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Herausforderungen der Wunschmedizin

20.03.2023 Seite 27
RAE Ausgabe 4/2023

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 4/2023

Seite 27

"Normal ist nicht optimal": Die Zahl der Schönheitsoperationen ohne medizinische Indikation steigt. © Ivan Balvan/istockphoto.com
Brustvergrößerung, Faltenbehandlung, Fettabsaugen, Psychopharmaka zur Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit – die Methoden der Selbstoptimierung sind vielfältig und noch nie zuvor hat es so viele Frauen und Männer gegeben, die danach streben, in jeder Lebenslage „das Beste“ aus sich herauszuholen. Entsprechend steigt die Nachfrage bei Schönheitsoperationen und anderen ästhetischen Eingriffen. Für Ärztinnen und Ärzte stellt sich zunehmend die Frage, was medizinethisch und berufsrechtlich noch vertretbar ist. 

von Heike Korzilius

Aussehen wie Barbie und Ken oder wie der Eidechsenmann mit gefeilten Zähnen, gespaltener Zunge und tätowierten grünen Hautschuppen im Gesicht? Das sind sicherlich extreme Beispiele dafür, wie weit Menschen (und deren Ärztinnen und Ärzte) bereit sind zu gehen, um sich individuellen oder gesellschaftlichen Idealbildern anzunähern. Doch auch der Trend, sich weniger drastischen ästhetisch-plastischen Eingriffen zu unterziehen, um Körperkonturen zu verschlanken oder zu straffen und Gesichter zu modellieren und von Falten zu befreien, nimmt bei Frauen und Männern zu. 


So ist die Gesamtzahl der ästhetischen Eingriffe, die die 121 Mitglieder der Vereinigung der Deutschen Ästhetisch-Plastischen Chirurgen (VDÄP) 2021 vorgenommen haben, im Vergleich zum Vorjahr um rund 15 Prozent gestiegen, von 81.516 auf 93.853. Der Verband führt diese Entwicklung unter anderem auf die Lockdowns infolge der Coronapandemie zurück. Inzwischen äußerten viele Patientinnen und Patienten den Wunsch, wieder so auszusehen wie vor Corona, heißt es dort. Spitzenreiter in der aktuellen Behandlungsstatistik der VDÄP sind Behandlungen im Gesicht mit Faltenunterspritzungen mit Botulinumtoxin (27.018 Eingriffe) sowie Behandlungen mit Hyaluron und Fillern (21.574 Eingriffe). An dritter Stelle stehen Fettabsaugungen (6.665 Eingriffe), gefolgt von Lippenkorrekturen (5.188 Eingriffe) und Brustvergrößerungen (4.759).

Körperliche oder auch geistige Selbstoptimierung sei nicht neu, aber sie werde immer mehr zum gesellschaftlichen Thema und gewinne an breiterer Akzeptanz und Normalität, gerade in der jüngeren Generation, betonte auch der Präsident der Ärztekammer Nordrhein, Rudolf Henke. Er sprach zum Auftakt des Symposiums „Update Ethik: Selbstoptimierung – Ethische und juristische Implikationen“, das die Kammer Anfang Februar online veranstaltete. Die Folge sei eine zunehmende Anzahl an entsprechenden Behandlungen und Operationen, die ohne medizinische Notwendigkeit vorgenommen würden. „Das kann zu einer gewissen Bagatellisierung führen, wenn etwa Eltern ihren Kindern Konturkorrekturen zum 16. Geburtstag schenken“, warnte Henke und forderte Ärztinnen und Ärzte auf, gerade bei medizinisch nicht indizierten Eingriffen Patienten besonders umfassend über die Risiken aufzuklären.

Nicht jeder Arzt darf alles machen

An die ärztliche Ethik und die berufsrechtliche Verantwortung der Kolleginnen und Kollegen appellierte Bernd Zimmer, Vizepräsident der Ärztekammer Nordrhein. Es stelle sich die Frage, ob das alles ärztlich sei, was an Schönheitsoperationen und ästhetischen Behandlungen angeboten werde. Mit ihrer Weiterbildungsordnung habe die Ärzteschaft klargestellt, dass nicht jeder Arzt alles machen dürfe. „Das sollten alle Kolleginnen und Kollegen beherzigen, die sich diesen lukrativen Markt erschließen wollen“, erklärte Zimmer. Als Weiterbildungsqualifikationen mit Inhalten, die auch in der „Schönheitschirurgie“ zur Anwendung kommen, zählte er die Gebietsbezeichnungen plastische, rekonstruktive und ästhetische Chirurgie, Chirurgie mit dem Teilgebiet plastische Chirurgie, Hals-Nasen-Ohrenheilkunde oder Mund-Kiefer- und Gesichtschirurgie mit der Zusatzbezeichnung plastische und ästhetische Operationen, Haut- und Geschlechtskrankheiten sowie Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Die Weiterbildung biete zusammen mit der entsprechenden Berufserfahrung das Rüstzeug für die ärztliche Tätigkeit, sagte Zimmer. Das gelte auch für die Schönheitschirurgie, die als reine Wunschmedizin abzugrenzen sei von plastisch rekonstruktiven Eingriffen beispielsweise bei Verbrennungen, schweren Verletzungen oder Fehlbildungen, die eine medizinische Indikation hätten.

Zimmer kritisierte zudem, dass insbesondere bei gewerblichen ästhetischen Angeboten die psychische Disposition der Patientinnen und Patienten vielfach nicht ausreichend berücksichtigt werde. Auch bei wunschmedizinischen Eingriffen oder Behandlungen müsse an oberster Stelle stehen, das Vertrauen der Patienten nicht zu missbrauchen und keine falschen Erwartungen zu wecken.

Selbstoptimierung oder Enhancement gehöre ganz klar in den Bereich der wunscherfüllenden Medizin, für die es keine medizinische Indikation gebe, betonte auch Professor Dr. Dominik Groß, Leiter des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen. Darunter fielen ästhetisch-plastische Eingriffe ebenso wie Körpermodifikationen („Eidechsenmann“), -mutilationen (Zahnfeilungen, Lippenteller) oder Piercings. Der Trend zur Selbstoptimierung ist nach Auffassung von Groß insbesondere von drei gesellschaftlichen Entwicklungen beeinflusst: Individualisierung, Wettbewerb und Medikalisierung. Der Wunsch nach Selbstverwirklichung und Unverwechselbarkeit sei in der modernen Gesellschaft an die Stelle des Gemeinschaftssinns getreten. Zugleich übten Peer-Groups Druck auf den Einzelnen aus, dem Gruppenstandard zu entsprechen, sei es in punkto Leistungsfähigkeit oder Aussehen. „Man lässt sich dann ein Zungenpiercing machen, weil alle anderen auch eins haben“, so Groß. Dazu komme das Phänomen, eigentlich physiologische (Alters-)Erscheinungen als behandlungsbedürftig anzusehen und entsprechende medizinische Therapieangebote zu suchen.

Ständige Selbstvermessung

Den Zusammenhang zwischen Leistungsdruck und Selbstoptimierung in der Gesellschaft, stellte PD Dr. Anja Röcke, Soziologin und Assoziierte Forscherin am Centre Marc Bloch in Berlin, heraus. Dieser sei zwar nicht der alleinige, aber ein wichtiger Erklärungsfaktor, sagte sie. „Selbstoptimierung war noch nie so verbreitet. Noch nie waren mehr Möglichkeiten verfügbar“, erklärte Röcke und verwies auf Podcasts, Influencer in den sozialen Medien sowie einen nach wie vor wachsenden Markt an Ratgeberliteratur und Coachingangeboten, um die eigene physische, psychische und mentale Fitness zu optimieren. „Normal ist nicht optimal“, beschrieb sie den gegenwärtigen Ansatz, der auch die weltweit steigenden Zahlen an Schönheitsoperationen beeinflusse. „Wir erleben eine Veralltäglichung der Selbstvermessung“, sagte Röcke. Sie hob aber zugleich hervor, dass nicht alle Messinstrumente und Methoden ausschließlich der Selbstoptimierung dienten, die immer auf die Überbietung des Mittelwertes ziele. Instrumente wie zum Beispiel Fitnesstracker könnten durchaus auch zur gesundheitlichen Prävention genutzt werden.

Mit Grenzbereichen der ästhetischen Chirurgie befasste sich Professor Dr. Jutta Liebau, Chefärztin der Klinik für Plastische und Ästhetische Chirurgie am Florence-Nightingale-Krankenhaus Düsseldorf. Sie betonte, dass die Indikationsstellung zu ästhetischen Behandlungen immer gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten erfolgen müsse – und zwar nach ausführlicher Beratung und umfassender Risikoaufklärung. Dabei müssten auch Alternativen zu ästhetischen Eingriffen sowie Nebenwirkungen und Spätfolgen angesprochen werden. Es sei unerlässlich, dass die Patienten die Tragweite eines Eingriffes verstehen und vor allem eine realistische Erwartungshaltung entwickeln. Beim Wunsch nach einem ästhetischen Eingriff spielten immer auch Schönheitsideale eine Rolle, die über Hochglanzmagazine oder soziale Medien verbreitet würden. „Hier werden Bedürfnisse geweckt“, sagte Liebau. Manchmal müsse man daher als Ärztin oder Arzt auch „nein“ sagen zu einem Eingriff. Wie zuvor Kammervize Zimmer betonte Liebau, dass auch im Bereich der ästhetischen Chirurgie in jedem Fall der Facharztstandard einzuhalten sei.

Die Orientierung an körperlichen Schönheitsidealen ist das eine. Immer häufiger greifen Menschen aber auch zu geistigen Stimulanzien, um ihre Konzentrationsfähigkeit und ihre Leistungsfähigkeit zu erhöhen oder die eigene Stimmung aufzuhellen. Zum Einsatz kommen hier sowohl Psychopharmaka und Neurologika als auch illegale Drogen wie Speed, Crystal Meth oder Kokain. Eine Dienstleistungsgesellschaft erwarte, dass der Einzelne auch sein mentales Kapital ausschöpfe, sagte Professor Dr. Andreas G. Franke von der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit am Campus Mannheim. Er wies insbesondere auf die Schwierigkeit hin, die Prävalenz des Substanzgebrauchs zur geistigen Leistungssteigerung zu erheben. Sie hänge immer ab von der Art der Befragung und der Ehrlichkeit der Antwortenden. So liege beispielsweise je nach Fragetechnik der Gebrauch verschreibungspflichtiger psychoaktiver Substanzen oder Drogen zur Leistungssteigerung bei Chirurgen in Deutschland zwischen neun und 20 Prozent. Ähnliche Werte erzielten Befragungen bei anderen Gruppen höherer Angestellter. Dabei sei die Einnahme immer assoziiert mit Leistungsdruck im Beruf oder im Privatleben und mit dem Einkommen.

„Siebzig ist das neue sechzig“

Auf seinen (ärztlichen) Alltag brach Dr. Stefan Meier, Oberarzt der Klinik für Anästhesiologie des Universitätsklinikums Düsseldorf, das Thema Selbstoptimierung herunter. „Ich frage mich, welche Möglichkeiten ich in Anspruch nehmen möchte oder muss, um mit den körperlichen und geistigen Anstrengungen bis zur Rente fertig zu werden“, sagte Meier mit Blick auf das eigene Älterwerden. Wenn „siebzig ist das neue sechzig“ durch Anti-Aging-Angebote gestützt werde, wenn „besser leben“ gesellschaftlich, aber auch im ärztlichen Tun vor allem die Wiederherstellung und Beibehaltung eines aktiven, geistig und körperlich fitten Menschen sei, warum sollte man dann Selbstoptimierungsangebote nicht annehmen, fragte er. Wenn letztlich das Ziel vieler ärztlicher Bemühungen die Vermeidung von Seneszenz und Bedürftigkeit sei, seien Initiativen zur Selbstoptimierung dann nicht sogar zu begrüßen? Meiers Resümee: „Selbstoptimierung ist vor allem eine Frage des Menschenbildes.“

Handreichung für Patienten


Die Ärztekammer Nordrhein hat bereits 2019 eine Handreichung  „Schönheitsoperationen/Ästhetische Behandlungen“ für Patientinnen und Patienten herausgegeben. Neben der Empfehlung, sich über die eigenen Motive für ästhetische Eingriffe klar zu werden, informiert die Broschüre über ärztliche Qualifikationen sowie ärztliche Aufklärungs- und Sorgfaltspflichten. Sie bietet zudem eine Checkliste, die Patienten dabei unterstützen soll, im Vorfeld eines ästhetischen Eingriffs die Qualität der Behandlungsangebote einschätzen zu können.

Die Handreichung kann über die Homepage der Ärztekammer Nordrhein heruntergeladen
werden: www.aekno.de/schoenheitsoperationen