Vorlesen
Folge 131 aus der Reihe "Arzt und Recht"

Bundesverfassungsgericht bestätigt Masern-Impfpflicht

16.09.2022 Seite 26
RAE Ausgabe 10/2022

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 10/2022

Seite 26

Die Pflicht einer Impfung gegen die Masern für Kita- und Schulkinder ist verfassungskonform. Das hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden und die Verfassungsbeschwerden mehrerer Eltern abgewiesen (Beschluss vom 21.7.2022, Az. 1 BvR 469/20 u.a.). 

von Katharina Eibl und Dr. Dirk Schulenburg

Seit dem 1.3.2020 müssen Kinder, die die Schule oder eine Kindertagesstätte besuchen, nachweisen, dass sie gegen Masern geimpft sind. Dies gilt auch für die dort beschäftigten Personen, die nach 1970 geboren wurden (§§ 20, Abs. 8 Satz 1 bis 3, Abs. 9 Satz 1 und 6, Abs. 12 Satz 1 und 3, Abs. 13, Satz 1 Infektionsschutzgesetz, IfSG). Der Beschluss des BVerfG vom 21.7.2022 betrifft mehrere Verfassungsbeschwerden minderjähriger Beschwerdeführer, die nicht gegen Masern geimpft sind und über keine Immunität gegen eine Masernerkrankung verfügen. Bei keinem der Beschwerdeführer bestand eine medizinische Kontraindikation gegen die Impfung. 

Die Beschwerdeführer sahen in der Verpflichtung zur Impfung einen unverhältnismäßigen Eingriff in ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetzt, GG), die sie vertretenden Eltern einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG). 

Grundrechtseingriff

Dem folgt das BVerfG insofern, als dass die beanstandeten Regelungen des Infektionsschutzgesetzes in mehrfacher Hinsicht in die Grundrechte der Eltern und Kinder eingreifen. Der mit einer Verletzung der Pflicht zum Nachweis der Masernimpfung verbundene Verlust praktisch sämtlicher Möglichkeiten der Inanspruchnahme staatlicher Betreuungsangebote sowie die dann fehlende Durchsetzbarkeit eines Anspruchs auf eine einrichtungsbezogene frühkindliche Vorschulförderung führten zu einer faktischen Pflicht der Eltern, ihre Kinder impfen zu lassen. Das Elternrecht, sich in Ausübung der Gesundheitsvorsorge für das eigene Kind gegen die Durchführung von Impfungen zu entscheiden, werde damit in erheblicher Weise tangiert.

Die faktische Impfpflicht greife, so das BVerfG, darüber hinaus auch mittelbar in das Grundrecht der Kinder auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) ein sowie in das Recht der Kinder auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG). Durch das Einbringen eines nicht erwünschten Impfstoffes in den Körper der Kinder werde deren körperliche Integrität in schwerwiegender Weise beeinträchtigt, zumal Nebenwirkungen der Impfungen nicht völlig auszuschließen seien.

Schutz höherrangiger Rechtsgüter

Das BVerfG kommt zu dem Schluss, dass die Grundrechtseingriffe gerechtfertigt sind. Die Grundrechte – Recht auf körperliche Unversehrtheit, Elternrecht sowie Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit – unterliegen einem Gesetzesvorbehalt. Das bedeutet, dass sie unter bestimmten Voraussetzungen gesetzlich eingeschränkt werden können. Zum Schutz besonders hochrangiger Rechtsgüter darf der Gesetzgeber diese Grundrechte unter strenger Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes beschneiden. 

Legitimer Zweck

Das bei Ausbleiben eines Impfnachweises eintretende Betreuungsverbot gemäß § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG verfolge den verfassungsrechtlich legitimen Zweck, insbesondere vulnerable Gruppen vor einer für sie gefährlichen Masernerkrankung zu schützen und die Verbreitung des Masernvirus in der Bevölkerung insgesamt einzudämmen. Angesichts der sehr hohen Ansteckungsgefahr bei Masern und den mit einer Masernerkrankung verbundenen Risiken eines schweren Verlaufs bestehe eine beträchtliche Gefährdung des Rechtsguts der körperlichen Unversehrtheit Dritter.

Abwägung von Risiken und Nutzen

Demgegenüber ist nach Auffassung des BVerfG das Risiko von unerwünschten Neben- oder Spätfolgen einer Masernimpfung vergleichsweise gering. Das Eintreten eines echten Impfschadens ist mit dem Risiko ungeimpfter Personen, an Masern zu erkranken und infolge der Erkrankung zu versterben, abzuwägen. Die Eingriffe in das Elternrecht, das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ist nach Bewertung des BVerfG deshalb grundsätzlich vom Zweck des Schutzes höherrangiger Rechtsgüter der Verfassung gedeckt.

Geeignet, erforderlich und verhältnismäßig

Voraussetzung für einen verfassungsgemäßen Grundrechtseingriff ist darüber hinaus, dass das Mittel geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist. Die vom Gesetzgeber statuierte Nachweispflicht ist, so das Gericht, geeignet und erforderlich, den gesetzgeberischen Zweck des Gesundheitsschutzes der Gesamtbevölkerung zu erreichen. Andere, weniger stark in die Grundrechte der Beschwerdeführer eingreifende Mittel stünden zur effektiven Zielerreichung nicht zur Verfügung. Der Gesetzgeber habe die ihm zustehende Einschätzungsprärogative daher in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise durch Einführung der Impfnachweispflicht ausgeübt.

Einrichtungsbezogene COVID-19-Impfpflicht

Das BVerfG räumt dem Gesetzgeber damit einen großen Gestaltungsspielraum ein, wie sich dies auch schon bei der Prüfung der einrichtungsbezogenen COVID-19-Impfpflicht (Beschl. v. 27.4.2022, Az. 1 BvR 2649/21) abgezeichnet hat. Auch hier hieß es, dass zwar sowohl ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Beschwerdeführenden als auch in deren Berufsfreiheit vorliege. Beide seien jedoch gerechtfertigt. Der Gesetzgeber verfolge einen legitimen Zweck, wenn er vulnerable Menschen vor einer Infektion mit dem Coronavirus schützen wolle. 

Dr. iur. Dirk Schulenburg, MBA, MHMM, ist Justiziar der Ärztekammer Nordrhein und Katharina Eibl, Fachanwältin für Medizinrecht, ist Referentin der Rechtsabteilung.