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Wissenschaft und Fortbildung - Folge 133 aus der Reihe "Aus der Gutachterkommission"

Befunde nicht adäquat gewürdigt: Großes Zweitkarzinom übersehen

23.08.2022 Seite 29
RAE Ausgabe 9/2022

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 9/2022

Seite 29

Vor und nach Eingriffen zur Resektion von Darmtumoren ist es geboten, vorliegende Befunde zusammenzuführen. Mehrere zuvor festgestellte verdächtige Lokalisationen, ein Gewichtsverlust von über 20 Kilogramm und der postoperative Befund eines nur intraepithelialen Karzinoms im einzig entfernten Präparat hätten einer weiteren Abklärung und Re-Intervention bedurft.

von Jochen Erhard, Johannes Riedel und Beate Weber

Vorwurf 

Der zum maßgeblichen Zeitpunkt über 90-jährige, rüstige Patient hat den behandelnden Chirurgen vorgeworfen, vor einer ersten Operation zur Entfernung eines Darmtumors die Befunde nicht ausreichend erhoben beziehungsweise gewürdigt zu haben. Dadurch sei nur einer von zwei Tumoren entfernt und der eigentlich für einen erheblichen Gewichtsverlust ursächliche Tumor übersehen worden. Sechs Monate später sei eine weitere Operation erforderlich gewesen, in deren Folge sich belastende Komplikationen eingestellt hätten. 

Sachverhalt

Der Patient wurde aufgrund eines unklaren Gewichtsverlustes von 20 Kilogramm innerhalb von sechs Monaten in die Medizinische Klinik zur differenzialdiagnostischen Abklärung eingewiesen. Am dritten Behandlungstag erfolgte in der Radiologischen Abteilung eine Computertomografie des Thorax und des Abdomens. Als Indikation wurde eine Tumorsuche bei Gewichtsverlust von 27 Kilogramm in den letzten sechs Monaten genannt. Im radiologischen Bericht beschrieben wurden auffällige Befunde im Colon transversum links, nahe der linken Flexur von 2 x 1,5 Zentimeter Größe, sowie im proximalen Sigma mit umschriebener intraluminaler Verlegung. Es bestand kein Anhalt für Fernmetastasen oder auffällige Lymphknoten. Eine ergänzende Koloskopie wurde empfohlen. 

Die Koloskopie erfolgte am selben Tag durch die Internisten. Es lag eine Restverschmutzung im Stadium 1 des Boston Bowel Preparation Score vor. Im Befundbericht wird ein teils stenosierender, aber mit dem Koloskop passierbarer Tumor mit Verdacht auf ein Karzinom im descendo-sigmoidalen Übergang zwischen 35 und 37 Zentimetern oberhalb der Anocutanlinie beschrieben. Weitere Angaben liegen nicht vor. 
Das pathologisch-anatomische Untersuchungsergebnis wurde am siebten Behandlungstag per Fax an die Medizinische Klinik übermittelt und berichtet von Biopsien eines tubulo-villösen high-grade Adenoms. Der CEA-Wert wurde am vierten Behandlungstag mit 1,2 ng/ml bestimmt und lag damit im Normbereich. Im Arztbrief der Medizinischen Klinik, welcher unter dem achten Behandlungstag datiert ist, wurde als Ursache des Gewichtsverlustes ein stenosierendes Karzinom im descendo-sigmoidalen Übergang angegeben. 

Behandlung durch die belasteten Chirurgen 

Die Übernahme in die chirurgische Klinik erfolgte am sechsten Behandlungstag. Nach Aussage des Patienten wurde er am siebten Behandlungstag über die geplante Hemikolektomie links bis Mitte des Colon transversum aufgeklärt. Ein personifiziertes Dokument mit eingezeichneter Tumorlokalisation im Bereich der linken Flexur und Planung der Hemikolektomie links mit Durchtrennung des Querdarms wurde erstellt. Bei der laparoskopischen Tumorresektion am achten Behandlungstag wurde ein 25 Zentimeter langer Darmanteil reseziert. Die Dokumentation der Operation beschreibt eine onkologische Deszendo-Rektostomie, wenngleich als Operation eine laparoskopische Hemikolektomie links angegeben und verschlüsselt wurde (OPS 5-455.65). Ein Votum einer Tumorkonferenz liegt nicht vor, weder prä- noch postoperativ. 

In dem am vierten postoperativen Tag (zwölfter Behandlungstag) erstellten Arztbrief der Chirurgen wird über den von den Internisten erhobenen koloskopischen Befund eines mit dem Endoskop gerade noch passierbaren „gesicherten Karzinoms“ im descendo-sigmoidalen Übergang berichtet. Der postoperative Pathologiebefund des 25 Zentimeter langen Resektats hatte allerdings ein high grade Adenom im Stadium pTis bestätigt, also ein sogenanntes intraepitheliales Karzinom, welches prinzipiell durch lokale Abtragungen im Gesunden ausreichend behandelt werden kann und prognostisch gut einzuschätzen ist.

Verlauf

Bei neuerlichen peranalen Blutabgängen wurde sechs Monate später eine Koloskopie durchgeführt, die einen großen Tumor im Bereich der linken Flexur aufdeckte, der pathologisch-anatomisch einem mäßig differenzierten Adenokarzinom entsprach. Das Tumorstadium wurde nach der nunmehr durchgeführten Hemikolektomie links mit pT4a bestimmt. Ein protektives Stoma wurde angelegt. Bei Wunddehiszenz mit Platzbauch wurde in der Folge eine Revisionsoperation nötig. Weitere 16 Tage später konnte der sekundäre Wundverschluss vorgenommen werden. Der Verlauf war zwischenzeitlich auch durch ein akutes Nierenversagen kompliziert. Der Patient wurde schließlich in die Rehabilitation entlassen.

Stellungnahme der belasteten Chirurgen 

Die Chirurgen haben geltend gemacht, die erste Abdomen-CT habe zwar auffällige Befunde im Colon transversum und im oralen Colon sigmoideum ergeben. In der Koloskopie durch die Internisten sei aber nur ein einzelner auffälliger Befund im descendo-sigmoidalen Übergang festgestellt worden. Die Umfelddiagnostik habe zudem keine Hinweise auf Metastasierungen erbracht, sodass der zweite CT-Befund als Artefakt gewertet worden sei. Bei der Operation habe kein Anlass bestanden, eine weitergehende Mobilisation des Darmes mit entsprechenden Risiken für den betagten Patienten vorzunehmen. Auch postoperativ habe es keine Zweifel am Vorgehen gegeben. Bei der zweiten Operation sieben Monate später habe sich das Karzinom auf der Höhe der Arteria colica media befunden. Eine Palpation bis zu dieser Lokalisation wäre bei dem durchgeführten ersten laparoskopischen Eingriff ohne ausgedehnte Präparation nicht möglich und auch nicht indiziert gewesen. Selbst bei noch weitergehender Palpation des flexurnahen Colon transversum wäre der Befund operationsbedingt nicht zu detektieren gewesen.

Bewertung durch den Gutachter

Der chirurgische Fachgutachter ist zu der im Einzelnen näher begründeten Beurteilung gelangt, dass die Behandlung des Patienten nicht sachgerecht war und nicht dem in den Leitlinien empfohlenen Standard entsprochen hat. Dies insbesondere deshalb, weil die präoperativ erhobenen Befunde nicht zusammengeführt worden seien. Auch habe der im ersten Eingriff gefundene Tumor (high grade Adenom) den erheblichen Gewichtsverlust des Patienten nicht erklären können. Die Beeinträchtigungen durch die Komplikationen der Folgeoperation seien jedoch als schicksalhaft zu werten und der Komorbidität des Patienten geschuldet.

Der Patient beantragte daraufhin ein abschließendes Gutachten durch die Gutachterkommission. 

Abschließende Bewertung 

Auch die Gutachterkommission gelangte nach eigenständiger Überprüfung der vorliegenden Unterlagen zu der Einschätzung, dass 

  • dem Verdacht des Vorliegens zweier auffälliger Befunde in der am dritten Behandlungstag (also präoperativ) durchgeführten Computertomografie des Abdomens, 
  • der durch Stuhlverschmutzungen nur eingeschränkt beurteilbaren Koloskopie,
  • dem Missverhältnis zwischen dem im Resektat gefundenen high grade Adenom und dem koloskopisch als groß und kaum passierbar beschriebenen Tumor, sowie 
  • dem erheblichen Gewichtsverlust des Patienten von über 20 Kilogramm 

durch die Ärztinnen und Ärzte der Chirurgischen Klinik nicht in genügender Weise nachgegangen worden und dem Patienten dadurch ein Schaden entstanden sei. Es hätte bereits die erste Operation in der Weise durchgeführt werden müssen wie der sechs Monate später vorgenommene zweite Eingriff. Spätestens aber hätte nach Vorliegen der endgültigen Histologie die Revision zur Entfernung des Karzinoms geschehen müssen.

Der initiale Eingriff wurde als Hemikolektomie links ausgewiesen. Tatsächlich ist er nicht als solcher erfolgt. Womöglich hat intraoperativ kein Zweifel bestanden, dass der für die Symptomatik des Patienten ursächliche Tumor entfernt wurde. Seitens der Leitlinie wäre es noch gedeckt gewesen, wenn zeitnah nach der Erstoperation mit Vorliegen der endgültigen Histologie ohne Hinweis auf ein Karzinom eine Zweitoperation mit der Entfernung des Karzinoms im Bereich der linken Flexur erfolgt wäre.

Aufmerksam handelnden Ärztinnen und Ärzten hätte die Diskrepanz des präoperativ angenommenen klinischen und des postoperativ dokumentierten histologischen Befundes auffallen müssen. Es hätte sich aufdrängen müssen, dass der erhebliche Gewichtsverlust des Patienten mit dem postoperativen Histologiebefund nicht vereinbar war, sodass nach nochmaliger Evaluation der Befunde eine zeitnahe Zweitoperation geboten gewesen wäre. Eine leitlinienkonforme Tumorkonferenz oder interdisziplinäre Diskussion der Patientenbefunde hätte zumindest das Ergebnis einer Kontrollkoloskopie nach sechs Wochen gehabt, was dem Patienten und seinem Hausarzt in Form einer Sicherungsaufklärung hätte mitgeteilt werden müssen. Bereits die vorliegenden Stuhlverschmutzungen hätten eine solche Kontrolle erfordert. Im Rahmen der S3-Leitlinie wird auf die Wichtigkeit der interdisziplinären Tumorkonferenz für alle Patienten mit kolorektalem Karzinom nach Abschluss der Primärtherapie hingewiesen [1]. Im abschließenden Arztbrief gingen die Chirurgen in Bezug auf den entfernten Darmanteil zwar fälschlicherweise vom Befund eines Karzinoms aus, handelten aber nicht entsprechend. 

Haftung für Komplikationen

Im Hinblick auf die nach der zweiten Operation aufgetretenen Komplikationen beziehungsweise eingriffsspezifischen Erweiterungen steht fest, dass diese dem Zweiteingriff zuzuordnen sind, auch wenn dieser selbst nicht fehlerhaft war. Damit stellte sich die Frage, ob die daraus resultierenden Gesundheitsschäden als adäquate, nicht außerhalb der Wahrscheinlichkeit liegende, Folge des (ersten) Fehlers, nämlich des unzureichenden Vorgehens im Zusammenhang mit dem Ersteingriff, anzusehen sind. Das wäre nur dann zu verneinen, wenn sich mit praktischer Gewissheit sagen ließe, dass diese Komplikationen auch bei fehlerfreiem Vorgehen eingetreten wären.

Als leitliniengerechtes Vorgehen wären die sofortige Planung eines einzigen Eingriffs zur Entfernung der beiden verdächtigen Befunde oder eine zeitnahe zweite Operation nach Vorliegen der Histologie in Betracht gekommen. 

Zur Wahrscheinlichkeit oder Gewissheit von Komplikationen bei diesen Vorgehensweisen gelangte die Gutachterkommission zu folgender Auffassung: Der Patient befand sich trotz seines hohen Alters und gewisser altersspezifischer Komorbidität präoperativ, belegt durch entsprechende Ergebnisse der Voruntersuchungen, in einer stabilen gesundheitlichen Situation und überstand den Ersteingriff gut. Es ist deshalb mit praktischer Gewissheit davon auszugehen, dass der Patient auch einen zeitnahen Zweiteingriff ohne wesentliche Komplikationen überstanden hätte. Der dann tatsächlich erst sechs Monate später durchgeführte zweite Eingriff muss als wesentlich schwieriger und risikoreicher (größerer Tumor, belegt durch präoperative CT-Befunde im Vergleich zum initialen Befund, Verwachsungssituation, höheres Alter des Patienten) eingestuft werden. Die eingetretenen Komplikationen mögen damit zwar als schicksalhafter Verlauf des Zweiteingriffs anzusehen sein. Da sich nicht feststellen lässt, dass sie auch im Falle eines fehlerfreien Vorgehens im Rahmen eines zeitnahen Zweiteingriffs aufgetreten wären, sind sie ursächlich dem fehlerhaften Vorgehen zuzuordnen. 

Professor Dr. Jochen Erhard ist Stellvertretendes Geschäftsführendes Kommissionsmitglied, Präsident des Oberlandesgerichts a. D. Johannes Riedel ist Vorsitzender und Dr. Beate Weber ist die für die Dokumentation und Auswertung der Begutachtungen zuständige Referentin der Gutachterkommission.

Literatur

[1] S3-Leitlinie Kolorektales Karzinom. Januar 2019. AWMF-Registernummer: 021/007OL