So individuell die Symptome einer Long-COVID-Erkrankung sind, so sehr gleichen sich dennoch die Erfahrungen der Betroffenen: Ihr Leben hat sich vollkommen verändert. Auf Einladung der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KVNO) diskutierten Expertinnen und Experten im Rahmen der Veranstaltung „Long-COVID – eine Herausforderung im Gesundheitssystem“ im Düsseldorfer Haus der Ärzteschaft über die noch immer Rätsel aufgebende Krankheit.
von Ina Armbruster
„Früher bin ich auf 2.000 Meter hohe Berge geklettert, heute ist der Gang zum Briefkasten ein Abenteuer“, zitierte Dr. Sibylle Steiner, Mitglied des Vorstands der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, einen Patienten. Sie moderierte die Veranstaltung „Long-COVID – eine Herausforderung im Gesundheitssystem“ der KV Nordrhein in Düsseldorf. Etwa 50 Besucherinnen und Besucher nahmen vor Ort teil, fast 300 Zuschauer verfolgten die Vorträge und Fragerunden online.
Dr. Frank Bergmann, KVNO-Vorstandsvorsitzender, betonte: „Bei den meisten Erkrankten bilden sich die Spätfolgen einer Corona-Infektion innerhalb eines Jahres wieder zurück. Doch aufgrund der hohen Infektionszahlen ist auch die Zahl der Menschen hoch, die unter langfristigen Folgen leiden.“ Der Großteil dieser Patientinnen und Patienten wird in Hausarztpraxen begleitet. Nach den Auswertungen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung haben zwischen Januar 2021 und März 2023 allein in Nordrhein Ärztinnen und Ärzte für mehr als 171.000 Patientinnen und Patienten Behandlungen von Post-COVID-Erkrankungen abgerechnet.
Noch immer keine eindeutigen Marker vorhanden
Die größte Herausforderung dabei für die Behandelnden: Bisher sind keine eindeutigen Marker bekannt, sodass die Diagnose nach wie vor nur durch ein Ausschlussverfahren gestellt werden kann. Ebenso gibt es bisher keine ursächliche Behandlung. Diese Situation belastet sowohl Ärztinnen und Ärzte als auch die Betroffenen. Welch wichtige Rolle vor diesem Hintergrund auch die Selbsthilfe spielt, betonte Claudia Middendorf, Patienten- und Behindertenbeauftragte des Landes NRW. „Gemeinsam ist man stärker“, sagte sie und rief Betroffene zum Engagement in der Selbsthilfe auf, um gemeinsam Lücken im System festzustellen und Lösungsansätze für neue Strukturen zu finden.
Die bürokratischen Hürden erlebt auch Nadine Rommerwinkel immer wieder: Als Fachärztin für Innere Medizin füllte sie im Alltag ständig Formulare aus. Nach ihrer COVID-19-Erkrankung war ihre Leistungsfähigkeit nicht nur körperlich, sondern auch kognitiv so eingeschränkt, dass sie selbst Hilfe benötigte, um ihren Reha-Antrag auszufüllen. Heute setzt sie sich – soweit es ihre Kräfte inzwischen wieder zulassen – bei der Initiative „Long COVID Deutschland“ für andere Patientinnen und Patienten ein. Wie sie selbst leiden viele unter dem Chronischen Fatigue-Syndrom (ME/CFS). Damit fehlt Betroffenen auch die Energie, sich um nötige Schritte auf dem Weg zur Genesung beziehungsweise Linderung zu kümmern. Deswegen sind laut Rommerwinkel Beratungsangebote dringend nötig. Dr. Inka Daniels-Haardt, Fachbereichsleiterin Infektiologie beim Landeszentrum Gesundheit NRW, verwies auf die zum Teil mangelnde Aufklärung bei ME/CSF, die auch nach anderen Infektionskrankheiten auftreten kann. „Ziel der stationären oder ambulanten Therapien soll in diesen Fällen nicht die Aktivierung, sondern das sogenannte ,Pacing‘ sein. Patientinnen und Patienten müssen ihre Belastungsgrenzen kennenlernen und Strategien lernen, damit umzugehen“, betonte sie.
PAIS erst seit Corona vermehrt im Fokus
Ihre Fachkollegin, Professor Dr. Clara Lehman, forscht an der Uniklinik Köln zum Thema Long- und Post-COVID. Post-akute Infektionssyndrome (PAIS) seien bisher in der Forschung vernachlässigt worden. Durch die hohen Betroffenen-Zahlen bei Corona geraten PAIS nun in den Fokus. Die ersten Studien mit dem Arzneimittel BC 007 laufen, bisher gebe es allerdings keine kausale Behandlung. Hausarzt Dr. Matthias Schlochtermeier plädierte dafür, die Sorgen der Betroffenen ernst zu nehmen und Geld in die Forschung zu stecken. „Gleichzeitig sollten wir die Problematik aber auch nicht überschätzen. Ich und meine ebenfalls als Hausärztin tätige Frau behandeln derzeit keine Post-COVID-Patientinnen und -Patienten“, so der Mediziner mit Praxis in Hürth-Efferen.
Herausforderung: Anschlussdiagnose
Dr. Uwe Meier untermauerte die Aussage seines Kollegen: Die Anzahl der Menschen mit langfristigen Spätfolgen sei kleiner als zunächst befürchtet. „Aber für die Menschen, die es betrifft, ist es ein gigantisches Problem“, stellte der Neurologe aus Grevenbroich klar. Zu den neurologischen Folgen gehörten unter anderem Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Sprachschwierigkeiten, mangelndes planerisches Denken und die bereits angesprochene Fatigue, die viele im Alltag besonders einschränkt. Laut Meier ist für Ärztinnen und Ärzte die Ausschlussdiagnose eine große Herausforderung, denn fünf Prozent der COVID-Erkrankten geben laut einer Studie nach zwölf bis 16 Wochen an, unter mindestens einem von zwölf definierten Symptomen zu leiden. Das Problem: Drei Prozent der Menschen aus der Kontrollgruppe, die nie an COVID-19 erkrankt seien, machten die gleichen Angaben. „Gerade die Frage nach der Kausalität ist jedoch oft entscheidend für weitere Schritte – zum Beispiel, wenn es darum geht, ob es sich bei der Erkrankung um einen Berufsunfall handelt“, erläuterte der Neurologe. Die verloren gegangene Lebensqualität führe zudem nicht selten zu Depressionen.
Behandelnde Ärztinnen und Ärzte müssen sich oft eingestehen, den Betroffenen nicht so konkret helfen zu können, wie sie es von anderen Erkrankungen gewohnt seien – eine Herausforderung. Es stehen viele Fragen im Raum: Wie führe ich schwierige Patientengespräche? Wie gehe ich mit meiner eigenen Unsicherheit um? In diesen Fällen kann die Mitarbeit in einem Qualitätszirkel (QZ) helfen. QZ-Tutor Dr. Hans-Helmut Brill gab einen Einblick in das QZ-Modul „Long COVID“, in dem Teilnehmende verschiedene Gesprächstechniken ausprobieren und sich mit Fragestellungen rund um das Thema mit Kolleginnen und Kollegen austauschen können.
Ina Armbruster ist Online-Redakteurin bei der KV Nordrhein.
Förderung von Telekonsilen
Um die Versorgung von Patientinnen und Patienten zu verbessern, die unter den Folgen einer Corona-Infektion oder einer Corona-Schutzimpfung leiden, fördert das NRW-Gesundheitsministerium die Durchführung von Telekonsilen über das Virtuelle Krankenhaus NRW (VKh). Ziel ist es, den sektorübergreifenden Fachaustausch zwischen Vertragsärzteschaft und ausgewählten Corona-Ambulanzen zu unterstützen. Dafür stellt Das Ministerium bis Ende 2023 bis zu eine Million Euro – je zur Hälfte für die Landesteile Nordrhein und Westfalen-Lippe – zur Verfügung.
Zuwendungsberechtigt sind alle an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte sowie Psychologische Psychotherapeutinnen und -therapeuten und diejenigen Corona-Ambulanzen, die interdisziplinär aufgestellt sind und gleichzeitig über entsprechende Expertise verfügen. Um die Förderung in Anspruch nehmen zu können, müssen zunächst ein Nutzungsvertrag und ein Auftragsverarbeitungsvertrag mit der Virtuelles Krankenhaus NRW gGmbH abgeschlossen werden.
Informationen und Unterstützung zu vertraglichen Regelungen sowie zur Zusendung oder Entgegennahme von Verträgen erteilt das VKh unter der E-Mail-Adresse vertraege(at)virtuelles-krankenhaus.nrw oder per Telefon unter 02331 910620 sowie auf der Service-Seite
www.virtuelles-krankenhaus.nrw.