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Praxis

Mobile Ethikberatung: Hilfe in Grenzsituationen

21.02.2023 Seite 23
RAE Ausgabe 3/2023

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 3/2023

Seite 23

Die stationäre klinische Ethikberatung ist in Deutschland an nahezu allen größeren Krankenhäusern und Kliniken fest verankert. Die aufsuchende Beratung ist dagegen bislang kaum etabliert. Zu den wenigen Pilotprojekten zählt eine Initiative im Raum Aachen. In Trägerschaft des „Palliativen Netzwerks für die Region Aachen“ wurde dort vor gut einem Jahr eine Koordinationsstelle etabliert, um in ethischen Grenzsituationen allen Gesundheitseinrichtungen eine mobile Ethikberatung anbieten zu können.

von Mareike Hümmerich, Veronika Schönhofer-Nellessen, Dominik Groß

Die Anfrage erreicht die Koordinationsstelle der Städteregion Aachen von der Pflegeleitung eines Hospizes. Es geht um den Fall eines Patienten, Anfang 50, der seit einem Jahr an einem Hirntumor leidet, der sich trotz mehrerer Operationen und Chemotherapien weiter ausbreitet. Die Folgen sind eine leichte Sprechstörung, Lähmungserscheinungen und Gangunsicherheit, epileptische Anfälle und zuletzt delirante Episoden. Das Hospiz bittet um eine ethische Fallberatung, weil der Patient eine palliative Sedierungstherapie wünscht. An dem folgenden Gespräch nehmen neben dem Patienten und dessen Ehefrau die Bezugspflegerinnen und -pfleger, die betreuende Ärztin, die ärztliche Leitung, die Leitung des Hospizes sowie Protokollführer und Moderator der mobilen Ethikberatung teil. Ziel der Beratung ist es, in einem strukturierten Gespräch verschiedene Behandlungsoptionen in ihren Konsequenzen zu erörtern und den Betroffenen bei der Festlegung einer Behandlungsoption zu helfen. Der Patient selbst ist schläfrig, nur eingeschränkt ansprechbar und kann nicht am gesamten Gespräch teilnehmen. Die Ehefrau erklärt, dass ihr Mann seine Situation nicht mehr ertragen könne. Sie selbst und das minderjährige Kind des Paars könnten den Weg einer palliativen Sedierung mittragen, da es dem Wunsch ihres Mannes entspreche.

Die Pflegepersonen geben zu Protokoll, dass der Pflegebedarf ihres Patienten rasch zunehme. Er habe zwischendurch gute Zeiten, erzähle, lache, sei aber starken Stimmungsschwankungen unterworfen. Der zunehmende Kontrollverlust belaste ihn sehr und er äußere selbst den Wunsch zu sterben. Ein psychiatrisches Konsil hatte im Vorfeld der Ethikberatung die Einwilligungsfähigkeit des Patienten festgestellt und diesem aus Rücksicht auf sein Kind eine Distanz zur Suizidalität bescheinigt. Vor dem Aufenthalt im Hospiz sei die Situation zu Hause noch stark durch einen frei verantworteten Suizidwunsch belastet gewesen.

„Der Druck ist raus“

Nach eingehender Diskussion der Gesamtsituation des Patienten und der infausten neurologischen Prognose lassen sich aus der Perspektive aller Teilnehmenden keine realistisch erreichbaren Therapieziele mehr formulieren. Aufgrund der raschen Verschlechterung des Allgemeinzustandes in den vergangenen Tagen fehlt nach Einschätzung des Behandlungsteams eine medizinische Indikation für die Fortsetzung der bisherigen Therapie mit Cortison gegen das Hirnödem.

Um das Leiden des Patienten nicht unnötig zu verlängern, schlägt das Team der mobilen Ethikberatung vor, alle lebensverlängernden Medikamente abzusetzen einschließlich der intravenösen Gabe von Nahrung oder Flüssigkeit. Der Patient solle aber weiter nach seinen Wünschen essen und trinken. Maßnahmen zur Symptomkontrolle sollten fortgeführt werden. Nachdem man den Angehörigen ausreichend Zeit für den Abschied eingeräumt habe, könne dann jederzeit mit einer leitliniengerechten tiefen Sedierung begonnen werden.

Das Hospiz meldete später zurück, dass die Ethikberatung die Situation vor Ort maximal entspannt habe.  „Der Druck ist raus“, hieß es in einer E-Mail. Die Familie habe noch einige Tage zusammen verbracht, dann sei der Patient verstorben, ohne die tiefe Sedierung in Anspruch zu nehmen.
Die Idee, eine mobile, das heißt aufsuchende Ethikberatung aufzubauen, entstand 2018 aus den gemeinsamen Erfahrungen des Palliativen Netzwerks für die Region Aachen, dem fast 70 Einrichtungen der Gesundheitsversorgung der Städteregion angehören. Denn das Netzwerk erreichten zum Beispiel über das Beratungstelefon der Servicestelle Hospiz zunehmend Fragen zu medizin- und sozialethischen Problemstellungen und Konflikten. Dazu gehörten Themen wie Therapielimitierung, die Anwendung von Patientenverfügungen, herausforderndes Verhalten von Bewohnerinnen und Bewohnern in stationären Einrichtungen, der Wunsch nach assistiertem Suizid, aber auch Konflikte im therapeutischen Team oder zwischen Angehörigen, Behandlern und Patienten über Therapieziele.

Zur Umsetzung der aufsuchenden Beratung hat am 1. Februar 2022 eine Koordinationsstelle in Trägerschaft des Palliativen Netzwerkes folgende Aufgaben übernommen:

  • Koordination einer sektorenübergreifenden mobilen Ethikberatung und Umsetzung einer regionalen Gesundheitlichen Versorgungsplanung
  • Fort- und Weiterbildung für die Beratung durch qualifizierte Fachkräfte
  • Supervision und Qualitätszirkel für die Beraterinnen und Berater
  • Förderung der Vernetzung im Gesundheitswesen
  • Öffentlichkeitsarbeit
  • Qualitätssicherung

Fachlich und personell kooperiert die Koordinationsstelle mit dem Bildungswerk Aachen sowie mit dem Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Uniklinik der RWTH Aachen und der Palliativakademie der RWTH Aachen. Darüber hinaus wurde ein Beirat ins Leben gerufen, der die Ausgestaltung und Verstetigung des Projektes unterstützt.

Kontaktstelle klärt den Bedarf

Das Palliative Netzwerk verfolgt das Ziel, allen Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens, Fachpersonen sowie Bürgerinnen und Bürgern einen niederschwelligen Zugang zu Ethikberatungen zu ermöglichen. Eine zentrale Rolle kommt hierbei der Kontaktstelle zu (www.palliatives-netzwerk-region-aachen.de). Dort wird mithilfe eines Ersterfassungsbogens geklärt, um welche (ethische) Fragestellung es sich handelt und ob ein Bedarf für eine mobile Ethikberatung besteht. Zu differenzieren sind hier medizinethische Fragen (zum Beispiel Therapielimitierung), sozialethische (zum Beispiel Selbstgefährdung) und normativ alltagspraktische Themen (herausforderndes Verhalten) sowie andersgelagerte Konflikte, die zum Beispiel einer Mediation bedürfen.

Beratung im geschützten Raum

Das mobile Ethikberatungsteam besteht aus maximal vier Personen. Die Kommunikation innerhalb des Teams erfolgt über die datenschutzkonforme App Siilo. Innerhalb der Pilotphase, die für das Jahr 2023 angesetzt ist, wird jedes ethische Beratungsgespräch durch den Vorsitzenden des Klinischen Ethikkomitees des Universitätsklinikums Aachen, Professor Dr. Dominik Groß (Lehrstuhl Medizinethik), oder dessen Stellvertreter Professor Dr. Roman Rolke (Lehrstuhl Palliativmedizin) moderiert und begleitet. Dieses Vorgehen soll dazu dienen, die neu zertifizierten Ethikberaterinnen und -berater bei ihrem Übergang in die Beratungspraxis professionell zu unterstützen. Die eigentliche Ethikberatung wird in einem geschützten, ruhigen Raum in der ratsuchenden Einrichtung durchgeführt.

Die US-amerikanischen Medizinethikerinnen Nancy N. Dubler und Carol B. Liebmann sehen in ihrem Standardwerk Bioethics Mediation von 2011 die Aufgaben von Ethikberaterinnen und Ethikberatern in erster Linie darin, den vorliegenden ethischen Konflikt zu artikulieren und eine Lösung zu ermöglichen, die die verschiedenen Rollen der beteiligten Parteien respektiert (zum Beispiel Patient, Familie oder medizinisches Personal). Die Ethikberater sollen demnach

  • •    sicherstellen, dass alle Beteiligten Gehör finden.
  • •    die betroffenen Personen bei der Klärung ihrer eigenen Werte unterstützen.
  • •    sachliche Informationen erläutern und dazu beitragen, gemeinsame Werte anzuerkennen.
  • •    die ethisch geeigneten Entscheidungsträger identifizieren und unterstützen.
  • •    Mediation oder andere Konfliktlösungstechniken anwenden.
  • •    eine gemeinsame Grundlage für eine Lösung suchen und
  • •    sicherstellen, dass dieser Konsens ethischen und rechtlichen Prinzipien entspricht.

Die mobile Ethikberatung spricht gegenüber dem Behandlungsteam eine Empfehlung aus. Nach der Ethikberatung erfolgt die Dokumentation in Form eines Protokolls. Letzteres orientiert sich an den Standards der Akademie für Ethik in der Medizin (www.aem-online.de, „Ethikberatung“). Das Protokoll muss von den Beteiligten zunächst konsentiert werden und wird dann der Patientenakte beigefügt. Das Ergebnis der Beratung wird im Nachgang evaluiert.

Mareike Hümmerich M.A. ist Koordinatorin mobile Ethikberatung und Gesundheitliche Versorgungsplanung im Palliativen Netzwerk für die Region Aachen e. V., Dipl.-Soz. Päd. Veronika Schönhofer-Nellessen ist Geschäftsführerin des Netzwerks und Leiterin des Bildungswerks Aachen und Professor Dr. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik Groß ist Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Uniklinik der RWTH Aachen.

Qualifizierung in Ethikberatung/GVP

Das „Palliative Netzwerk für die Region Aachen“ bietet in Kooperation mit dem Bildungswerk Aachen seit 2018 eine Qualifizierung zur Gesundheitlichen Versorgungsplanung (GVP) nach § 132 SGB V und zur Ethikberatung an. Fachlich und personell begleitet wird die Initiative durch das Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Uniklinik der RWTH Aachen und die Palliativakademie der RWTH Aachen. Diese Fortbildungen sind die Voraussetzung dafür, um niederschwellige Beratungen zu den normativen Entscheidungen am Lebensende anbieten zu können.

Das Bildungswerk Aachen bietet in diesem Jahr zwei insgesamt elftägige Kurse zur GVP-Beraterin beziehungsweise zum GVP-Berater an (Start: 27. März und
4. September). Am 12. September startet ein insgesamt siebentägiger Kurs zur Ethikberaterin oder zum Ethikberater. Information: www.bildungswerkaachen.de

Am 21. Juni 2023 ist zudem ein Informationstag zu dem Projekt geplant. Informiert wird neben der mobilen Ethikberatung unter anderem zu den Themen „Patientenverfügung“ und „Vorsorgevollmacht“.