Vernetzung macht den Unterschied – unter diesem Motto fand am 27. Juli die digitale Fachtagung „Versorgung von schwer psychisch Erkrankten – das NPPV-Projekt“ statt. Im Zentrum der zusammen von der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KVNO) und dem Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) ausgerichteten Online-Veranstaltung standen kooperative und in Netzwerken organisierte Behandlungsmodelle nach dem Vorbild des Ende 2021 ausgelaufenen Innovationsfondsprojekts Neurologisch-Psychiatrische und Psychotherapeutische Versorgung, kurz NPPV.
von Thomas Petersdorff
Gemeinsam diskutierten die Teilnehmenden rund zwei Stunden lang über die Impulse und Erfahrungen aus dem erfolgreichen Projekt, an dem sich seit 2017 mehr als 14.000 Patientinnen und Patienten an 430 Praxisstandorten mit über 700 Ärztinnen und Ärzten sowie Psychologischen Psychotherapeutinnen und -therapeuten im Rheinland beteiligt haben. Hauptziel des Projektes NPPV war es, die Regelversorgung von schwer psychisch Erkrankten im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung zu verbessern – ein Ziel, darin kamen die Expertinnen und Experten der Runde schnell überein, das ohne Zweifel erreicht werden konnte. Schon bald wird das Projekt in die Regelversorgung übergehen: Ab Oktober greift die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) über die berufsgruppenübergreifende, koordinierte und strukturierte Versorgung insbesondere für schwer psychisch kranke Versicherte mit komplexem psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlungsbedarf (KSVPsych-RL), in der die zentrale Konzeption des Projektes NPPV fortgeführt wird.
Blaupause für patientenzentrierte Versorgung
Mit Blick auf deren Implementierung sagte Dr. Frank Bergmann, Vorstandsvorsitzender der KVNO: „Ich bin sehr optimistisch, was die Umsetzung der KSVPsych-Richtlinie angeht. Mit NPPV haben wir in Nordrhein den Grundstein dafür gelegt, eine Versorgungsrealität zu verabschieden, in der die fachärztliche und die psychotherapeutische Seite in der Behandlung psychisch erkrankter Menschen noch überwiegend getrennt voneinander operiert hatten. Bis zum Start des NPPV-Projekts handelte es sich hier um zwei Versorgungswelten, die im Laufe der Zeit zusammengewachsen sind und so das System für Hilfesuchende durchlässiger gemacht haben. Es ist nicht zu unterschätzen, dass wir mit dieser Kooperation einen großen Schritt nach vorne gegangen sind. Denn die Erfahrung lehrt, dass die gemeinsame Fallarbeit in vernetzten Strukturen die Netzwerkexpertise erheblich verbessert, was am Ende auf die Behandlungsqualität einzahlt. Dass uns dies in weiten Strecken erfolgreich gelungen ist, zeigt das Feedback der Patientinnen und Patienten – aber auch der Praxen, die bereits signalisiert haben, dass sie diese Versorgungsform unbedingt weiterführen wollen. Das sind sehr gute Vorzeichen für die Fortführung im Rahmen der KSVPsych-Richtlinie.“
Die positiven Auswirkungen des NPPV-Programms auf die Versorgung konnten auch Evaluationen nachweisen, die im Rahmen der Tagung vorgestellt wurden. Neben einer geringeren Zahl an Krankschreibungen konnte dabei eine Verbesserung der Lebensqualität bei den Patientinnen und Patienten belegt werden; auf ärztlicher beziehungsweise psychotherapeutischer Seite wurde die berufsgruppenübergreifende, strukturierte und IT-gestützte Arbeit mit hohen Zufriedenheitswerten bedacht.
Kosten sind kein K.-o.-Kriterium
Ein insgesamt positives Resümee zog auch der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), Professor Josef Hecken, der die Bedeutung des Projektes NPPV vor dem Hintergrund bestehender Defizite durch fehlende oder unzureichende Steuerung und Koordination in der Regelversorgung insbesondere psychiatrischer Patientinnen und Patienten hervorhob. Bisher sei der Versorgungszustand in der Behandlung schwer psychisch Kranker nicht optimal gewesen. Zwar verzeichne man ein breites und mehrere Hilfesysteme umfassendes Leistungsspektrum, allerdings sei die wechselseitige Abstimmung und Koordination der Einzelangebote nur gering ausgeprägt, was aufseiten der Patientinnen und Patienten immer wieder zu Problemen beim Zugang geführt habe.
Demgegenüber bewirkten NPPV und KSVPsych-Richtlinie eine deutliche Behandlungsintensivierung, die konsequent auf den Patienten fokussiere und dadurch geringere Abbruchquoten und mehr Kontinuität in der Versorgung von schwer psychisch Erkrankten nach sich ziehe. Vor diesem Hintergrund dürfe man die in der Evaluierung des IGES-Instituts benannten Mehrausgaben im Rahmen der Komplexversorgung auch nicht überbewerten: „Mögliche Kostensteigerungen sind für mich kein K.-o.-Kriterium“, so Hecken. „Wir werden keine Kostendeckungsmaßnahmen einführen, weil die avisierten Einsparungsziele nicht erreicht wurden. Der Fokus liegt nicht auf geringeren Kosten, sondern auf einer qualitativ hochwertigen Versorgung für schwer psychisch Erkrankte.“
Dieser Meinung war auch Dr. Bernhard Gibis von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). In Fragen der Behandlungsqualität sei die „Verbundidee“ der Komplexversorgung nach Vorbild des NPPV-Projekts respektive der G-BA-Richtlinie das Modell der Zukunft und könne als Blaupause für andere Krankheiten dienen, betonte Gibis. Voraussetzung sei, dass man den weiteren Verlauf des Programms eng begleite, um gegebenenfalls in einigen Punkten nachzubessern.
Dazu ergänzte Dr. Dominik von Stillfried, Zi-Vorstandsvorsitzender und Moderator der Veranstaltung: „Die Ergebnisse unterstützen die Ziele und Vorgaben der G-BA-Richtlinie. Zum einen belegt das Projekt, wie die Regelversorgung verbessert werden kann. Es zeigt, dass die koordinierte berufsgruppenübergreifende Versorgung sowohl für Erkrankte als auch für Behandelnde motivierende Wirkung hat. Das ist wichtig, denn die Evaluation weist darauf hin, dass die angestrebte Verbesserung gegenüber der Regelversorgung gar nicht so leicht ist. Darüber hinaus wird nahegelegt, dass bei der Umsetzung eine Intensivierung der Behandlung zu erwarten ist. Ehrgeizige Einsparziele konnten und können voraussichtlich nicht realisiert werden. Die Darstellung des Nutzens wird in der Begleitevaluation der Richtlinie daher genauer zu beleuchten sein. Ebenso sollte bei der Intervention und ihrer Evaluation künftig beachtet werden, wie Perspektiven der Patientinnen und Patienten sowie deren Angehöriger stärker berücksichtigt werden können.“
Die Aufzeichnung der Tagung unter anderem mit Professor Josef Hecken, Vorsitzender des G-BA, Professor Wolfgang Greiner, Sachverständigenrat Gesundheit, und Dr. Bernhard Gibis, KBV, kann auf der Website des Zi unter https://www.zi.de/veranstaltungen/zi-forum/27-juli-2022 eingesehen werden.
Thomas Petersdorff ist Referent im Bereich Presse und Medien der KV Nordrhein.