Zum ersten Mal seit Beginn der Coronapandemie fanden am 3. September im Düsseldorfer Haus der Ärzteschaft die Begrüßung neuer Kammermitglieder sowie der Beratungstag für junge Ärztinnen und Ärzte wieder in Präsenz statt. Im Mittelpunkt standen neben dem feierlichen ärztlichen Gelöbnis Informationen über die Arbeit der Ärztekammer Nordrhein (ÄkNo), über das Arbeitsrecht, die fachärztliche Weiterbildung sowie den Erhalt der eigenen Gesundheit und Resilienz.
von Heike Korzilius und Marc Strohm
„Als Mitglied der ärztlichen Profession gelobe ich feierlich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen.“ Knapp 30 neue Mitglieder waren der Einladung der Ärztekammer Nordrhein gefolgt, gemeinsam im Haus der Ärzteschaft in Düsseldorf feierlich das ärztliche Gelöbnis zu sprechen und sich vor Ort über Aufgaben und Arbeit der Kammer zu informieren. „Ich freue mich sehr, dass nun wieder die Möglichkeit besteht, persönlich zusammenzukommen“, sagte deren Präsident Rudolf Henke zum Auftakt der Veranstaltung. Die Ärztekammer Nordrhein sei die einzige Organisation, die als „gemeinwohlorientierte berufliche Interessenvertretung“ für alle rund 68.000 Ärztinnen und Ärzte im Landesteil spreche. Nach Bayern und Baden-Württemberg sei sie die drittgrößte bundesweit.
Als untergesetzlicher Normgeber entscheide die Kammerversammlung aus 121 Delegierten über den Kern der ärztlichen Berufsausübung: die Struktur und Inhalte der fachärztlichen Weiterbildung, die lebenslange ärztliche Fortbildung, das Berufsrecht sowie die Wahrung beruflicher und medizin-ethischer Belange. All diese Aufgaben könne die Kammer allerdings nur bewältigen, weil rund 2.000 Ärztinnen und Ärzte ehrenamtlich in deren Gremien und Kommissionen mitarbeiteten.
Melissa Camara Romero und Steffen Veen, Vorsitzende des Ad-hoc Ausschusses Junge Ärztinnen und Ärzte, nutzten die Gelegenheit für einen Werbeblock für mehr ehrenamtliches Engagement. Camara Romero, die sich bereits seit ihrem Studium berufspolitisch engagiert, erklärte: „Wir haben einen wunderbaren Beruf, aber trotzdem sehen wir im Alltag immer wieder Hürden, die es zu bewältigen gilt, und ich glaube, dass die Kammer da eine sehr große Hilfe ist.“
Im Gegensatz zu Camara Romero stieß Veen erst später zur Kammer. Ein Kollege habe ihn auf eine aktive Mitarbeit angesprochen, schildert er den Beginn seiner ehrenamtlichen Tätigkeit, die inzwischen – ebenso wie bei Camara Romero – in einen Vorstandsposten gemündet ist. Frei nach dem Motto „engagieren statt meckern“ schätze er insbesondere die Möglichkeit, die ärztliche Weiterbildungsordnung mitzugestalten. „Diese Regelungen betreffen uns als junge Ärztinnen und Ärzte immer“, meinte Veen und bekräftigte: „Die Möglichkeit mitzugestalten ist ein besonderes Privileg.“ Die Kammer lebe von ihren Mitgliedern, die deren Arbeit prägten.
Klimaneutral bis 2030
Aktuelles Beispiel: Klimawandel. Bei dem Thema spielten nicht nur die gesundheitlichen Auswirkungen der Erderwärmung eine Rolle, betonte Kammerpräsident Henke. Man dürfe auch den ökologischen Fußabdruck des Gesundheitssektors selbst nicht aus den Augen verlieren. Weltweit sei dieser für 4,4 Prozent der globalen Treibhausgase verantwortlich – mehr als der internationale Flugverkehr. Henke hob hervor, dass sich sowohl die Kammerversammlung der Ärztekammer Nordrhein als auch der Deutsche Ärztetag zur Reduktion von Treibhausgasen bekannt und sich bis 2030 zur Klimaneutralität verpflichtet hätten.
An den anschließenden Workshops zum Arbeitsrecht, zur Weiterbildung und zum elektronischen Logbuch sowie zur Ärztegesundheit nahmen insgesamt rund 70 Ärztinnen und Ärzte vor Ort und weitere 150 online teil. Dr. Sven Dreyer, selbst Facharzt für Anästhesiologie, Mitglied im Vorstand der ÄkNo und 1. Vorsitzender der Weiterbildungskommission, gab einen Überblick über die gültige Weiterbildungsordnung (WBO) in Nordrhein. Die 2019 reformierte WBO lege mehr Wert auf die tatsächlich erworbenen Kompetenzen der Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung und weniger auf Zeiten und die Erfüllung von Richtzahlen, erklärte Dreyer. Außerdem habe die Reform zum Ziel gehabt, dass die Weiterzubildenden mithilfe eines elektronischen Logbuchs Weiterbildungsfortschritte kontinuierlich dokumentieren können. „Dieser Prozess gewinnt langsam an Fahrt, auch wenn die IT-Lösung noch nicht so komfortabel ist, wie wir uns das vorgestellt haben“, sagte Dreyer.
Auf Befugnis achten
Er riet den neuen Kammermitgliedern, unbedingt darauf zu achten, welchen Umfang die Befugnis der Weiterbilder im Krankenhaus oder in der Praxis umfasst und ob diese für die gesamte Dauer des Arbeitsverhältnisses reicht. Ansonsten könne es später bei der Anerkennung von Weiterbildungszeiten und -kompetenzen unliebsame Überraschungen geben. Auch beim Wechsel in einen anderen Kammerbereich müsse man sich darüber bewusst sein, dass es Unterschiede in den geltenden Weiterbildungsordnungen geben könne. Zwar versuche der Deutsche Ärztetag mit seinen regelmäßigen Anpassungen der (Muster-)Weiterbildungsordnung an den medizinischen Fortschritt für eine möglichst große Einheitlichkeit zu sorgen. Da letztlich aber die einzelnen Landesärztekammern über Struktur und Inhalte der fachärztlichen Weiterbildung bestimmten, gebe es immer wieder auch Abweichungen.
Ganz im Zeichen der Selbstfürsorge und Resilienz stand das Angebot eines Balint-Schnupperkurses für die neuen Kammermitglieder. Der Fokus der Gruppenarbeit liege auf dem Arzt-Patient-Verhältnis, das wichtig sei für den Erfolg oder auch den Misserfolg einer Behandlung, erklärte ÄkNo-Vorstandsmitglied Dr. Christiane Groß. Indem man anhand konkreter Fallbeispiele schwierige oder belastende Erlebnisse mit Patientinnen und Patienten erörtere, könnten Balint-Gruppen zum einen helfen, medizinisches Handeln zu optimieren (siehe Kasten). Der Erwerb verbesserter emotionaler Kompetenzen könne aber zum anderen auch den Ärztinnen und Ärzten helfen, eigene Belastungen besser zu verarbeiten und auf diese Weise als Burn-out Prophylaxe dienen. „Die Arbeit in den Gruppen wirkt wie eine Psychodusche“, sagte die Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie. Sie bedauerte es deshalb, dass die Teilnahme an Balint-Gruppen für viele Ärztinnen und Ärzte nur „ein notwendiges Übel“ darstelle, das man zum Beispiel zum Erwerb von einigen Facharztbezeichnugen benötige. Dabei könnten Ärzte sämtlicher Fachrichtungen, gerade auch der somatischen, von der Gruppenarbeit profitieren, so Groß.
Das passiert in der Balint-Gruppe
Die sieben Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Balint-Gruppe haben sich online zusammengefunden – eine Folge der Coronapandemie. Sie stammen aus verschiedenen Städten aus Nordrhein und Westfalen-Lippe und gehören den unterschiedlichsten ärztlichen Fachgruppen an: Neurochirurgie, Neurologie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Allgemeinmedizin. Die meisten befinden sich noch in der fachärztlichen Weiterbildung. Geleitet wird die Gruppe, die sich einmal im Monat für jeweils bis zu zweimal 90 Minuten trifft, von einer speziell dafür ausgebildeten und erfahrenen ärztlichen Psychotherapeutin. Auf der Tagesordnung stehen oft ein „großer“ und ein „kleiner“ Fall.
Fall eins schildert an diesem Abend eine Kinderpsychiaterin. Sie behandelt zurzeit einen neunjährigen Jungen, der aufgrund heftiger Mobbingerfahrungen in der Schule depressive Symptome entwickelt hat. Im Vorfeld war bei ihm bereits ADHS diagnostiziert worden, das medikamentös behandelt wird. Schwierig findet die Psychiaterin aber nicht den Umgang mit dem kleinen Patienten, sondern den mit dessen alleinerziehender Mutter, die nach Ansicht der Ärztin durch ihr Misstrauen, ihre Anspruchshaltung und die Überforderung mit ihrer Alltagssituation einen Therapieerfolg untergräbt. Die Frage der Psychiaterin an die Runde: Wie kann man einen Menschen wie diese Mutter erreichen und zur Kooperation motivieren?
In Fall zwei schildert ein angehender Allgemeinarzt ein Ereignis aus seiner Zeit im Krankenhaus. Aufgrund von extremem Zeitdruck und Arbeitsüberlastung – dem „Jonglieren“ zwischen Station und Notaufnahme – erlaubt er einer Patientin in der Notaufnahme nicht, ihre Beschwerden ausführlich zu schildern, sondern gestattet nur ein „Ja“ oder „Nein“ auf seine strukturierten Fragen. Das ermöglicht zwar eine medizinisch angemessene Erstversorgung, lässt die Patientin aber frustriert zurück, die den Arzt in der Folge als „gemein“ bezeichnet. Das nagt seither an ihm.
Mit der jeweiligen Fallschilderung endet der aktive Teil für die Berichtenden.
Im Anschluss erörtern die restlichen Gruppenmitglieder unter Moderation der Gruppenleiterin jeweils das Gesagte. Im Vordergrund steht dabei explizit nicht die rationale Analyse, sondern die emotionale Aufbereitung. Es beginnt damit, welche körperlichen Gefühle die Fallschilderung bei den Teilnehmenden ausgelöst hat. In den Gruppenprozess fließen Hypothesen, Assoziationen, Klischees und Erfahrungen ein. Es geht darum, unbewusste Dynamiken in der Patientenarbeit wahrzunehmen und in die Behandlung einzubeziehen. Die Balint-Gruppe bietet sowohl Selbsterfahrung als auch einen neuen ganzheitlichen Blick auf die Patienten.
Am Ende steht nicht immer eine Lösung. In Fall eins heißt das: „Es ist schwierig, an die Mutter heranzukommen. Man sollte einen Weg der Wertschätzung suchen, eine optimale Lösung haben wir alle aber auch nicht.“ Am Ende von Fall zwei steht das Fazit: „Es ist nicht der Arzt, der gemein ist, sondern das System. Wir sind aber dennoch darauf bedacht, das Beste zu geben, um gute Ärztinnen und Ärzte zu sein, die auf alle ihre Patienten achten.“
Beide Fallberichterstatter sind am Ende des Abends zufrieden. „Es ist gut zu sehen, dass man nicht alleine ratlos vor einem solchen Problem steht“, sagt die Kinderpsychiaterin. Und der Allgemeinarzt erklärt: „Es ging in der Situation nicht anders. Ich bin der Patientin im Grunde dankbar, sie hat mir den Spiegel vorgehalten.“ Er ist inzwischen aus dem Krankenhaus in die Praxis gewechselt.
HK