Ein Kind ist verletzt, aber das Verletzungsmuster stimmt nicht mit der Schilderung des Unfallhergangs überein; Hämatome an ungewöhnlichen Körperteilen, alte Brüche, ein schlechter Ernährungszustand, Verhaltens- und Sprachentwicklungsstörungen – eine Broschüre gibt Ärztinnen und Ärzten und medizinischem Fachpersonal Tipps an die Hand, wie sie mit Verdachtsfällen von Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung umgehen können.
von Sabine Mewes und Martina C. Levartz
Die Zahlen sind ernüchternd. Bei mehr als 59.900 Kindern und Jugendlichen haben die Jugendämter in Deutschland im Jahr 2021 eine Kindeswohlgefährdung festgestellt, die durch Vernachlässigung, psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt verursacht wurde. Das belegen aktuelle Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Zwar sei die Zahl im Vergleich zu ihrem Höchststand im ersten Coronajahr 2020 leicht um etwa 600 Fälle oder ein Prozent gesunken. Die Kindeswohlgefährdungen erreichten den Statistiken zufolge 2021 dennoch den zweithöchsten Wert seit Einführung der Zählung im Jahr 2012.
Angesichts der zunehmenden Fälle von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) bereits im Jahr 2020 das Thema zum festen Bestandteil des Qualitätsmanagements in medizinischen Einrichtungen erhoben. Ziel sei es zum einen, Missbrauch und Gewalt in Kliniken und Praxen vorzubeugen, zum anderen aber auch, diese zu erkennen, angemessen darauf zu reagieren und zu verhindern, erklärte der G-BA damals und ergänzte die entsprechende Richtlinie, die grundsätzliche Anforderungen an ein einrichtungsinternes Qualitätsmanagement festlegt.
Woran aber erkennen Ärztinnen und Ärzte, Medizinische Fachangestellte oder das Gesundheitspersonal in den Notaufnahmen im Alltag bei ihren jungen Patientinnen und Patienten mögliche Anzeichen von Kindeswohlgefährdung? Und was ist in einem solchen Fall zu tun? Das Institut für Qualität im Gesundheitswesen (IQN), eine gemeinsame Einrichtung der Ärztekammer und der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, leistet hier im Auftrag seines Vorstandes Hilfestellung für Betroffene. Neben einer Fortbildungsreihe und Fachartikeln zum Thema unter anderem im Rheinischen Ärzteblatt hat das IQN jetzt zusammen mit einer Arbeitsgruppe aus Expertinnen und Experten einen „Notfall- und Informationskoffer“ konzipiert. Die Broschüre ist sowohl zur schnellen Bereitstellung von Informationen bei akuten Fragen als auch als Nachschlagewerk gedacht, das schnell und praxistauglich alle notwendigen Informationen zur Kindeswohlgefährdung bereitstellt:
- frühzeitiges Erkennen von Kindeswohlgefährdung
- Handlungsoptionen bei (Verdacht auf) Kindeswohlgefährdung
- Hinweise zur eigenen Beratung in Verdachtsfällen/unklaren Fällen
- Informationen zur rechtlichen Situation (zum Beispiel Umgang mit der Schweigepflicht)
- Gesprächsführung mit Kindern, Eltern oder Sorgeberechtigten
- Hinweise zur richtigen Dokumentation
- ausführliches Arbeitsmaterial und Hinweise auf weitere Informationsquellen
Zusätzlich enthält die Broschüre eine Liste relevanter Hilfsangebote für Ärztinnen und Ärzte, Sorgeberechtigte sowie Kinder und Jugendliche.
Die Informationen sind übersichtlich aufgearbeitet, zahlreiche Schemata und „Kitteltascheninformationen“ erleichtern die Übersicht. Beschrieben wird insbesondere, wann es sich um zeitkritische Fälle handelt, die ein sofortiges Handeln erfordern, und wann es sich um weniger zeitkritische Fälle handelt. Für das Gespräch mit Kindern, Eltern oder Sorgeberechtigten sind Formulierungsbeispiele und Hinweise zum Gesprächssetting aufgeführt.
Die Informationsbroschüre soll Ärztinnen und Ärzte sowie medizinisches Fachpersonal dabei unterstützen, Kindeswohlgefährdungen wahrzunehmen und zu erkennen, konsequent und zielgerichtet zu handeln, die eigene Haltung zum Thema zu reflektieren und die rechtlichen Aspekte einschätzen zu können. Die Broschüre ist nicht nur geeignet für alle Kinderarztpraxen, Notaufnahmen sowie Kinder- und Jugendlichen-Abteilungen im Krankenhaus, sondern auch für alle an der Versorgung von Kindern beteiligten Fachrichtungen in Klinik und Praxis.
Dr. Sabine Mewes ist Stellvertretende Geschäftsführerin und Dr. Martina C. Levartz, MPH, ist Geschäftsführerin im Institut für Qualität im Gesundheitswesen Nordrhein.
Der Notfall- und Informationskoffer kann unter dem Link www.aekno.de/Kindernotfallkoffer heruntergeladen oder per E-Mail über das IQN angefordert werden: iqn(at)aekno.de