Die Ärztekammer Nordrhein hat ein Angebot zur Krisenintervention für Ärztinnen und Ärzte geschaffen, die in ihrem Berufsalltag traumatischen Erlebnissen ausgesetzt sind. Es soll verhindern, dass aus diesen Erfahrungen eine dauerhafte Belastung wird, die krank macht und schließlich zur Flucht aus dem Beruf führt.
von Heike Korzilius
Ein Mann hat sich vor die U-Bahn geworfen. Notarzt Dr. Andreas Schießl arbeitet sich zu dem Opfer vor. Schnell ist klar, dass er hier nicht mehr helfen kann. Er beschließt, sich um den U-Bahn-Fahrer zu kümmern, zu schauen, wie dieser es verkraftet, gerade einen Menschen überfahren zu haben. Als er bei dem Fahrer ankommt, sitzt bereits ein Lokführer-Kollege neben ihm. Sie tauschen sich über das Erlebte aus. Vorfälle wie dieser ereignen sich im Durchschnitt ein- bis dreimal im Leben eines Lokführers. Deshalb, so Schießl, gebe es für diese Berufsgruppe ebenso wie beispielsweise für Feuerwehrleute sehr niederschwellige kollegiale Gesprächsangebote zur strategischen und emotionalen Aufarbeitung von Ereignissen oder Einsätzen. Für Ärztinnen und Ärzte, die belastende Situationen bewältigen müssen, gab es damals, vor gut zehn Jahren: nichts.
Für Schießl, der seit 2007 als Oberarzt am Fachzentrum für Anästhesie und Intensivmedizin an der Schön Klinik in München arbeitet, war das Ansporn, zunächst an seiner Klinik eine Hilfestruktur aufzubauen. Aus diesem Engagement ist inzwischen der Verein PSU-Akut (www.psu-akut.de) erwachsen, der allen im Gesundheitswesen Tätigen psychosoziale Unterstützung anbietet, „damit traumatische Erlebnisse nicht zur dauerhaften Belastung werden“, wie es auf der Homepage heißt. Nicht jede Belastungssituation sei pathologisch und nicht jeder Mensch, der eine traumatische Situation erlebe, benötige Hilfe, betonte Schießl bei der Online-Fortbildungsveranstaltung der Ärztekammer Nordrhein „Second Victim – Traumatische Erfahrungen im ärztlichen Beruf“ am 10. September. Es gehe darum, bei Bedarf gemeinsam mit dem Kollegen oder der Kollegin zu schauen, welche Reaktion noch „normal“ sei und wo sich ein Risikoverlauf andeute. Wichtig ist es seiner Ansicht nach, in die Primärprävention zu investieren, damit Betroffene auf etablierte Hilfsstrukturen zurückgreifen, ihre Resilienz stärken und letztlich im Beruf gehalten werden können.
Schießl zählte eine ganze Bandbreite schwerwiegender Ereignisse aus dem ärztlichen Alltag auf, die eine Krisenintervention erforderlich machen können. Dazu gehörten unerwartete Todesfälle oder schwere Verletzungen von Patienten oder Kollegen zum Beispiel durch Suizid oder Unfall, Beinahe-Behandlungsfehler, gescheiterte Reanimationen insbesondere bei Kindern, Gewalt gegenüber Kollegen oder Patienten, sexualisierte Gewalt, oder auch Katastrophen wie Zugunglücke oder die besondere Dauerbelastung durch die jüngste Coronapandemie. Dabei richte sich das Angebot von PSU-Akut nicht nur an Ärztinnen und Ärzte in den Krankenhäusern, sondern auch an die Niedergelassenen. „In der Pandemie waren die Medizinischen Fachangestellten die Fußabstreifer der Nation“, sagte Schießl. Es sei noch zu wenig bekannt, dass der Verein auch dieser völlig überlasteten Berufsgruppe Unterstützung anbiete.
Das Hilfsangebot von PSU-Akut startete in München und hat sich von dort aus in ganz Bayern ausgebreitet. Im bundesweiten Vergleich stehe man relativ gut da, sagte Schießl. Die Initiative werde auch von der Bayerischen Landesärztekammer unterstützt. Von einer flächendeckenden Verbreitung sei man aber auch dort noch weit entfernt, so der Notfallmediziner. Er stellte zugleich klar, dass auch Ärztinnen und Ärzte aus anderen Kammerbereichen die Angebote von PSU-Akut in Anspruch nehmen können – das reiche von der Helpline über Inhouse-Schulungen bis hin zur Ausbildung zum Peer, dem unterstützenden Kollegen oder der unterstützenden Kollegin.
Die Hilfe beim Umgang mit traumatischen Ereignissen steht seit einiger Zeit auch in der Ärztekammer Nordrhein ganz oben auf der Agenda. Deren Delegierte hatten beim 126. Deutschen Ärztetag im Mai in Bremen gefordert, Hilfsangebote in ganz Deutschland zu fördern und auszubauen – und zwar gleichermaßen für Klinikärzte und für Niedergelassene. Einem entsprechenden Antrag stimmte der Ärztetag mit großer Mehrheit zu. Das Ärzteparlament sprach sich in seinem Beschluss für die Etablierung kollegialer Unterstützungssysteme (Peer Support), Schulungen zur Resilienz und Selbstfürsorge, Team- und Einzel-Supervisionen sowie Balint-Gruppen aus. Gleichzeitig forderten sie die ärztlichen Körperschaften und Verbände auf, ihre Mitglieder umfassender und möglichst frühzeitig dafür zu sensibilisieren, wie sie sich in Belastungs- und Gefährdungssituationen – gegebenenfalls durch professionelle Unterstützung – vor Traumatisierungsfolgen, Lebenskrisen und Burn-out schützen könnten. Die Möglichkeiten für derartige Selbstschutzmaßnahmen sowie das Wissen über Hilfsangebote sollen nach dem Willen des Ärztetages feste Bestandteile der ärztlichen Aus-, Fort- und Weiterbildung werden.
Viele Betroffene erholen sich nie ganz
Vor diesem Hintergrund hat die Ärztekammer Nordrhein jetzt ein Angebot zur Krisenintervention für Ärztinnen und Ärzte geschaffen, die in ihrem Berufsalltag besonderen Belastungen ausgesetzt sind. „Wir wollen emotionale Erste Hilfe leisten“, erklärte Dr. Stefan Spittler, Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie und Chefarzt der Klinik für Psychische Gesundheit der Alexianer in Krefeld, der als Ansprechpartner für betroffene Kolleginnen und Kollegen fungiert (siehe Kasten auf Seite 14). Das Angebot der Kammer sei niederschwellig und breit gefächert. Es sei kostenfrei und könne auf Wunsch auch anonym in Anspruch genommen werden, so Spittler bei der Online-Fortbildung. In erster Linie gehe es dabei zunächst um den kollegialen Austausch auf Augenhöhe, denn nicht jede heftige Stressreaktion, die beispielsweise durch einen Behandlungsfehler ausgelöst wurde, sei therapiebedürftig. Sollte sich im Gespräch jedoch herausstellen, dass eine therapeutische Behandlung notwendig sei, könne man auf geeignete Ansprechpartner verweisen.
Rund die Hälfte der im Rahmen von verschiedenen Studien befragten Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte gab an, in den vergangenen drei Jahren einen belastenden Fehler gemacht zu haben, also Second Victim zu sein, sagte Professor Dr. Reinhard Strametz. Der Anästhesist und Ökonom von der Wiesbaden Business School/Hochschule RheinMain befasst sich als Action Vice Chair of the European Researchers‘ Network Working on Second Victims auch wissenschaftlich mit dem Thema. Experten gingen davon aus, dass jede behandelnde Person im Laufe ihres Berufslebens mindestens einen belastenden Fehler begehe, so Strametz. Bis zu 20 Prozent der Second Victims berichteten, dass sie sich nie ganz von diesem Vorfall erholt hätten. Die Folgen seien vielfältig: Zur gesteigerten Angst vor künftigen Fehlern komme in vielen Fällen der Verlust an Vertrauen in die eigene Fachkompetenz. Die Zufriedenheit im Beruf verringere sich, es komme vermehrt zu Schlafstörungen. Dabei hänge der Einfluss von Fehlern auf das Leben von Ärztinnen und Ärzten von deren Schwere ab. Unter den psychischen Folgen litten aber zum Teil auch Ärztinnen und Ärzte, denen nur ein Beinahe-Fehler unterlaufen sei.
Bis zu zwei Drittel aller Second Victims bilden Strametz zufolge dysfunktionale Verarbeitungsmechanismen aus – vorübergehend oder dauerhaft. Betroffene isolierten sich, entwickelten Depressionen und Angstzustände bis hin zur posttraumatischen Belastungsstörung. Manche suchten einen Ausweg mithilfe von Alkohol, Drogen oder Medikamenten. Andere entwickelten ein übertriebenes Absicherungsverhalten. „Aber eine defensive Medizin ist keine gute Medizin“, warnte Strametz. Unterstützungsangebote für betroffene Ärztinnen und Ärzte stärkten deshalb letztlich auch die Patientensicherheit. Bleibe Hilfe aus, treibe das manche Betroffene in die Flucht aus dem Beruf. In Extremfällen stehe am Ende eines Leidensweges der Suizid.
„Der schlimmste Richter ist der in uns selbst“, sagte Strametz. Ärztinnen und Ärzte, denen ein Behandlungsfehler unterlaufen sei, benötigten Hilfe, keine Strafe. Dabei plädierte auch der Wissenschaftler für ein abgestuftes System, beginnend bei der kollegialen Unterstützung in der Abteilung über die Krisenintervention durch ein Spezialteam bis hin zur professionellen Hilfe durch externe Experten, wie zum Beispiel Seelsorger und Sozialarbeiter. Second Victims, denen geholfen werde, könnten am Erlebten wachsen, andere für Fehler sensibilisieren sowie andere Kollegen und Patienten schützen. Es gehe nicht darum, einen Schuldigen zu suchen, sondern darum, den Fehler im System zu finden. Strametz’ Plädoyer mit Blick auf die beruflichen Rahmenbedingungen der Ärztinnen und Ärzte: „Medizin muss menschlicher werden, gerade auch denen gegenüber, die sie ausführen.“
Diesen Aspekt griff auch Eleonore Zergiebel auf, Internistin, Leiterin des Medizincontrolling am Krankenhaus Düren und Mitglied im Vorstand der Ärztekammer Nordrhein. Nicht nur das außergewöhnliche Einzelereignis könne traumatisieren und krank machen, sondern auch die Dauerbelastung, denen Ärztinnen und Ärzte in den Krankenhäusern ausgesetzt seien. „Die Berichte der Kolleginnen und Kollegen erfüllen mich oft mit Traurigkeit“, sagte Zergiebel. Die zunehmende Ökonomisierung durch die Einführung der Fallpauschalen, die zunehmende Kommerzialisierung und in manchen Häusern auch die Profitorientierung hätten eine Fehlentwicklung losgetreten. So habe jüngst eine Umfrage des Marburger Bundes ergeben, dass 25 Prozent der angestellten Ärztinnen und Ärzte darüber nachdenken, aus dem Beruf auszusteigen. Für Zergiebel ist das Ausdruck dafür, dass viele den eigenen Anspruch, gute Medizin zu praktizieren, nicht mehr mit ihrem Arbeitsumfeld vereinbaren können. „Die nötige Sorgfalt kann systembedingt nicht mehr geleistet werden. Es schwindet die Empathie, wir resignieren“, folgerte sie.
Eine zu hohe Arbeitsbelastung machte Hausarzt Dr. Peter Kaup neben einer mangelnden Fehlerkultur und Kommunikationsproblemen zwischen Ärzten zum Beispiel bei der Befundübermittlung für viele Behandlungsfehler verantwortlich. Die aus der Überlastung resultierende mangelnde Empathie sei vielfach der Auslöser dafür, dass Patienten ihren Ärztinnen und Ärzten einen Behandlungsfehler vorwerfen, sagte Kaup aus seiner Erfahrung als Mitglied in der Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler bei der Ärztekammer Nordrhein. Das von Vertrauen geprägte Arzt-Patient-Verhältnis leide besonders, wenn Ärztinnen oder Ärzten ein Fehler unterlaufe. Angehörige oder Geschädigte forderten in der Folge nicht selten den sofortigen Entzug der Approbation. Nicht nur für die Patienten und deren Angehörige, sondern auch für die betroffenen Ärztinnen und Ärzte seien die Gutachter- oder Gerichtsverfahren, die sich zum Teil über Jahre hinziehen, enorm belastend. „Fehler passieren, weil wir Menschen sind“, sagte Kaup. Deshalb benötigten die betroffenen Ärztinnen und Ärzte Hilfe und Unterstützung. Es müssten Ansprechpartner zur Verfügung stehen, „damit niemand allein gelassen wird“.
Um die eigene Resilienz und Selbstfürsorge zu stärken, warben Priv-Doz. Dr. Guido Flatten, Ärztlicher Leiter des Euregio-Instituts für Psychosomatik und Psychotraumatologie in Aachen, und Professor Dr. Peer Abilgaard, Chefarzt der Klinik für Seelische Gesundheit und Präventivmedizin an den Evangelischen Kliniken Gelsenkirchen, für die Arbeit in Balint-Gruppen (siehe auch „Das passiert in der Balint-Gruppe“ auf Seite 28) beziehungsweise die Supervision. „Ärztinnen und Ärzte tun sich noch immer schwer, Hilfe zu suchen und anzunehmen“, sagte Flatten. Dabei belegten Studien, dass mindestens 20 Prozent am Burn-out-Syndrom litten.
Emotionale Kompetenz stärken
Die Arbeit in Balint-Gruppen fokussiere auf die Arzt-Patient-Beziehung. Es gehe zum einen darum, sich von der reinen Organmedizin zu lösen und Patientinnen und Patienten ganzheitlich zu behandeln. Zum anderen gehe es darum, Ärztinnen und Ärzte zu trainieren, ihre Person und ihr Gefühl in der Behandlung von Patienten als Instrument einzusetzen („die Droge Arzt“). Die Gruppen dienten dazu, schwierige Arzt-Patient-Beziehungen zu bearbeiten, die emotionale Kompetenz der Ärztinnen und Ärzte zu stärken und dadurch im Sinne einer Burn-out-Prophylaxe eigene Belastungen zu verringern. Zurzeit sei die Teilnahme an Balint-Gruppen nur für den Erwerb einiger weniger Facharztbezeichnungen vorgeschrieben. Flatten warb dafür, diese Verpflichtung auf alle Fächer auszuweiten.
Auch die Supervision diene dazu, Schwierigkeiten und Probleme, die sich aus der beruflichen Interaktion ergäben zu verarbeiten, erklärte Abilgaard. Eine gelingende Supervision führe zu Entlastung, Klarheit, zu einem Kompetenzzugewinn und einer Verbesserung der Kooperation, „Aus der Ohnmacht wird wieder Eigenmacht“, sagte der Psychiater. Die Methode biete einen Schutzraum außerhalb der Akutsituation und ermögliche es, das Problem auf einer Metaebene zu reflektieren.
Um Supervision als Instrument der Selbstfürsorge nutzen zu können, brauche es Akzeptanz bei Ärztinnen und Ärzten, aber auch in der Gesellschaft, dass helfende Berufe sich professioneller Hilfe bedienen dürften und sollten, ohne dass das als Mangel an Kompetenz interpretiert würde, sagte Abilgaard. Dabei sollte Unterstützung besser schon in Anspruch genommen werden, bevor man zum Second Victim werde.
Mit der Online-Veranstaltung hatte die Ärztekammer Nordrhein offenbar einen Nerv getroffen. Zu der vom Ad-hoc-Ausschuss Ärztegesundheit unter dem Vorsitz der Vorstandsmitglieder Christa Bartels und Dr. Christiane Groß organisierten Fortbildung hatten sich mehr als 500 Ärztinnen und Ärzte zugeschaltet.
Hilfsangebote für Ärztinnen und Ärzte
Die Ärztekammer Nordrhein bietet eine unabhängige und bei Bedarf anonyme Krisenintervention für Ärztinnen und Ärzte an, die traumatische oder belastende Erfahrungen in ihrem Beruf gemacht haben. Ansprechpartner ist Dr. Stefan Spittler, stefan.spittler(at)alexianer.de, . Das Angebot ist kostenfrei.
Der Verein PSU-Akut (www.psu-akut.de) bietet allen im Gesundheitswesen Tätigen psychosoziale Unterstützung durch Kolleginnen und Kollegen an, „damit traumatische Erlebnisse nicht zur dauerhaften Belastung werden“. Die PSU Helpline ( ) ist täglich von 9 bis 21 Uhr erreichbar. Der Verein bietet neben Akutinterventionen auch Schulungen zum kollegialen Unterstützer oder zur kollegialen Unterstützerin (Peer) an. Kontakt: PSU-Akut e. V., Adi-Maislinger-Straße 6–8, 81373 München, Telefon: 089 89050922, info(at)psu-akut.de.