Am 24. Februar jährt sich der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Seither ist Ärzte ohne Grenzen im Kriegsgebiet überall dort im Einsatz, wo Hilfe gebraucht wird. Das reicht von der Evakuierung Kriegsverletzter per Zug bis hin zur Betreuung chronisch Kranker.
von Tankred Stöbe
So überraschend der Krieg in der Ukraine ausbrach, müssen wir nun den Jahrestag dieses leidvollen und tödlichen Konfliktes anerkennen, ohne eine tröstliche Perspektive für sein Ende zu kennen. Dabei sollten wir nicht vergessen, dass der Konflikt nicht erst am 24. Februar 2022 begann, sondern neun Jahre früher, mit der Annexion der Krim. Alle direkt Beteiligten machen sich wenige Illusionen über seine Grausamkeit. Allen Mitarbeitenden von Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières, MSF) werden vor der Ausreise die Risiken klar kommuniziert. Zudem durchlaufen wir ein CBRN-Training. Das Kürzel steht für Chemical-Biological-Radiological-Nuclear Emergency und ist neu für MSF, aber angemessen für den Kontext. Per Online-Modul wird kurz durch die verschiedenen Gefahren-Szenarien geführt und was im Katastrophenfall zu tun wäre. Danach bekommen alle einen Rucksack ausgehändigt mit Schutzkittel, Gasmaske und Notfallmedikamenten, diesen müssen wir immer mit uns tragen.
In der Ukraine geht es auf Straßen und Schienen weiter, der Luftverkehr wurde kriegsbedingt längst eingestellt. Ende August 2022 fahre ich erstmals in den Süden des Landes, zur Front bringt mich der Nachtzug. Morgens erreiche ich die Hafenstadt Odessa, von dort geht es mit dem Auto zu unserem Team in Mykolajiw. Nach der Begrüßung müssen wir wegen Raketenalarm gleich in den Schutzbunker. Anders als in der Hauptstadt hören wir hier erst die Einschläge und dann die Sirenen, die Flugdauer ist einfach zu kurz. Tag und Nacht begleitet uns nun das tiefe Grollen der Bombeneinschläge, meist sind sie weiter entfernt. Von den 500.000 Menschen haben fast die Hälfte die Stadt verlassen, die Schulen, die Universität und die Krankenhäuser wurden bombardiert, alle Bildungseinrichtungen sind geschlossen. Das Stadtbild prägen wenige, meist alte Menschen, aber keine Kinder.
Der Klinikdirektor eines Notfallkrankenhauses in Mykolajiw berichtet mir, dass in den vergangenen 200 Kriegstagen nur vier ohne Angriffe auf die Stadt vergangen seien. Dann zeigt er mir das Krankenhaus, das durch einen Bombenangriff am 1. August schwer beschädigt wurde. Das passt ins Bild. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verzeichnet im Durchschnitt täglich mehr als zwei Angriffe auf das Gesundheitswesen und als Folge Dutzende Verletzte und Tote. In der Klinik in Mykolajiw versuchen sie, von ihren verbleibenden 340 Behandlungsbetten immer die Hälfte freizuhalten, weil sie nun täglich 50 bis 70 frisch Verletzte aufnehmen müssen, je zur Hälfte Zivilisten und Soldaten. Nach einer chirurgischen Erstversorgung werden die Patienten nach wenigen Tagen ins Landesinnere verlegt.
Im Distriktkrankenhaus der Stadt sind 100 nierenkranke Patienten auf ihre regelmäßige Dialyse angewiesen, die einzige Klinik im großen Umfeld, die diese lebenserhaltende Therapie anbietet. Fast täglich erreichen verzweifelte Zivilisten das Büro von MSF, die es gerade noch geschafft haben, aus ihren Dörfern herauszukommen, die in der Kampfzone eingeschlossen sind, direkt zwischen den Feindeslinien. Dort müssen die übrigen Dorfbewohner ausharren, manche, weil sie nicht fliehen können, andere, weil sie nicht wollen. Aber sie haben keinen Strom mehr, kein Wasser, keine Nahrungsmittel und keine Medikamente. Die Geflüchteten zeigen uns Listen mit Medikamenten, die sie dringend benötigen. Es hat sich herumgesprochen, dass wir Hilfe anbieten.
100.000 Tote und Verletzte
Die wirkliche Dimension dieses Krieges zu erfassen, ist nicht möglich. Die humanitäre Situation ist angespannt: jeweils rund sieben Millionen Menschen sind nach Angaben des Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) innerhalb der Ukraine vertrieben oder über die Landesgrenzen geflohen. Die Gesamtzahl der offiziell bestätigten Kriegsopfer gibt die Wirklichkeit nicht wieder, seriöse Schätzungen gehen von 100.000 Toten und Verletzten aus, auf beiden Konfliktseiten.
Das ukrainische Gesundheitssystem kann die drängendsten kriegschirurgischen Herausforderungen bisher einigermaßen bewältigen. Allerdings gibt es Engpässe. Mit Kriegsbeginn am 24. Februar sind die Zahlen der COVID-19-Erkrankungen auf null gefallen. Aber nicht, weil die Pandemie plötzlich zu Ende ging, sondern weil die Testungen um 90 Prozent zurückgingen. In Kiew nehmen im Spätsommer 2022 die COVID-19-Fälle in den Krankenhäusern wieder zu. Aber auch andere Infektionskrankheiten wie Hepatitis, HIV und Tuberkulose sowie chronischen Erkrankungen werden nicht mehr ausreichend behandelt.
MSF versucht, überall dort zu unterstützen, wo Lücken sichtbar werden, und unsere Hilfe gebraucht wird. Mit hunderten mobilen Klinik-Einsätzen nahe der Frontlinie oder während der ersten Monate in den U-Bahn-Schächten in Charkiw. Vor allem die Behandlung chronischer Erkrankungen und psychosozialer Beschwerden kommt zu kurz.
In Zusammenarbeit mit der ukrainischen Staatsbahn haben wir einen medizinischen Zug auf den Weg gebracht, der verletzten Patienten in westlichen Landesteilen die notwendige Behandlung ermöglicht. MSF baute dafür Personenwagen zu medizinischen Abteilen um. Dieser große Eisenbahnkrankenwagen ermöglicht es den Ärzten und Pflegenden, auch schwerkranke Patienten, die Sauerstoff oder eine intensivmedizinische Behandlung benötigen, unterwegs zu versorgen. Somit können Krankenhäuser in oder nahe der aktiven Kriegsgebiete Betten freimachen, um neue Verwundete aufzunehmen. Seit Beginn des Projekts am 31. März 2022 konnte der medizinische Evakuierungszug in 80 Fahrten über 2.600 Kranke transportieren, davon sind 43 Prozent akute Trauma und zehn Prozent Intensiv-Patienten.
Unser Team besteht aus 800 ukrainischen und internationalen Mitarbeitenden. Ein weiteres Projekt haben wir seit Juni in enger Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Sozialpolitik begonnen, um demente, behinderte und bettlägerige Menschen aus ihren spezialisierten Institutionen zu evakuieren. Diese liegen in der Nähe der Frontlinie, daher besteht eine direkte und unmittelbare Bedrohung durch Granatenbeschuss oder das Fortschreiten der Bodenkämpfe. Hinzu kommen der Mangel an Strom, Heizung, Wasser- und Lebensmittelversorgung, die durch den Krieg und den Winter bedingt sind. Vor einer Evakuierung der Betroffenen im Donbass und in der Region Saporischschja führen wir eine individuelle medizinische und psychiatrische Untersuchung durch, einschließlich der Einwilligungsfähigkeit. Dies ist eine komplexe Herausforderung, da diese Menschen auf den meist zweitägigen Transport gut vorbereitet und beim Wechsel der Unterkunft auch psychologisch unterstützt werden müssen. Nach einem festgelegten medizinischen Protokoll werden die Patienten mit einem Krankenwagen zu unserem medizinischen Zug gebracht, der sie dann in westukrainische Regionen transportiert. Mit Ambulanzfahrzeugen werden sie anschließend in Pflegeeinrichtungen gebracht, wo wir sie einen weiteren Monat lang betreuen. Über 120 dieser Evakuationen haben wir bisher durchgeführt.
Frühe Physiotherapie für Amputierte
Eine der größten Nöte sind die unzähligen Kriegsverletzungen, tausende Menschen mit Amputationen bedürfen dringender und umfassender Unterstützung. Neben der Kriegschirurgie sind das frührehabilitatorische Maßnahmen und eine psychologische Behandlung. Eine moderne Physiotherapie wurde in der Ukraine zwar 2015 eingeführt, aber erst in diesem Jahr umgesetzt. Bisher war es üblich, die Patienten nach mehrwöchigen chirurgischen Behandlungen in Sanatorien zu verlegen, wo sie dann weitere Wochen stationär mit Hydrotherapie, Elektrostimulation und Massagen ein standardisiertes Programm absolvierten.
MSF arbeitet inzwischen mit zwei großen Kliniken in Kiew und Winnyzja zusammen, nachdem wir zuvor monatelang Kontakte geknüpft und Vertrauen aufgebaut haben. Unser Ansatz ist, nach wissenschaftlichen Erkenntnissen ab der zweiten Woche nach Akuttrauma mit frühen und mit speziell angepassten individuellen Behandlungen Patienten gemäß ihrer Verletzungsmuster zu helfen, inklusive Vor- und Nachbereitung bei Prothesenversorgung. Mittlerweile konnten unsere Teams über siebenhundert Sitzungen durchführen, mit guten Ergebnissen.
Das Schlimmste: Er durfte nicht schreien
Einer dieser Patienten ist Timofej, ein 27-jähriger Soldat, der gut englisch spricht und mir gerne und offen Auskunft gibt. Er war Ende Juni in der Nähe von Cherson an einem Flusslauf unterwegs, als er kurz vor Mitternacht auf eine Landmine trat. Zuerst empfand er keinen Schmerz, sackte aber zusammen. Wegen der Dunkelheit konnte er das Ausmaß seiner Verletzung nicht erkennen, aber seine Unterschenkel nicht mehr spüren. Dann schossen die Schmerzen ein und er merkte, wie er Blut verlor und schnell etwas tun musste, um nicht zu verbluten. Timofej hatte Tourniquets zum Abbinden von Gliedmaßen im Rucksack, aber weil auch seine Hände verletzt waren, konnte er sie nicht anlegen. Ein Kamerad half ihm, dann musste er stundenlang warten, bis er geborgen wurde. Das Schlimmste war für ihn, so berichtet er mir, dass er nicht schreien durfte. Das hätte die feindlichen Truppen auf sie aufmerksam gemacht. Später lehnte er Schmerzmittel ab, weil er sein Bewusstsein nicht verlieren wollte. Der junge Mann verlor sein linkes Bein, das rechte wurde schwer verletzt. Dennoch erinnert er sich an jede Sekunde, seit er auf die Mine trat.
Ein anderer Patient ist Anatolie, der zunächst unverletzt wirkt. Er ist 32 Jahre alt. Die letzten sechs Monate war er pausenlos an der Front, von seiner 120-köpfigen Truppe haben nur 13 überlebt, zudem verlor er zwei Brüder und vier Onkel und viele seiner Freunde. Wann und wie genau er verletzt wurde, daran kann er sich nicht erinnern, sein Rücken zeigt Narben von Splitterverletzungen. Schlimmer als diese sind seine furchtbaren Schmerzen am gesamten Körper, er kann nicht mehr schlafen. Auch unsere Physiotherapeuten sind ratlos, jede kleinste Berührung tut ihm weh, die mit den äußeren Verletzungen nicht erklärbar sind. Hier drücken sich vor allem die seelischen Traumatisierungen aus.
Seit Oktober beschädigen unzählige Bombenangriffe die ukrainische Infrastruktur massiv, die Strom- und Wärmeversorgung bricht vielerorts zusammen und erschwert das Überleben der Menschen im Winter. Das gilt auch für die Krankenhäuser, die auf Generatoren angewiesen sind, die überall fehlen.
Mitte November erreichten MSF-Teams als erste die von ukrainischen Truppen zurückeroberte Stadt Cherson und konnten innerhalb einer Woche über 600 medizinische Konsultationen durchführen, besonders Menschen mit chronischen Erkrankungen sind betroffen. Und weil auch die Psychiatrische Klinik schwer getroffen und von der Energieversorgung abgeschnitten wurde, half MSF, die 400 Kranken in Bussen und mit der Bahn in Einrichtungen entfernt von der Frontlinie zu evakuieren.
Anatolie und Timofej haben ihre schweren Verletzungen überlebt, wenn auch knapp. Für die künftigen Opfer dieses Krieges bleibt nur die Hoffnung, dass irgendwann Frieden möglich wird. Und auch wenn ein Ende dieses grausamen Krieges nicht abzusehen ist, die Hoffnungen auf eine Friedenslösung sollten nicht begraben werden.