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Praxis

Second Victim: Ärztekammer bietet Hilfe an

14.07.2023 Seite 21
RAE Ausgabe 8/2023

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 8/2023

Seite 21

Das Spektrum der Belastungen für Ärzte ist groß. Es reicht von Patientenschicksalen über Gewalterfahrungen bis hin zu Behandlungsfehlern. © Robert Kneschke/stockadobe.com
„Sprechen über das, was belastet, tut grundsätzlich gut! Seit Generationen ist bekannt, dass das ,sich von der Seele reden‘ die Psyche entlastet.“ Dr. Stefan Spittler weiß, wovon er spricht. Der Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie steht seit dem vergangenen Jahr im Auftrag der Ärztekammer Nordrhein als Ansprechpartner für Ärztinnen und Ärzte zur Verfügung, die Entlastung oder Hilfe bei belastenden oder traumatisierenden Erfahrungen im Beruf suchen. 

von Thomas Gerst

Dr. Spittler kann mittlerweile bereits auf eine Vielzahl von Fällen in den vergangenen Monaten zurückschauen. Im Durchschnitt erreiche ihn etwa alle zehn Tage der Anruf einer Kollegin oder eines Kollegen, die oder der sich durch die berufliche Tätigkeit extrem belastet fühle, erläutert er im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt. Das Spektrum der Fälle, mit denen sich Betroffene anonym bei ihm meldeten, sei recht groß. Da gebe es zum Beispiel Kollegen, die sich durch die schweren Schicksale ihrer Patienten in der eigenen psychischen Erlebnisfähigkeit erheblich beeinträchtigt fühlten; andere seien von Patienten oder deren Angehörigen in der Praxis massiv verbal und/oder physisch bedroht worden und könnten zum Beispiel seitdem bei Patientenkontakten aus Angst nicht mehr auf die  Anwesenheit einer Mitarbeiterin verzichten; leitende Ärztinnen und Ärzte erlebten die Kommunikation mit der Geschäftsführung im Spannungsfeld zwischen ärztlichem Handeln und Wirtschaftlichkeit als extrem belastend. Dr. Spittler nimmt dabei seine Kolleginnen und Kollegen oft als Einzelkämpfer wahr, die nicht dazu neigten, sich zum Beispiel im Kollegenkreis über Vorfälle dieser Art auszutauschen. „Es besteht oft die Ansicht, selbst damit fertig werden zu müssen und unprofessionell zu sein, wenn man Unterstützung erfragt oder benötigt.“
 
Für den Psychiater und Psychotherapeuten besteht die „erste Hilfe“, die er in diesen Fällen am Telefon leisten kann, zunächst darin „nur“ zuzuhören. Oft sei es für die Anrufer sehr wichtig, dass „einfach mal“ jemand ansprechbar ist. Häufig helfe bereits allein das. Zudem könne er bei diesen Gesprächen den Austausch anbieten über Erfahrungen, die von ihm selbst oder anderen in den angesprochenen Situationen gemacht worden seien, erklärt Spittler. Diese Intervention vergleicht er mit einem Peer-Review-Prozess: „Hier ist ein Erfahrener, der sich mit Betroffenen austauscht.“ In der Regel reichten schon zwei bis drei Telefonate mit den betroffenen Ärzten aus. Als Rückmeldung komme bei ihm oft an: „Es tut gut, dass wir uns einmal aussprechen konnten.“

Christa Bartels und Dr. Christiane Groß vom Vorstand der Ärztekammer Nordrhein und gemeinsame Vorsitzende des ÄkNo-Ausschusses „Ärztegesundheit“ haben sich nach langjähriger Befassung mit dem Thema für die Einrichtung des Hilfsangebots bei der Ärztekammer Nordrhein stark gemacht. „Ich bin sehr froh, dass dieses Angebot so gut angenommen wird“, sagt Christa Bartels, Fachärztin für Nervenheilkunde und Ärztliche Psychotherapeutin. Wichtig erscheint es ihr, diese Möglichkeit einer anonymen Krisenintervention noch einmal allen Kollegen in Erinnerung zu rufen.

Bisher nutzten dieses Angebot insbesondere diejenigen Ärztinnen und Ärzte, die nach einer traumatischen Erfahrung in ihrer beruflichen Tätigkeit belastet waren. Auch in Verbindung mit einem Behandlungsfehlervorwurf kann diese psychische Unterstützung für Kolleginnen und Kollegen oft hilfreich und entlastend sein. Diesen Ärzten in Not müsse deutlich vermittelt werden, dass das Angebot einer von der Ärztekammer bereitgestellten, auf Wunsch auch anonymen Krisenintervention nichts mit einer juristischen oder berufsrechtlichen Bewertung des Geschehenen zu tun hat. Es gehe hier nicht um Klärung der Schuldfrage, betont Bartels.
 

Notärzte besonders betroffen

Wie dringend notwendig auch hierzulande die Schaffung von geeigneten Interventionsmöglichkeiten ist, zeigt eine aktuelle Studie im International Journal of Environmental Research and Public Health (2023, 20 [5], 4267). Bei einer Befragung, an der 401 Notärzte in Deutschland teilnahmen, gab mehr als die Hälfte (213/53,1 %) an, schon mindestens einmal mit einem Vorfall, sei es ein eigener Fehler oder ein unerwartet negativer Behandlungsverlauf, konfrontiert gewesen zu sein, der sie als Second Victim belastet habe. Bei vielen der Betroffenen (66/31 %) habe es länger als einen Monat gedauert, bis sie über das belastende Ereignis hinweggekommen seien, 24 Betroffene hatten sich zum Zeitpunkt der Befragung noch nicht davon erholt. Die Studie zeige, schreiben die Autoren, dass es insbesondere in der notärztlichen Versorgung häufig zu Second-Victim-Ereignissen komme. Viele der Befragten hätten aber keine Unterstützung gesucht oder erhalten, um das Vorgefallene besser verarbeiten zu können.

Wenn Patienten zu Schaden kommen

Ein Fehler, insbesondere wenn er zur Schädigung des Patienten führt, sei mit das Schlimmste, was einem Arzt passieren kann, sagt Stefan Spittler, der auch in solchen Fällen als Ansprechpartner zur Verfügung steht. Er weist auf mögliche Folgen für den Arzt hin: „Passiert so ein Fehler, hat der Arzt zunächst einmal das große Problem, wieder in einen normalen Arbeitsrhythmus zu kommen. Es dauert oft Monate, bis man wieder zu der eigentlich erforderlichen Lockerheit bei der Ausübung des Berufs kommt.“ Im Gespräch würde er betroffenen Kollegen verdeutlichen, dass eine solche Reaktion völlig normal sei, und gleichzeitig betonen, wie wichtig in dieser Situation eine professionelle Begleitung oder ein regelmäßig verfügbarer Ansprechpartner ist, um weiter den Belastungen des Berufsalltags gerecht werden zu können.

Auch Dr. Peter Kaup, Vorsitzender der Kreisstelle Oberhausen und ehrenamtliches Mitglied in der Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler (GAK) der Ärztekammer Nordrhein, weiß um die Folgen eines Behandlungsfehlers oder eines Behandlungsfehlervorwurfs. „Die Gefahr ist groß, dass der betroffene Arzt sich fragt, ob er überhaupt für den Job geeignet ist“, betont Kaup gegenüber dem Rheinischen Ärzteblatt. Grundsätzlich wichtig sei zunächst einmal die Akzeptanz, dass Fehler passieren können. Das Selbstverständnis vieler Ärzte sei aber immer noch von Perfektionismus geprägt. „Und dann ist man auf einmal nicht perfekt, hat möglicherweise einen Schaden hinterlassen, der nicht wieder gut zu machen ist.“ Es dürfe aber nicht dazu kommen, warnt Kaup, dass Ärzte nach einem Fehler den Beruf aufgeben, weil sie mit diesem Umstand nicht klarkommen. „Dann verlieren wir die Besten.“ Grundsätzlich ist Kaup der Ansicht, dass Ärzte auf die Situation nach einem Behandlungsfehler oder Behandlungsfehlervorwurf besser vorbereitet werden sollten. Für ihn gehört das Üben dieser Notfallsituation als fester Bestandteil in Aus- und Weiterbildung. Wie in anderen Berufen auch sollte es nach traumatischen Erfahrungen auch bei Ärztinnen und Ärzten selbstverständlich sein, dass es dann ein geeignetes Hilfsangebot gibt. „Diejenigen, die sich um die Gesundheit anderer kümmern, sollten sich auch um ihre eigene Gesundheit kümmern“, sagt der Allgemeinarzt.

Zudem sei dabei auch das Reden mit den Patienten nach erfolgten Behandlungsfehlern sehr wichtig, betonen Kaup wie auch Bartels. „Natürlich ist es immer gut, wenn man offen darüber spricht“, merkt Spittler dazu an. Es müsse unbedingt der Eindruck vermieden werden, es solle etwas vertuscht werden. Auch die deutliche Kommunikation darüber, wie sehr auch der Verursacher selbst (die Ärztin/der Arzt) von dem Vorfall betroffen sei, sei für denjenigen, der den Fehler erleiden musste, hilfreich. Oft trage dies auch dazu bei, spätere gerichtliche Auseinandersetzungen zu vermeiden. GAK-Mitglied Kaup geht davon aus, dass mit einer offenen Kommunikation auch viele der Fälle, die der Gutachterkommission vorliegen, gar nicht erst dort gelandet wären.

Wandel in der Kommunikation

Für Johannes Riedel, Vorsitzender der GAK und Präsident des Oberlandesgerichts a. D., hat sich in den Krankenhäusern in den vergangenen Jahren in Bezug auf das Kommunikationsverhalten nach möglichen Behandlungsfehlern ein Wandel zum Positiven vollzogen. „Früher war man der Ansicht, dass man ohne Abstimmung mit dem Haftpflichtversicherer überhaupt keine Erklärungen abgeben dürfe – schon gar nicht, wenn dies in die Nähe eines Schuldeingeständnisses kam.“ Heute werde aber anders damit umgegangen. Und auch für Riedel sind sachverhaltsbezogene, wahrheitsgemäße Angaben gegenüber betroffenen Patientinnen und Patienten – auch wenn etwas nicht richtig gelaufen sei – angezeigt. Die Beurteilung und Regelung von Ersatzansprüchen muss aber der Versicherung überlassen bleiben.
 
Fragt man bei größeren Kliniken nach, wird auf die geltenden Empfehlungen einer offenen Kommunikation mit Patienten nach einem möglichen Behandlungsfehler verwiesen. So gebe es etwa bei den Städtischen Kliniken Köln eine interne Richtlinie „Umgang mit besonderen Vorkommnissen, insbesondere Behandlungsfehlervorwürfe“ mit Empfehlungen zum Umgang mit Patienten und Bezugspersonen; diese sei auf Grundlage des von der Ärztekammer Nordrhein herausgegebenen Leitfadens „Kommunikation im medizinischen Alltag“ entwickelt worden. Auch heißt es aus den befragten Einrichtungen durchgängig, dass es Hilfsangebote für Ärztinnen und Ärzte nach einer traumatischen Erfahrung gebe, mit denen länger andauernden psychischen Folgen bei der weiteren Berufsausübung entgegengewirkt werden solle. Ob und wie dies in der Praxis umgesetzt wird, lohnte eine eingehendere Untersuchung.
 
Im niedergelassenen Bereich fehlt es an einer festen Verankerung von Hilfsangeboten für Second Victims – die nach traumatischen Erfahrungen extrem belasteten Ärztinnen und Ärzte. Stefan Spittler kann sich auch nicht daran erinnern, dass bei den von ihm geleiteten Balint-Gruppen jemals psychische Probleme nach schwierigen oder fehlerhaften Behandlungsverläufen zur Sprache gebracht worden seien. Für ihn und den Ad-hoc-Ausschuss „Ärztegesundheit“ ist es daher enorm wichtig, mit dem Hilfsangebot der Ärztekammer Nordrhein die Betroffenen zu erreichen.

Hilfsangebot für Ärztinnen und Ärzte

Unter Wahrung der Anonymität können Ärztinnen und Ärzte nach traumatisierenden Erfahrungen im Beruf ein Hilfsangebot der Ärztekammer Nordrhein in Anspruch nehmen. Mit Dr. Stefan Spittler, Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, steht den Betroffenen für einen telefonischen Austausch ein kompetenter Ansprechpartner zur Verfügung. Sollte sich im Telefongespräch weiterer therapeutischer Behandlungsbedarf herausstellen, wird auf geeignete Ansprechpartner verwiesen.
Erreichbar ist er unter der Telefonnummer 0172 2 425122 oder per Mail dr.stefanspittler(at)t-online.de.