Für die Niedergelassenen ist es mehr als ein Affront: In der ambulanten Versorgung soll die Neupatientenregelung abgeschafft werden. Die Leistungen würden dann nicht mehr extrabudgetär vergütet werden. So sieht es das am 27. Juli vom Bundeskabinett verabschiedete GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) vor. Dr. Frank Bergmann, Vorstandsvorsitzender der KV Nordrhein, sieht in dieser Sparmaßnahme einen Schlag ins Gesicht für die Niedergelassenen und einen Vertrauensbruch seitens der Politik.
von Jana Meyer
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sorgt mit seinem Anfang Juli vorgelegten Gesetzentwurf zum GKV-FinStG für wachsenden Widerstand und zunehmende Proteste in der Ärzteschaft. Grund des Anstoßes: Lauterbach will unter anderem die Neupatientenregelung zum 1. Januar 2023 kippen und die Evaluation der offenen Sprechstunde einführen. Trotz eindringlicher Forderung der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Nordrhein und von den anderen 16 KVen, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) sowie von Berufsverbänden, die angedachten Pläne fallen zu lassen, winkte das Bundeskabinett den Gesetzvorschlag am 27. Juli durch.
Klamme Kassen
Im Mittelpunkt des Gesetzes zur finanziellen Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung stehen drei zentrale Maßnahmen: die Erhöhung des Zusatzbeitrages um 0,3 Beitragspunkte für gesetzlich Versicherte, ein erhöhter Steuerzuschuss von zwei Milliarden Euro sowie ein Bundesdarlehen in Höhe von einer Milliarde Euro. Zusätzlich sollen die Finanzreserven der gesetzlichen Krankenversicherung und des Gesundheitsfonds auf das gesetzliche Minimum reduziert werden: Vier Milliarden Euro würden so bei den Kassen frei, 2,4 Milliarden Euro beim Gesundheitsfonds. Drei weitere Milliarden sollen durch „Effizienzsteigerungen ohne Leistungskürzungen“ eingespart werden. Darunter fällt auch die Abschaffung der Neupatientenregelung. Seit 2020 klaffe eine wachsende Finanzierungslücke in der GKV durch verminderte Zuwächse bei den Beitragseinnahmen und steigende Kosten, heißt es zum Hintergrund. 17 Milliarden Euro beträgt sie aktuellen Berechnungen zufolge im kommenden Jahr.
Erst im September 2019 war mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) die Entbudgetierung der Behandlung von Neupatientinnen und -patienten durch Haus- und Fachärzte eingeführt worden. Sie sollte einen Anreiz für deren zügige Aufnahme in die Praxen schaffen und den Niedergelassenen gleichzeitig eine angemessene Aufwandsentschädigung garantieren. Lauterbach, damals noch stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, zeigte sich in den Beratungen zum TSVG als maßgeblicher Befürworter. Er bezeichnete es als „Gesetz zum Abbau der Zweiklassenmedizin“ und hielt es für eine „wesentliche Veränderung des Systems“. Die außerbudgetäre Vergütung der Ärztinnen und Ärzte bewertete Lauterbach als sinnvoll, da gerade neue Patientinnen und Patienten viel Arbeit machten und viel Zeit in Anspruch nähmen. Als Bundesgesundheitsminister will Lauterbach die Neupatientenregelung nun wieder kassieren, weil sie seiner Aussage nach nicht zu einer deutlichen Verbesserung der Versorgung beigetragen habe.
Zi weist positive Effekte nach
Eine Analyse der Abrechnungsdaten des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) zeichnet da ein anderes Bild. Die Auswertung zeigt, dass im vierten Quartal 2021 mehr Neupatientinnen und -patienten behandelt worden sind als im vierten Quartal 2019. „Und dies obwohl die ärztlichen Behandlungskapazitäten in diesen zwei Jahren eher ab- als zugenommen haben“, bestätigt der Zi-Vorstandsvorsitzende, Dr. rer. pol. Dominik von Stillfried, den positiven Effekt der Neupatientenregelung auf die Versorgungsqualität. Außerdem haben die erstmals Versorgten gegenüber dem vierten Quartal 2019 mehr zusätzliche Leistungen erhalten als die Bestandspatientinnen und -patienten.
Die Zi-Analyse zeigt weiter, dass die Neupatientenregelung bundesweit für nahezu alle Praxen von Bedeutung ist. Im vierten Quartal 2021 haben insgesamt 99 Prozent der Praxen rund 20 Millionen neue Patientinnen und Patienten behandelt. Bundesweit ist mehr als jeder vierte gesetzlich Versicherte von der Regelung betroffen. Gegenüber dem vierten Quartal 2019 ist das ein Zuwachs von zwölf Prozent – in Nordrhein liegt das Plus bei acht Prozent. Bei Hausärzten (32,2 Prozent), Kinder- und Jugendärzten (18,3 Prozent) sowie Psychologischen Psychotherapeuten (18,4 Prozent) war der Zuwachs an gesetzlich Versicherten Neupatientinnen und -patienten überdurchschnittlich hoch.
Schneller Termine vermittelt
Kinder und Jugendliche sowie gesetzlich Versicherte in den erwerbsfähigen Altersgruppen werden besonders häufig als Neupatienten behandelt. Am höchsten ist der Anteil mit 29 Prozent in der Altersgruppe 20 bis 39 Jahre. Die Zunahme der Anzahl von erstmals Versorgten innerhalb eines Quartals zeigt laut Zi, dass die Praxen bezogen auf diesen Zeitraum schneller auf Behandlungswünsche der Patientinnen und Patienten reagiert haben.
Vor dem Hintergrund der Zi-Analyse muss somit – entgegen des Versprechens von Minister Lauterbach – bei den geplanten Änderungen mit Auswirkungen auf die Versorgung gerechnet werden, zum Beispiel, wenn Niedergelassene die Ausweitung ihres Sprechstundenangebots aufgrund fehlender Finanzierung wieder zurückfahren müssen. „Im Wegfall der TSVG-Vergütung für Neupatientinnen und -patienten sehen wir eine völlige Abkehr vom Kurs einer verlässlichen und verantwortungsvollen Gesundheitspolitik“, so KVNO-Chef Bergmann. „In den letzten zweieinhalb Jahren waren und sind es noch heute die Praxen, die das System in Zeiten von Corona durch Millionen Impfungen, Angebote nach den Sprechstunden und zusätzlich zur Regelversorgung gestützt haben.“ Dieser 300-Prozent-Betrieb lasse sich auf Dauer nicht weiter durchhalten, erst recht nicht, wenn dringend benötigte Gelder gestrichen würden.
Die Pläne zum Wegfall der Neupatientenregelung wirken in Anbetracht des Zi-Praxis-Panels (ZiPP) zur Analyse der wirtschaftlichen Lage der Arztpraxen zwischen 2017 und 2020 zudem wie ein Brandbeschleuniger. In den vergangenen Jahren hat sich das ohnehin eher schwache Einnahmenwachstum der bundesweit 102.000 Arzt- und Psychotherapiepraxen zuletzt weiter abgeschwächt. 2020 lag es bei lediglich 2,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. In den beiden Jahren zuvor hatte dieser Wert noch bei 3,8 respektive 3,7 Prozent gelegen. Insgesamt sind die Praxiseinnahmen von 2017 bis 2020 um 10,5 Prozent gestiegen. Im gleichen Zeitraum sind jedoch die Gesamtaufwendungen um 13,3 Prozent angewachsen. Sie lagen damit systematisch über der Einnahmenentwicklung. Der Kostenanstieg in den Praxen hat die Entwicklung der Verbraucherpreise, die im gleichen Zeitraum im Bundesdurchschnitt um 3,7 Prozent zunahmen, um nahezu das Vierfache überschritten.
Finanzieller Aderlass
In einem offenen Brief gemeinsam mit den anderen KVen und der KBV hat die KV Nordrhein nachdrücklich an die Verantwortung des Bundesgesundheitsministers für die Aufrechterhaltung der ambulanten medizinischen Versorgung appelliert, verbunden mit der dringenden Bitte, die beiden Regelungen zulasten der vertragsärztlich versorgten Patientinnen und Patienten im Entwurf zum GKV-FinStG zurückzunehmen. Um ihrer Forderung mehr Kraft zu verleihen und auch öffentlich ein deutliches Zeichen zu setzen, hatte die KV Nordrhein alle Niedergelassenen am 7. September zu einem Aktionstag eingeladen (dazu mehr in der nächsten Ausgabe des Rheinischen Ärzteblatts). „Dieser finanzielle Aderlass lässt die Niedergelassenen ausbluten – mit Blick auf ihre Existenzgrundlage, mehr aber noch bei ihren Kräften“, warnt KVNO-Vize Dr. Carsten König.
Gegenwärtig befindet sich der Gesetzesentwurf noch zur Abstimmung in Bundestag und Bundesrat (Stand: Anfang September). Der KVNO-Vorstand hofft, die Bundestagsabgeordneten mit dem versammelten Protest des gesamten KV-Systems noch rechtzeitig zur Einsicht zu bringen. Fürs Erste gelten die TSVG-Regelungen noch in Gänze weiter.
Jana Meyer ist Redakteurin im Bereich Presse und Medien bei der KV Nordrhein.