Im zweiten Weltkrieg, im Bosnienkrieg Anfang der 1990er-Jahre oder in bewaffneten Konflikten in Ruanda oder Uganda: In all diesen und vielen weiteren kriegerischen Auseinandersetzungen rund um die Welt, heute und seit jeher, ist sexualisierte Gewalt an Frauen und Mädchen Bestandteil des Krieges. So auch in der Ukraine, wo seit dem russischen Angriff Ende Februar Krieg herrscht. Das Rheinische Ärzteblatt sprach mit Dr. Monika Hauser, Gründerin und Vorstandsvorsitzende der Frauenrechtsorganisation Medica Mondiale, über die Ursachen und Folgen sexualisierter Kriegsgewalt.
RhÄ: Die Medien berichten von Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen gegen ukrainische Frauen und Mädchen durch russische Soldaten. Wie beurteilen Sie die Situation vor Ort?
Hauser: Es gibt mittlerweile mehrere Berichte von internationalen Menschenrechtsorganisationen und ukrainischen Frauenrechtsorganisationen, die Vergewaltigungen dokumentieren. Wir verfolgen diese Berichte mit großer Sorge. Gleichzeitig sind wir nicht überrascht. Aus 30 Jahren Erfahrung in Kriegs- und Konfliktkontexten wissen wir, dass jetzt die Gefahr sexualisierter Gewalt stark zunimmt.
RhÄ: Sexualisierte Kriegsgewalt gibt es seit jeher und in allen kriegerischen Auseinandersetzungen. Was ist deren Ziel?
Hauser: Es gibt nicht die eine Form sexualisierter Kriegsgewalt. Sexualisierte Kriegsgewalt wird in unterschiedlichen Formen und Situationen ausgeübt. Zum einen nimmt in Kriegen auch die nicht-organisierte Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu, weil die öffentliche Sicherheit eingeschränkt ist und Frauen in Abhängigkeiten geraten.
Sexualisierte Kriegsgewalt kann zum anderen strategisch eingesetzt werden, wie es während der Genozide in Bosnien und Herzegowina und Ruanda geschehen ist – mit dem Ziel, ganze Bevölkerungsgruppen zu terrorisieren und auszulöschen. All diese Gewaltformen haben schwerwiegende Folgen für die Betroffenen, ihr Umfeld und die gesamte Gesellschaft.
RhÄ: Verstehe ich das richtig: Männer benutzen Frauen, um ihre Überlegenheit gegenüber anderen Männern zu demonstrieren? Sexualisierte Gewalt ist also sozusagen nur Mittel zum Zweck?
Hauser: Wenn sexualisierte Gewalt strategisch eingesetzt wird, kann sie ein Symbol sein, eine Botschaft an den Gegner, der „seine“ Frauen nicht schützen kann. Sexualisierte Gewalt als Waffe ist Symptom einer zutiefst patriarchalen Gesellschaft, in der tradierte Rollenbilder und toxische Wertvorstellungen vorherrschen.
Allerdings sind es nicht nur gegnerische Soldaten, die vergewaltigen, sondern auch Nachbarn, Familienangehörige, Polizisten, Fluchthelfer, Personal von Hilfsorganisationen und Zivilisten. Deswegen verengt es den Blick, die Frage nach der Motivation der Vergewaltigungen auf einen kriegsstrategischen Aspekt zu reduzieren.
RhÄ: Welche psychischen und physischen Folgen hat sexualisierte Kriegsgewalt für die betroffenen Frauen?
Hauser: Heute wissen wir einiges darüber, welche massiven und langanhaltenden gesundheitlichen, psychischen und sozialen Folgen sexualisierte Gewalt für Betroffene haben kann und wie sie deren Leben beeinträchtigt. Überlebende werden stigmatisiert und ausgegrenzt.
Zu den körperlichen Folgen zählen chronische Unterleibsschmerzen, ungewollte Schwangerschaften, Geschlechtskrankheiten und Infertilität. Sehr viele Betroffene leiden unter langwährenden psychischen Erkrankungen und Folgestörungen: Forschungen zeigen, dass 50 bis 60 Prozent eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickeln und gerade diese Traumata zur Chronifizierung tendieren, auch aufgrund der gesellschaftlichen Stigmatisierung. Unbearbeitet können sich solche Traumata auf nachfolgende Generationen übertragen.
RhÄ: Was brauchen diese Frauen, um ihre traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten?
Hauser: Überlebende von sexualisierter Gewalt brauchen kostenlose, flächendeckende Angebote, sowohl für die gynäkologische und medizinische Versorgung als auch für die psychosoziale Begleitung. Diese muss traumasensibel ausgerichtet sein. Doch in vielen Ländern, so auch in Deutschland, ist das Gesundheitspersonal überlastet und zudem viel zu selten im traumasensiblen Umgang fortgebildet. Gleichzeitig ist es für Betroffene wichtig, dass von offizieller Seite anerkannt und auch ausgesprochen wird, dass es sich bei Vergewaltigungen um eine schwere Menschenrechtsverletzung handelt, die gesellschaftlich nicht toleriert werden darf und strafrechtlich verfolgt werden muss. "
"Sexualisierte Gewalt als Waffe ist Symptom einer zutiefst patriarchalen Gesellschaft, in der tradierte Rollenbilder und toxische Wertvorstellungen vorherrschen."
RhÄ: Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verabschiedete im Oktober 2000 die Resolution 1325 und formulierte damit erstmals den Schutz von Frauen und Mädchen vor sexualisierter Gewalt als Ziel. Mit der UN-Resolution 1820 gilt sexualisierte Gewalt seit 2008 als Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit und soll strafrechtlich verfolgt werden. Sind die Resolutionen also nur Schall und Rauch?
Hauser: Die UN-Resolution 1325 war die Initialzündung für eine internationale Politik, die vor 20 Jahren erstmals offiziell anerkannte, dass Frauen und Mädchen eine entscheidende Rolle für Frieden und Sicherheit spielen. Die Resolution ist das Ergebnis jahrelanger internationaler feministischer Bemühungen und ein Erfolg.
Doch trotz dieses bahnbrechenden Erfolgs tun Regierungen weltweit noch immer zu wenig für konkrete Verbesserungen: Das heißt, es gibt diese Resolution, sie enthält viele wichtige Aspekte, unter anderem den Schutz von Frauen und Mädchen vor sexualisierter Kriegsgewalt. Die Resolution wurde auf eine ganze Agenda „Frauen, Frieden und Sicherheit“ erweitert. Aber bisher ist diese Agenda für die meisten Frauen und Mädchen, die weltweit in Kriegsgebieten leben, eine rhetorische Absichtserklärung geblieben statt gelebter Realität.
Auch der Bundesregierung fehlte lange Zeit der politische Wille, die Resolution 1325 in nationales Recht umzusetzen. Bis heute müssen konkrete Fortschritte von Frauenrechtsaktivistinnen und -aktivisten hart erkämpft werden, etwa wenn es um die Mitwirkung von Frauen an Friedensverhandlungen geht.
RhÄ: Unter den Hashtags #aufschrei und #metoo gab es auch in Deutschland Debatten über Geschlechter(un)gerechtigkeit. Warum sind auch im 21. Jahrhundert in Deutschland Frauen noch immer benachteiligt? Warum sind Sexismus und sexualisierte Gewalt an Frauen noch immer allgegenwärtig?
Hauser: Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen sind Ausdruck ungleicher Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen. Die Ungleichbehandlung fußt dabei auf Geschlechterrollen und -klischees, die in patriarchalen Traditionen verwurzelt sind. Deswegen ist die wirkungsvollste Arbeit gegen sexualisierte Gewalt in Kriegszeiten Aufklärung, Sensibilisierung und die Verankerung von Frauenrechten in Friedenszeiten. Mit unseren Partnerorganisationen setzen wir genau dort an.
RhÄ: Medica Mondiale kämpft für das Ende sexualisierter Gewalt. Glauben Sie, dass Sie dieses Ziel irgendwann erreichen?
Hauser: Ohne diese Hoffnung auf Veränderung könnten wir unsere Arbeit nicht machen. Und in unserer täglichen Arbeit sehen wir so viele Fortschritte und eine große solidarische Kraft: In einigen Ländern konnten unsere Partnerinnen erreichen, dass es eine Rente für Überlebende von Kriegsvergewaltigungen gibt, ähnlich der Rente für Veteranen. In einigen Regionen verbünden sich Aktivistinnen und Aktivisten über Ländergrenzen hinweg, um effektiver gegen Gewalt an Frauen vorgehen zu können. Keiner dieser Fortschritte wurde allein erzielt. Wir brauchen eine breite zivilgesellschaftliche Bewegung, die Frauenrechte einfordert und sich der Gewalt entgegenstellt.
Das Interview führte Jocelyne Naujoks.
Dr. Monika Hauser ist Gynäkologin und Gründerin der Frauenrechtsorganisation Medica Mondiale. Medica Mondiale unterstützt Frauenrechtsorganisationen in 13 Kriegs- und Nachkriegsgebieten, unter anderem im Kosovo, dem Nordirak, Liberia und der Demokratischen Republik Kongo. Seit Mai 2022 bietet Medica Mondiale Trainings für Frauenrechtsorganisationen in der Ukraine und den Nachbarländern an, die gewaltbetroffene Frauen unterstützen.
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