das Spenderherz wird abgestoßen
Dimi kehrt zurück ins Leben. Er schließt die Realschule ab, macht sein Fachabitur, ein Freiwilliges Soziales Jahr. Bevor er seine Ausbildungsstelle zum Erzieher antritt, jobbt er in einem Düsseldorfer Bekleidungshaus. Dort bricht er im November 2022 völlig unvermittelt zusammen. Ammar Ghouzi, Ärztlicher Leiter der Zentralen Notaufnahme der Schön Klinik Düsseldorf, hat Dienst, als Dimi dort als Notfall eingeliefert wird. Zunächst habe er geglaubt, dass Dimi zu einer kleinen Gruppe betrunkener junger Männer gehört, die fast zeitgleich in der Notaufnahme eingetroffen sind. Eine Krankenschwester hat Zweifel und dann entdecken beide die Narbe an Dimis Brustkorb. Eine Ultraschalluntersuchung bringt die Gewissheit: Das Spenderherz wird abgestoßen. Die Ärzte vermuten, dass ein Wechsel des Immunsuppressivums kurz zuvor die Abstoßungsreaktion hervorgerufen haben könnte. „Eine so späte Abstoßung kommt sehr selten vor“, erklärt Ghouzi am Telefon. Unmittelbar nach der Transplantation komme es in einem Drittel der Fälle zu Abstoßungsreaktionen, die häufig reversibel seien, je nachdem, wie früh man diese erkenne. „Als Dimi zu uns kam, war die Abstoßung so weit fortgeschritten, dass wir sie medikamentös nicht mehr stoppen konnten“, erinnert sich der Notarzt. Eine erneute Transplantation ist notwendig. Das Herzzentrum in Bad Oeynhausen sagt die Aufnahme zu. Ghouzi alarmiert den Rettungsdienst für den Transport des Jungen. Er entschließt sich kurzerhand, Dimi, der sich in kritischem Zustand befindet, selbst zu begleiten. „Die Alternative war, er stirbt bei uns in der Notaufnahme“, sagt Ghouzi. „Die Situation war an Dramatik nicht zu überbieten.“ In Bad Oeynhausen steht das Team bereit, als Dimi im Rettungswagen eintrifft. Er ist bewusstlos und wird umgehend an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen – ein Überbrückungsverfahren bis zur Transplantation. Nach einer Woche erhält er sein zweites Spenderherz.
869 Menschen spendeten in Deutschland im vergangenen Jahr nach ihrem Tod ein oder mehrere Organe. Das waren nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) knapp sieben Prozent weniger als 2021. Der rückläufige Trend der letzten zehn Jahre setze sich damit fort, erklärte Dr. Scott Grebe Ende August bei einer gemeinsamen Fortbildungsveranstaltung der ärztlichen und pflegerischen Transplantationsbeauftragten in NRW im Düsseldorfer Haus der Ärzteschaft. Für NRW zeichnete der Geschäftsführende Arzt der DSO-Region Nordrhein-Westfalen ein besonders düsteres Bild. Hier sank die Zahl der postmortalen Organspender 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 18 Prozent, von 206 auf 169. Grebe betonte zugleich, dass im Gegensatz zu den Spenderzahlen die organspendebezogenen Kontakte der Entnahmekrankenhäuser zur DSO zwischen 2021 und 2022 um vier Prozent zugenommen hätten. Insgesamt habe es im vergangenen Jahr 3.256 Kontaktaufnahmen zur DSO gegeben. „Die Zunahme zeigt, dass in den Krankenhäusern das Thema Organspende mehr in den Fokus gerückt ist“, erklärt Grebe gegenüber dem Rheinischen Ärzteblatt. „Leider hat diese positive Entwicklung aber nicht zu mehr Organspenden geführt.“ Im vergangenen Jahr sei die Spende in der Hälfte der Fälle an einer fehlenden Zustimmung gescheitert. Zwar spielten mit zunehmendem Alter der Spenderinnen und Spender auch Kontraindikationen eine Rolle. Deren Anteil habe sich in den letzten Jahren aber kaum verändert. „2022 war tatsächlich eine Ablehnung der Spende der häufigste Grund, weshalb eine mögliche Organentnahme nicht realisiert werden konnte“, sagt Grebe.
Die Organspende brauche die breite Unterstützung der Bevölkerung, betont der DSO-Vertreter. Umfragen zufolge bestehe hierzulande seit vielen Jahren eine hohe Bereitschaft zur Organspende. Aktuelle Studienergebnisse der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hätten ergeben, dass rund 80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger der Organspende positiv gegenüberstehen. Zudem hätten mehr als 40 Prozent der Befragten angegeben, dass sie ihre Entscheidung zur Organspende dokumentiert hätten. „Doch genau an diesem Punkt hapert es, wie der Klinikalltag zeigt“, sagt Grebe. „In den Fällen, in denen im vergangenen Jahr bei einem Verstorbenen die Möglichkeit zur Organspende bestand, lag nur bei 15 Prozent eine schriftliche Entscheidung vor.“ In 21 Prozent der Fälle war der Wille unbekannt. In diesen Situationen würden Angehörige gebeten, nach ihren eigenen Wertvorstellungen zu entscheiden, was oftmals für die Hinterbliebenen sehr belastend sei. „In den meisten Fällen geben Angehörige ihre Zustimmung zur Organspende nicht, vermutlich aus Unsicherheit“, erklärt Grebe.
Dem Organmangel entgegenwirken
2019 und 2020 hat der Gesetzgeber mit unterschiedlichen Regelungen versucht, dem Organmangel entgegenzuwirken. Das Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen in der Organspende zielte auf bessere Rahmenbedingungen und Prozesse in den Entnahmekrankenhäusern, mit dem Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft sollten die Bürgerinnen und Bürger aufgefordert werden, sich mit dem Thema Organspende ergebnisoffen auseinanderzusetzen und ihre Entscheidung unter anderem in einem Online-Register zu dokumentieren (siehe Kasten). Das Online-Register sollte ursprünglich am 1. März 2022 an den Start gehen. Inzwischen geht man in der zuständigen Bundesoberbehörde, dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, vom 1. Quartal 2024 aus – das Projekt sei komplexer als gedacht, heißt es dort. Und DSO-NRW-Geschäftsführer Grebe warnt vor zu hohen Erwartungen: Selbst wenn es gelinge, den Zugang zum Register niederschwellig und möglichst unbürokratisch zu halten, werde es voraussichtlich Jahre dauern, bis solch ein Online-Register gut gefüllt sei. Das zeigten Erfahrungen aus anderen Ländern.
Effekt der Pandemie ist unklar
Das Transplantationsgesetz von 2019 hat aus Grebes Sicht genau an den identifizierten Problemstellen angesetzt, um die Voraussetzungen für die Organspende in den Kliniken zu verbessern. Dazu zähle die verbindliche Freistellung der Transplantationsbeauftragten und deren Finanzierung ebenso wie die verbesserte Vergütung der Entnahmekrankenhäuser. „Bevor sich jedoch ab 2020 erste sichtbare Ergebnisse der Gesetzesnovelle zeigen konnten, hat die Coronavirus-Pandemie die Umsetzung sicherlich erschwert und verzögert“, sagt der DSO-Geschäftsführer. „Wie sich die Pandemie insgesamt auf die bislang kaum spürbaren Effekte des Gesetzes ausgewirkt hat, ist allerdings schwer abzuschätzen.“
Die zunehmenden organspendebezogenen Kontakte zur DSO sieht er als Zeichen dafür, dass aufseiten der Entnahmekrankenhäuser in den vergangenen Jahren die Aufmerksamkeit für das Thema Organspende gewachsen und das Denken an die Organspende zur neuen Routine geworden ist.
Eine Schlüsselrolle spielen dabei die Transplantationsbeauftragten. Sie seien dafür verantwortlich, das Thema Organspende in den Abteilungen präsent zu halten, die Kolleginnen und Kollegen fortzubilden und Verfahrensabläufe zu strukturieren, erklärt Dr. Gero Frings, Chefarzt und Transplantationsbeauftragter am St. Bernhard Hospital in Kamp-Lintfort: „Wir sind die ersten Ansprechpartner für die DSO und die Angehörigen.“ Wichtig ist es, so Frings, beim Thema Organspende auch die Pflegekräfte mit ins Boot zu holen. An seinem Krankenhaus gibt es seit Kurzem neben dem ärztlichen Transplantationsbeauftragten auch eine pflegerische Transplantationsbeauftragte. Der enge Kontakt der Pflegenden zu Patienten und Angehörigen könne dazu beitragen, nicht nur die Spendererkennung, sondern auch die Kommunikation mit den Hinterbliebenen zu verbessern. Der Erfolg scheint Frings Recht zu geben: „Wir haben in diesem Jahr als sogenanntes C-Haus bereits die dritte Organspende realisieren können.“ Das liege nicht zuletzt am vertrauensvollen Miteinander zwischen Ärzteschaft und Pflege und deren guter fachlicher Qualifikation.
Um das Thema Organspende im Alltag der Krankenhäuser noch besser zu verankern, setzt Frings auf den fachlichen Austausch. Mit Unterstützung der beiden Ärztekammern des Landes, Nordrhein und Westfalen-Lippe, sei es gelungen, eine Arbeitsgruppe transplantationsbeauftragter Ärztinnen und Ärzte zu bilden. Die Veranstaltung im Haus der Ärzteschaft Ende August war deren erstes Netzwerktreffen, an dem auch pflegerische Transplantationsbeauftragte teilnahmen. „Die Veranstaltung war mit 90 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus meiner Sicht ein großer Erfolg“, betont Frings.
Auch Dimi Christodoulou und Ammar Ghouzi waren zum Treffen der Transplantationsbeauftragten ins Düsseldorfer Haus der Ärzteschaft gekommen. „Ich habe mich mein ganzes Berufsleben lang für das Thema stark gemacht“, sagt Ghouzi. „Ich bin sozusagen ein Werbeträger für die Organspende.“ Seit seiner zweiten Herztransplantation ist Dimi dabei oft an seiner Seite. „Ich hatte vorher nie etwas über das Thema gehört, weder von meinen Eltern, noch in der Schule“, sagt er. „Deswegen finde ich es wichtig, jetzt etwas zu tun.“ So stellt er sich beispielsweise den Fragen von Ghouzis Studierenden an der Fliedner Fachhochschule in Düsseldorf oder im Haus der Ärzteschaft denen der Transplantationsbeauftragten. „Das Netzwerktreffen hat mir persönlich noch einmal einen Schub gegeben“, sagt Dimi. „Ich würde gerne damit anfangen, das Thema auf Social Media zu bewerben.“ Zurzeit hat er 80 Follower auf Instagram. Aber dabei muss es ja nicht bleiben.
Organspende rettet Leben
Im vergangenen Jahr scheiterte in der Hälfte der Fälle eine Organspende an einer fehlenden Zustimmung. In den Fällen, in denen bei einem Verstorbenen die Möglichkeit zu einer Organspende bestand, lag nur bei 15 Prozent eine schriftliche Entscheidung vor. Dimitrios Christodoulou lebt seit November 2022 mit seinem zweiten Spenderherz. Auch das Projekt Lebensritter des Netzwerks Organspende NRW e.V. griff seine Geschichte auf. Das Netzwerk wird im Rahmen der Selbsthilfeförderung durch die Ersatzkassen NRW unterstützt und will Menschen das Thema Organspende näherbringen.
Kampf gegen den Organmangel
Um die Organspende zu fördern, trat im April 2019 das Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende in Kraft. Es sieht im Wesentlichen folgendes vor:
- Verbesserung des Prozessablaufs in der Organspende
- Analyse der Todesfälle in den Entnahmekrankenhäusern, um die Spendererkennung zu optimieren
- Stärkung der Position der Transplantationsbeauftragten durch Freistellung und Refinanzierung
- deutliche Erhöhung der Vergütung für Organentnahmen
- Einrichtung eines konsiliarärztlichen Bereitschaftsdienstes zur Diagnose des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls
Nach dem Scheitern der Widerspruchlösung, wonach jeder Mensch als Organspender gilt, wenn er nicht ausdrücklich widerspricht, verabschiedete der Deutsche Bundestag 2020 das Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft. Es trat 2022 in Kraft und sieht im Wesentlichen folgendes vor:
- Verstärkte Aufklärung der Öffentlichkeit über Organspende und Förderung der Auseinandersetzung mit dem Thema
- Ansprache und Aushändigung von Infomaterial in Bürgerämtern
- Schaffung eines OnlineRegisters zur Dokumentation des Spendewillens
Hausärzte sollen künftig ihre Patienten alle zwei Jahre ergebnisoffen über die Organ- und Gewebespende beraten. In Nordrhein wurde die entsprechende Ziffer von ihrer Einführung im Frühjahr 2022 an bis zum 1. Quartal 2023 in 362.000 Fällen abgerechnet, wie die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein auf Anfrage mitteilte.