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Wenn das Selbstbild krank macht

21.06.2023 Seite 28
RAE Ausgabe 7/2023

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 7/2023

Seite 28

Patientinnen mit Magersucht leiden in der Regel an einer Körperbildstörung. Sie sind unzufrieden mit ihrem eigenen Körper und empfinden sich – unabhängig von ihrem Gewicht – als zu dick. © alisseja/stock.adobe.com
Nach der Binge Eating Störung und der Bulimia nervosa steht die Anorexia nervosa an dritter Stelle der am häufigsten verbreiteten Essstörungen in Deutschland. Sie ist die psychische Erkrankung mit der höchsten Mortalität. Die Coronapandemie hat die Zahl der Betroffenen noch einmal erheblich ansteigen lassen. Neue Behandlungsstrategien setzen auf die Familie als Ko-Therapeuten. 

von Vassiliki Temme

Im Jahr 2020 wurden dem Unternehmen Statista zufolge in deutschen Krankenhäusern 7.355 Fälle von Magersucht diagnostiziert. 30 Menschen starben an der Erkrankung. Die Betroffenen leiden in der Regel an einer Körperbildstörung. Sie sind unzufrieden mit ihrem eigenen Körper und empfinden sich – unabhängig von ihrem Gewicht – als zu dick. Dies führt dazu, dass sie immer weiter an Gewicht verlieren – Abnehmen ist das ausschließliche Ziel. Wie die KiGGS-Basisuntersuchung zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen des Robert Koch-Instituts belegt, spielen bei den Essstörungen neben biologischen Einflüssen – wie etwa genetische oder hormonelle Faktoren – auch gesellschaftliche und soziokulturelle Ursachen eine Rolle: Neben dem Geschlecht, Migrationshintergrund und Gewichtsstatus seien insbesondere emotionale Probleme und die subjektive Wahrnehmung des eigenen Körpers relevante Risikofaktoren für die Entwicklung von Essstörungssymptomen. Über 20 Prozent der elf- bis 17-jährigen Jungen und Mädchen wiesen solche Symptome auf. Mädchen waren mit steigendem Alter häufiger betroffen. Der Einstieg in eine Anorexia nervosa finde nicht selten über eine harmlos wirkende Diät statt, erklärte Professorin Dr. Beate Herpertz-Dahlmann bei einer Online-Fortbildung des Instituts für Qualität im Gesundheitswesen Nordrhein (IQN). Die Sozialen Medien spielten dabei eine immer größere Rolle, vor allem sogenannte Fitness- und Food-Influencer. Diese propagierten ein Schlankheitsideal, welches Leistungsdruck und Perfektionismus auslöse. „Patientinnen haben einen extrem hohen Anspruch an sich, der macht es ihnen auch schwer, eine Therapie wahrzunehmen. Sehr viele möchten gar nicht gesund werden“, sagte die Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der RWTH Aachen. Der Weg heraus aus der Essstörung sei ein langer Prozess. 

Wenn Essen das Leben bestimmt

Kein Fett, kaum Kohlenhydrate: Oftmals entwickelten Betroffene Rituale, wie beispielsweise das Zählen von Kalorien oder den ständigen Gang auf die Waage. Viele trieben exzessiv Sport und nähmen nur ganz bestimmte Lebensmittel zu sich. Einige erbrächen auch willentlich und benutzten Abführmittel, um ihr Gewicht weiter zu senken. „Anorexia nervosa geht immer mit einem enormen Gewichtsverlust einher, man könnte sagen mit einer Gewichtsphobie“, so Herpertz-Dahlmann. „Ich appelliere aber an die Pädiater, nicht nur auf die Waage zu schauen. Denn allzu oft wird das Problem nicht ernst genommen, weil das Gewicht laut BMI-Perzentile eben noch nicht niedrig genug ist.“ Besonders Patientinnen und Patienten, die an einer atypischen Form der Anorexia nervosa litten, seien davon betroffen. Dünne Kinder und Jugendliche, die ein normales Essverhalten aufwiesen, sollte man lieber einmal zu viel als zu wenig untersuchen. „Um zu erkennen, ob eine Essstörung vorliegt, spielen viele Faktoren eine Rolle: Haben Mädchen noch eine Menstruation? Sind Eltern und Geschwister auch dünn? Wie sind die Blutwerte und wie ist der BMI nach KiGGS?“, so die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Zunehmend seien auch Jungen und Männer von Anorexia nervosa betroffen, allerdings sei die Erkrankung bei ihnen anders ausgeprägt. Man sehe oft eine ausgeprägte Muskulatur, da die Betroffenen sehr exzessiv Sport trieben. Herpertz-Dahlmann schilderte den Fall eines 19-jährigen Patienten, der mit einer Herzfrequenz von 30 in einer Kardiologie vorgestellt wurde. „Niemand konnte sich seinen Zustand erklären. Er hatte massive Ödeme, kam daraufhin in eine Rheumatologische Klinik, auch dort fand man keine Ursache. Keiner kam auf die Diagnose Magersucht. Als er schließlich zu uns in die Klinik kam, war er schwerstkrank und depressiv.“

Problematisch sei das Krankheitsbild der Anorexia nervosa auch, weil es häufig mit Depressionen und Angsterkrankungen einhergehe. Zudem leide der Körper massiv unter dem Nahrungsentzug. „Die somatischen Konsequenzen sind so schwerwiegend wie die psychischen“, erklärte die Kinder- und Jugendpsychiaterin.

Anorexia nervosa in der Pandemie

Professorin Dr. Beate Herpertz-Dahlmann und ihr Team an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der RWTH Aachen haben anhand von Daten der Techniker Krankenkasse die Anorexia nervosa-bedingten Aufenthalte während der Coronapandemie untersucht. Danach hat sich die Zahl der Kinder bis 14 Jahre, die zwischen 2019 und 2022 stationär behandelt werden mussten, deutlich erhöht. Ein Absinken auf das Niveau von vor der Pandemie zeichne sich zurzeit nicht ab, erklärte Herpertz-Dahlmann bei der Fortbildungsveranstaltung des IQN. Mit Beginn des ersten Lockdowns im März 2020 seien die Fallzahlen zunächst deutlich gesunken. Dies lasse sich darauf zurückführen, dass die Menschen die Klinik aus Angst vor Ansteckung gemieden hätten. Nach den Lockdowns seien die Fallzahlen dann jeweils wieder gestiegen. Aus Sicht der Wissenschaftler belegen die Daten, dass die Pandemie in der Psyche der Kinder und Jugendlichen deutliche Spuren hinterlassen hat. Feste Strukturen wie der Schulbesuch und persönliche Kontakte seien weggebrochen, Einsamkeit und Langeweile hätten zugenommen. Auch hätten Kinder und Jugendliche während der Pandemie viel mehr Zeit mit den Sozialen Medien verbracht mit dem Nebeneffekt, dass sich viele viel zu wenig bewegt und an Gewicht zugenommen hätten. Das habe manche zu Diäten veranlasst, die in eine Essstörung mündeten.

Körper und Geist leiden

Der starke Gewichtsverlust und die meist damit verbundene Mangelversorgung bleiben auf Dauer nicht ohne Folgen für den Organismus. Privatdozent Dr. Jochen Seitz, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie und Oberarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der RWTH Aachen erklärte: „Der Körper läuft nur noch auf Sparflamme. Die Körpertemperatur fällt ab, der Blutdruck sinkt, das Herz schlägt langsamer. Viele Magersüchtige frieren schnell, haben kalte Hände und Füße. Durch die verringerte Nahrungsaufnahme verzögert sich die Magenentleerung, und der Darminhalt benötigt mehr Zeit für die Darmpassage – es kommt leicht zur Verstopfung. Bei einem starken Eiweißmangel lagert sich Flüssigkeit im Gewebe ab, es entstehen Ödeme.“ Typisch sei auch die sogenannte Lanugo-Behaarung: An Armen, Rücken und im Gesicht entwickele sich eine flaumartige, feine Behaarung, weil der Körper versuche, seinen Wärmehaushalt zu regulieren. „Hinzu kommt die Hyperaktivität, dieser ständige Bewegungsdrang, der auch dazu führen kann, das Schlaf enorm reduziert wird“, sagte Seitz. „Wir wissen heute, dass dafür das Hormon Leptin zuständig ist. Es triggert, so Forschungen, wohl den Futtersuchreflex bei Säugetieren.“ Auch zahlreiche endokrine Veränderungen, wie erhöhtes Cortisol, veränderte Schilddrüsen- und Sexualhormone seien zu beobachten. „Man sieht Veränderungen im EKG, im Blutbild und sogar im MRT“, so Seitz. Auf die Frage nach einem sinnvollen Medikament antwortete der Kinder- und Jugendpsychiater: „Das sinnvollste Medikament ist Essen. Neuroleptika können anfangs gegen die Ängste helfen, und natürlich erhalten unsere Patientinnen Medikamente gegen ihre Magen-Darm-Probleme, die es auch in den Griff zu kriegen gilt.“

Ein Weg hinaus

„Wenn niedergelassene Kolleginnen und Kollegen einen rapiden Gewichtsverlust beobachten, die körperliche Gefährdung zu hoch ist, man exzessiven Bewegungsdrang oder gar Suizidalität registriert, sollte stationär behandelt werden“, riet Kinder- und Jugendpsychiaterin Herpertz-Dahlmann. In den vergangenen Jahren habe sich die Essstörungs-Therapie enorm weiterentwickelt. Man wisse heute, dass das Zielgewicht zwar besonders wichtig, aber sehr viel individueller sei, als bislang angenommen. Unterschiede gebe es auch beim Therapieerfolg zwischen Kindern und Erwachsenen. Bei 40 Prozent der Erwachsenen sei nach der Therapie eine Remission zu beobachten. „Allerdings ist die Mortalität sehr hoch, und viele von ihnen haben eine psychische Störung, die sie ein Leben lang begleitet.“ Bei Kindern und Jugendlichen sei die Prognose deutlich besser, es gebe kaum Todesfälle. Eine absolute Heilung sei definitiv möglich: „80 Prozent, der Kinder- und Jugendlichen, die an Anorexia nervosa erkranken und in eine stationäre Behandlung kommen, führen irgendwann wieder ein normales Leben“, erklärte Herpertz-Dahlmann. Die meisten benötigten allerdings Jahre bis dahin. 

Gemeinsam heilen

Das berichtete bei der IQN-Veranstaltung auch die ehemalige Patientin Friederike. Die junge Frau erkrankte mit 14 Jahren an Magersucht. Alles fing mit einer harmlosen Diät an, die schnell zum Selbstläufer wurde. Heute ist sie gesund und froh über die Therapie: „Der Anfang fiel mir am schwersten. Die Gewichtszunahme war schmerzhaft, aber wichtig. Das sieht man natürlich erst im Nachhinein“, sagte die ehemalige Patientin. In der Klinik habe sie sich allerdings von ihrer Familie abgeschnitten gefühlt.
 
„Heutzutage setzt man in der Essstörungs-Therapie zunehmend auf die Familie, das alte System mit der Trennung von Patientin und Angehörigen ist überholt“, betonte Dr. Brigitte Dahmen, M.Sc, Oberärztin der Kinderpsychosomatischen Station KIPS an der RWTH Aachen. Es gebe keine stationäre Therapie mehr ohne Elternkontakt. „Die Familie ist als Co-Therapeut immens wichtig, sie muss effizient involviert und angeleitet werden“, so Dahmen. Das Problem sei in der Regel, dass nach dem stationären Aufenthalt die ambulante Anschlusstherapie und Übungen für zu Hause fehlten. Neue Therapieansätze aus dem englischsprachigen Raum zeigten zudem, dass auch ambulante Therapien zum Erfolg führten und ein Weg für die Zukunft sein könnten.
 

Eltern helfen Eltern

Das Elternnetzwerk Magersucht e.V. will die Heilungschancen von Kindern und Jugendlichen fördern, die an einer Essstörung erkrankt oder davon bedroht sind, sowie Eltern, Angehörige und Fachleute im deutschsprachigen Raum vernetzten. Familien von an Magersucht Erkrankten sollen ermutigt werden, eine aktive Rolle bei deren Gesundung einzunehmen. Wichtiger Bestandteil sind dabei Online-Selbsthilfegruppen von Eltern für Eltern, mit dem Ziel, die Betroffenen im häuslichen Umfeld zu betreuen. 
Weitere Informationen unter https://elternnetzwerk-magersucht.de