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Das Krankenhaus von morgen

23.08.2022 Seite 16
RAE Ausgabe 9/2022

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 9/2022

Seite 16

Künstliche Intelligenz (KI), Virtuelle Realität (VR) und eine bessere Vernetzung durch die elektronische Patientenakte – seit 2015 integriert das Universitätsklinikum Essen im Projekt Smart Hospital digitale Anwendungen in den Klinikalltag. Doch welche Veränderungen bringen digitale Technologien in der Medizin gegenüber ihren analogen Pendants? 

von Marc Strohm

Die Operation führt der Arzt mit einer VR-Brille aus. Durch die Brille erkennt er, wie sich die Lage des Lymphknotens in der Axilla bei den Bewegungen des Patienten verändert, sodass er den ersten Schnitt und die OP-Technik entsprechend anpassen kann. Sprachbefehle erleichtern die Dokumentation. Mit einfachen Anweisungen wie „Foto machen“ oder „Video starten“ kann er seine ausgeführten Schritte mit der Brille aufzeichnen. „Als ich meinem Kollegen im OP zugeschaut habe, fühlte ich mich wie in einer Science-Fiction-Serie“, erzählt Dr. Anke Diehl, Chief Transformation Officer am Universitätsklinikum Essen, im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt. Doch die VR-Brille im OP ist nicht die einzige Anwendung, die den dortigen Klinikalltag verändert. Künstliche Intelligenz und das Streben danach, Stift und Papier durch digitale Anwendungen zu ersetzen, charakterisieren das Smart Hospital. Begonnen hat dieser Weg Diehl zufolge bereits im Jahr 2015, als Professor Dr. Jochen Werner neuer ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender der Universitätsmedizin Essen wurde, der die Transformation wesentlich vorangetrieben hat. Auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Doppelabschlüssen in Medizin und Informatik hätten dazu beigetragen, dass die Ärztinnen und Ärzte heute auf eine Vielzahl an digitalen Anwendungen zurückgreifen könnten, die den Klinikalltag erleichterten. 
 

Künstliche Intelligenz im Einsatz 

Teil der Transformation zum Smart Hospital ist aber auch ein Kulturwandel. Das Universitätsklinikum will weg von strengen Hierarchien. „Man kann nicht innovativ sein und neue Dinge erfinden, einführen und testen, wenn man sich nicht auf Diskussionen einlässt“, sagt Diehl. 

Entsprechend arbeiten im vom Land geförderten KI.NRW-Flagship-Projekt SmartHospital.NRW Akteure aus Wissenschaft und Wirtschaft unter Diehls Führung in einem Konsortium zusammen, um schwerpunktmäßig den Einsatz von KI im Krankenhaus zu erforschen, die dann in Essen erprobt wird. „Dazu zählen die intelligente Textverarbeitung, ein automatischer Arztbriefgenerator oder auch Sprachsysteme und Gesundheitsdatenanalysen“, erklärt Dario Antweiler, Senior Data Scientist am Fraunhofer IAIS, dem zweitgrößten Konsortialpartner. Künstliche Intelligenz in der Textverarbeitung könne in naher Zukunft Entlassbriefe verfassen und steigere durch das kontinuierliche Feedback von Ärztinnen und Ärzten die Qualität der produzierten Texte, sagt er vorher. Spracherkennung erweise sich bei Operationen als nützlich. Denn während eines Eingriffs habe der Chirurg selten eine Hand frei, sodass zur Bedienung eines Medizingerätes in der Vergangenheit eine zusätzliche Person assistieren musste. Im Rahmen der Diagnostik werde KI überwiegend in der dermatologischen und radiologischen Bilderkennung eingesetzt, erläutert Antweiler weitere Möglichkeiten der digitalen Technik. Die KI werte dabei verschiedene Bilder aus und vergleiche diese mit ihr bekannten Befunden, um Ärztinnen und Ärzte bei der Diagnose zu unterstützen. „Bei Erkrankungen, die sehr selten vorkommen, nur unscharf definiert oder auch für Experten schwer zu erkennen sind, hat aber auch eine KI weniger Potenzial“, räumt Antweiler ein. 
 

Den Patienten im Blick behalten 

Nicht nur für die Ärzte, sondern auch für die Patientinnen und Patienten verändert sich der Klinikalltag im Smart Hospital spürbar. Um die Patienten im Fokus zu behalten, wurde an der Universitätsmedizin Essen das Institut für PatientenErleben gegründet. Dort versucht man, in Gesprächen und Befragungen herauszufinden, welche Wünsche Patienten und Angehörige an die Digitalisierung haben. „Die meisten Patienten wollen, dass es mit den smarten Anwendungen einfacher wird, sie wollen Herr über ihre Daten bleiben und sie wollen weniger Papier,“ erzählt Monja Gerigk, die seit 2018 das Institut leitet. Tatsächlich fänden die psychoonkologischen Screenings mittlerweile nur noch auf dem Tablet statt, aber auch die Notaufnahme sei von Anfang an papierlos konzipiert worden.  Verstärkt werden in Essen inzwischen auch Gesundheitsapps auf Rezept verschrieben. Statt Terminzetteln erhielten die Patienten in manchen Bereichen die Angaben von Zeit und Ort einer planbaren Untersuchung als Nachricht auf ihr Handy, so Gerigk. Damit die Patienten ohne Irrwege an die richtige Stelle gelangten, werde ein Navigationssystem entwickelt, das diese künftig über das Klinikgelände führen soll. Auf der Kinderstation der Universitätsmedizin Essen werden die kleinen Patienten mithilfe des Pingunauten-Trainers auf eine MRT-Untersuchung vorbereitet. Mittels VR-Brille lernen die Kinder spielerisch die enge MRT-Röhre kennen, werden für ruhiges Liegenbleiben belohnt und mit den hämmernden Geräuschen vertraut gemacht, sodass sie bei der Untersuchung selbst keine Angst mehr empfinden. Positive Resonanz gebe es auch für die klinikeigene digitale Patientenakte. „Jedes Mal, wenn die Patienten ihre Krankengeschichte wiederholen, werden sie in die Problemtrance geführt und erleben sich als defizitär“, sagt Gerigk. Durch die digitale Patientenakte werde dies vermieden, denn dort fänden die Ärzte alle relevanten Informationen gebündelt vor. Beliebt bei den Patienten seien auch die Videosprechstunden in der  Hochphase der Coronapandemie gewesen. Hätten viele in der Vergangenheit noch aus entfernten Teilen Deutschlands nach Essen zur Behandlung anreisen müssen, könnten sie nun in der Videosprechstunde von zuhause aus Fragen zu ihrem Gesundheitszustand beantworten. Die Videosprechstunde empfehle sich jedoch selbstverständlich nicht für jede Art von Behandlung. Gerigk kennt aber auch die Schwierigkeiten, die Patienten mit der Digitalisierung haben. „Ungefähr die Hälfte unserer Patienten sind über 60 Jahre alt und deren digitales Wissen unterscheidet sich von denen jüngerer Patienten“, berichtet sie. Darum biete die Selbsthilfekontaktstelle Wiese e. V. Essen Kurse an, die die Patienten in digitalen Anwendungen schule.

Vom Smart Hospital zu Smart Healthcare 

Nicht jedes Krankenhaus ist jedoch so gut aufgestellt wie die Universitätsmedizin in Essen. Erst im Oktober 2021 hatte der Marburger Bund den Stand der Digitalisierung in deutschen Krankenhäusern kritisiert. Veraltete Technik und mangelhafte IT-Sicherheit hätten die Krankenhäuser in eine „Digitalisierungswüste“ verwandelt, hieß es in einer Mitteilung. So erlebt man es auch im Essener Klinikum im Kontakt mit anderen medizinischen Einrichtungen gelegentlich, dass zum Beispiel das elektronische Rezept nicht gesendet werden kann, weil diese Anwendung dort noch nicht umgesetzt ist. Chief Transformation Officer Diehl wünscht sich daher, dass die Digitalisierung im Gesundheitswesen stärker vorangetrieben wird. „Mittlerweile sind wir auf dem Weg zum Smart Hospital. Die Umsetzung ist allerdings davon abhängig, dass die Telematikinfrastruktur als solche funktioniert. Ziel muss es sein, in Deutschland Smart Healthcare zu etablieren“, fordert sie. 

Bei den niedergelassenen Ärzten sind nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KVNO) inzwischen fast alle Praxen an die Telematikinfrastruktur (TI) angeschlossen. Knapp die Hälfte versende über den E-Mail Dienst „KIM“ elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Künftig würden auch in der ambulanten Versorgung das eRezept und die elektronische Patientenakte an Bedeutung zunehmen, heißt es vonseiten der KVNO. Auch andere digitale Anwendungen, die bisher erprobt werden, würden in näherer Zukunft ihr Potential entfalten. Smarte Pflaster könnten beispielsweise Vitaldaten erfassen und Smartwatches könnten EKGs ableiten und den Blutdruck messen. 

Radiologin Diehl von der Universitätsmedizin Essen begrüßt diese Entwicklung. Je mehr Datensätze verfügbar seien, umso effektiver könnten Ärztinnen und Ärzte personalisierte Therapien entwerfen. Grundlage dafür sei aber, dass die Datensätze kompatibel seien und nicht jeder Hersteller seinen eigenen Standard definiere. Medienbrüche seien ebenfalls ein Problem, etwa, wenn manche Daten digital in IT-Systemen angelegt würden, während andere nach wie vor auf Papier stünden. Dadurch gingen nicht selten Daten verloren oder würden doppelt angelegt. 
 

Um bei den Kolleginnen und Kollegen Akzeptanz für die technischen Neuerungen zu schaffen, ist es laut Diehl wichtig, im Gespräch zu bleiben. Neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter würden insgesamt fünf Tage lang in den Arbeitsalltag der Essener Universitätsmedizin eingeführt, dazu kämen regelmäßige Fortbildungen und Schulungen. Zusammen mit der FOM Hochschule für Berufstätige in Düsseldorf habe die Universitätsmedizin Essen einen Studiengang „Pflege und Digitalisierung“ ins Leben gerufen, wo auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einzelne Module belegen könnten. Auch in der Aus- und Weiterbildung seien VR-Anwendungen angekommen. Zu Übungszwecken habe die Universitätsmedizin Essen ihre Räumlichkeiten im Metaversum nachgebaut. Neben den Patientenzimmern und der Angiographie könne der ärztliche Nachwuchs auch den Schockraum im „Avatarkrankenhaus“ mithilfe einer VR-Brille besuchen. Gemeinsam könnten hier Abläufe in Situationen geübt werden, die in der Realität keine Fehler erlaubten, wie zum Beispiel die Zusammenarbeit im Schockraum. Natürlich gebe es aber auch in der Essener Universitätsmedizin noch ein Faxgerät, sagt Diehl, das insbesondere den jüngeren Ärzten Rätsel aufgebe, die mit VR, Metaverse und KI aufgewachsen seien.

Wie gelingt die Digitalisierung? 

Um das digitale Know-How von Ärztinnen und Ärzten zu stärken, gibt es zahlreiche Angebote. Die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein bietet beispielsweise verschiedene Beratungsformate und Workshops an. Krankenhäuser, die nach Essener Vorbild zum Smart Hospital werden wollen, könnten mit Aktionsplänen von SmartHospital.NRW ihre KI ausbauen. Informationen unter www.smarthospital.nrw.
Dr. Christiane Groß, Vorstandsmitglied der Ärztekammer Nordrhein und Vorsitzende des Ärztlichen Beirates Digitalisierung NRW, sieht vor allem in der Lehre Potenzial für digitale Anwendungen. Künftig könnten Vorlesungen mit abstrakteren Inhalten auf VR zurückgreifen, um biochemische und physiologische MikroProzesse für Studierende verständlicher zu machen. In stets aktualisierten Weiterbildungen könnten Ärzte mit der Zeit an die Digitalisierung herangeführt werden. Von der Bundesärztekammer gibt es bereits ein Curriculum für Digitale Gesundheitsanwendungen in Praxis und Klinik. Die Ärztekammer Nordrhein hat in der Vergangenheit die Digitalisierung zum Schwerpunkt einiger Fortbildungen gemacht — zuletzt in der Kreisstelle Duisburg. Groß weist darauf hin, die Digitalisierung stets als zusätzliche Unterstützung zu sehen, um die Versorgung der Patienten zu verbessern und nicht, um den Arzt zu ersetzen.