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Stabile Seele – starke Abwehr?

20.04.2022 Seite 27
RAE Ausgabe 5/2022

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 5/2022

Seite 27

Diskutierten über die Zusammenhänge von Immunsystem und Psyche (v. li. n. re.): Dr. Michael Wellmer, Dr. Bernhard Grundmann, Dr. Wolfgang Hagemann, Christa Bartels, Dr. Ivo Grebe. © Ulrike Schaeben
Wir wissen heute, dass enge und physiologisch sinnvolle Verknüpfungen zwischen Immunsystem und Psyche existieren und Stress etwas mit Krankheit und vorzeitiger Alterung zu tun hat. Doch welcher Zusammenhang besteht zwischen Immunsystem und Psyche genau? Was passiert immunologisch in der akuten Stressreaktion? Was die noch junge Disziplin der Psychoneuroimmunologie zur Bewältigung der Folgen der Coronapandemie für Körper und Seele beitragen kann, war Anfang März Thema eines Online-Symposiums der Aachener Kreisstellen und der Initiative Aachener Psychosomatik-Tage.

von Ulrike Schaeben

Die Akteure des 3. Aachener Psychosomatik-Tages präsentierten den über 300 Teilnehmern an den Bildschirmen aktuelle Erkenntnisse aus der Psychoneuroimmunologie und verbanden diese mit aktuellen „Lessons learned“ aus der Coronapandemie. 

Aus der heutzutage allgemein akzeptierten Wechselwirkung zwischen Psyche und Immunsystem resultieren pathophysiologische Erkenntnisse, die möglicherweise auch therapeutisch nutzbar sind. Doch welche Erkenntnisse sind evidenzbasiert? Wie ist die noch junge Disziplin der Psychoneuroimmunologie in Deutschland verankert? Diesem Fragenkomplex widmeten sich Professorin Dr. Eva Peters, Leiterin Psychoneuroimmunologie der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Gießen und Marburg, und Professor Dr. Manfred Schedlowski, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie und Verhaltensimmunbiologie des Universitätsklinikums Essen, in ihren Vorträgen.
„Wir können das Immunsystem als Mittler zwischen der Wahrnehmung und der Möglichkeit des Körpers verstehen, in einer sich stetig verändernden Umwelt weiter funktionieren zu können“, führte Peters aus. Zur Einordnung von Stress in die Konzeption von Krankheit und Gesundheit zog die Wissenschaftlerin das biopsychosoziale Modell heran, in dem Stress als Adaptationsvorgang verstanden wird. Die Stresshormon-Achse aus Hypothalamus, Hypophyse und Nebennieren setze die Ausschüttung von Botenstoffen und Hormonen in Gang und aktiviere die angeborene und zelluläre Immunantwort des Körpers. Folge darauf keine ausreichende Entspannung und chronifiziere der Stress, werde er toxisch und verhindere die Adaptation. Krankheit werde in diesem Modell als Maladaptation verstanden. 

Daueralarm im Körper

Doch wie kommt diese Fehlanpassung zustande? Die Erklärung der Expertin lautete: Als Alarmreaktion des Körpers könne Stress über ein sehr komplexes Konzert von mindestens vier Achsen dazu führen, dass der Körper einen Stressor nicht nur eliminiere, sondern auf ihn überreagiere. Erst die Summe der Stressoren erziele einen pathogenen Zustand. Es sei ein altes Wissen und durch Experimente früh belegt worden, dass Virusinfektionen unter langanhaltendem Stress schlechter kontrolliert werden könnten.

Gerät das Immunsystem in eine solche Schieflage, geht es aus Sicht von Peters eher um eine Flexibilisierung des Immunsystems und eine Rückgewinnung von homöostatischen Zuständen als um eine kämpferische Haltung. Es gelte das Verständnis dafür zu wecken, dass das Immunsystem durch eine starke Forderung im Rahmen des Infektes nicht flexibel reagieren kann. In der Perzeption des Themas in der Öffentlichkeit beobachtet Peters jedoch das Narrativ „Starke Psyche, starkes Immunsystem“: Die kämpferische Perspektive auf die Immunantwort sehe die Vermeidung von Stress als eine der wichtigsten Möglichkeiten an, den Weg von Stress zur Krankheit zu verhindern – die Gesundheits- und Fitnessindustrie habe hieraus ein äußerst lukratives Geschäftsmodell entwickelt.

Was können nun die Erkenntnisse der Psychoneuroimmunologie zur Bewältigung von Krankheiten beitragen, vor allem wenn Entzündungen eine wichtige Rolle spielen – wie aktuell auch beim Long-COVID-Syndrom? Alles das, was uns in einen Zustand der „Selbstwirksamkeit“ zurückversetzt, trägt laut Peters dazu bei, dass neuroendokrine und Immuninteraktionen wieder in eine Balance kommen. So reduziere Psychotherapie die immunologische Imbalance und flexibilisiere die Immunantwort. 

The Learned Immune Response 

Die Immunfunktion ist aber nicht nur durch Stress und entsprechende Interventionen beeinflussbar, sie lässt sich auch durch assoziative Lernprozesse verändern, lautete die Kernbotschaft des Vortrags von Manfred Schedlowski. Möglich sei die Konditionierung der Immunfunktion aufgrund der intensiven Kommunikation zwischen dem peripheren Immunsystem und dem Gehirn, die auf unterschiedlichen Bahnen immer wieder Informationen austauschten.

Dass Erwartungen den Behandlungserfolg beeinflussen können, ist in der Medizin als Placeboeffekt hinreichend bekannt. Wie man mit gelernten Immunreaktionen sogar die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten beeinflussen kann, zeigte der Diplom-Psychologe und Wissenschaftler an einem eindrücklichen Beispiel auf. In einer Studie nahmen Patienten im Rahmen einer Nierentransplantation zusätzlich zu den Immunsuppressiva ein giftgrünes, aber harmloses Getränk zu sich – in der Folge verstärkte sich die Hemmung des Immunsystems nochmals deutlich, die Abwehr wurde auf den Reiz des Tranks konditioniert, vermittelt wurde dieser Effekt über die Psyche. 

Das Forscherteam um Schedlowski will diese Lernprozesse für die Praxis weiterentwickeln mit dem Ziel, die eingesetzte Dosierung von Medikamenten und deren unerwünschte Wirkungen zu minimieren bei gleichzeitiger Maximierung der therapeutischen Effekte.

Pandemien als Herausforderung

Professor Dr. Heiner Fangerau, Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, beleuchtete die Coronapandemie als „Ereignisraum zwischen Erreger und Gesellschaft“ und ordnete sie in den geschichtlichen Zusammenhang vergangener Pandemien ein. Er stellte die Rolle des Staates als gesundheitspolitischer Akteur am Beispiel der Bedrohung durch die Cholera im 19. Jahrhundert und medizinische Konzepte der Gesundheitssicherung wie die Keimeradikation von Robert Koch vor, die bis heute in unserem Gesundheitssystem Bestand haben. Auch ging der Medizinethiker auf das Streit erzeugende Potenzial von Pandemien ein und zog als Fazit, dass jede Pandemie von den Betroffenen als Kränkung empfunden werde, sowohl zivilisatorisch wie auch zwischenmenschlich. 

In einem Dialog zwischen Hausarzt und Psychiater stellten Dr. Bernhard Grundmann und Dr. Wolfgang Hagemann, Gründer der Röher Parkklinik GmbH Eschweiler, verschiedene Interventionstechniken wie Empathie, aktives Zuhören und Reframing vor, um die Achtsamkeit und positive Selbstwahrnehmung der Patienten zu unterstützen. Dies bedeute vor allem, die eigenen Kräfte, die blockiert sind oder nicht hilfreich verbraucht werden, zu mobilisieren. Deshalb sei das Finden eines Zuganges zu den inneren Ressourcen so wichtig. 

Neurologisch oder neurotisch?

Den Bogen zu den Krankheitsfolgen der aktuellen Coronapandemie schlug Professorin Dr. Kathrin Reetz, Leiterin der Sektion Translationale Neurodegeneration der Klinik für Neurologie, Uniklinik RWTH Aachen. Die Klinik hat rasch eine neurologische Post-COVID-Sprechstunde eingerichtet und zeitgleich eine Long-Neuro-COVID19-Studie aufgesetzt, um die Vielfalt neurologischer Symptome zu erfassen und zu objektivieren. Zwar gelinge bereits eine Einordnung und Definition des Phänotyps von Long-COVID, aber eine zeitliche Dimension der Prävalenz der Symptome und die longitudinale Entwicklung abzuschätzen sei noch schwierig. 

Anknüpfend an die Erkenntnisse Schedlowskis verwies Reetz auf Studien, die einen starken Placebo-Effekt bei COVID-19-Patienten belegen: Allein der Glaube an die Infektion rief ähnliche Symptome wie bei tatsächlich Erkrankten hervor. Auch gelten laut Reetz psychische Vorerkrankungen als Risikofaktor für ein prolongiertes Krankheitsbild und die hohe mediale Aufmerksamkeit, die das Thema erfahre, könne zu verstärkter Selbstbeobachtung führen.

Der Einsatz funktioneller Bildgebung habe erste Muster bei Long-COVID im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen ergeben, wie beispielsweise die Veränderung in subkortikalen Strukturen. Beispielsweise kann Reetz zufolge ein abnormales Immunprofil noch acht Monate nach Infektion bestehen, es zeigten sich Vernarbungen in Gehirn, Lunge und Niere oder auch deformierte Erythrozyten im Blutbild. Aus Studien sei mittlerweile bekannt, dass sich bei COVID-Patienten auch Zytokine relativ lang verändert zeigen könnten. Es könnten sich antiidiotypische Antikörper bilden, die eine mögliche Erklärung für immunologische Phänomene bei Long-COVID darstellten.

Auch in der anschließenden Podiumsdiskussion wiesen die Teilnehmer noch einmal auf die Relevanz eines interdisziplinären Managements der Erkrankung hin, verbunden mit Information und Aufklärung der Patienten. Die Abgrenzung von neurologischen zu psychosomatischen Symptomen sei nicht immer leicht, aber es gelte, die Patienten ernst zu nehmen und bei ihrem Rekonvaleszenzprozess durch frühzeitige Stimulierung der Aktivität und psychotherapeutische Begleitung zu unterstützen, fasste Moderator Dr. Ivo Grebe zusammen.

Doch bei aller Sorge um die Patienten gelte es auch, die Selbstfürsorge von Ärztinnen und Ärzten nicht zu vernachlässigen, um die vielfältigen Belastungen durch die Coronapandemie auch langfristig zu bewältigen, wie Christa Bartels, Psychotherapeutin und Nervenärztin sowie Vorstandsmitglied und Vorsitzende des Ausschusses für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik und für Ärztegesundheit der Ärztekammer Nordrhein, betonte. Dies werde für die angestellten Ärztinnen und Ärzte durch ausreichende Angebote wie Supervisionen oder Balintgruppen unterstützt; der Appell zur Selbstfürsorge gelte aber auch für die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen. 

Die Videodokumentation des 3. Aachener Psychosomatik-Tages ist abrufbar unter www.aekno.de.

Dr. phil. Ulrike Schaeben ist Referentin für die Koordination der Kreisstellen der Ärztekammer Nordrhein 

Fünf Jahre Aachener Psychosomatik-Tage

Die Initiative Aachener Psychosomatik-Tage wurde vor fünf Jahren von Psychiatern und Psychologischen Psychotherapeuten aus der Region Aachen mit dem Ziel gegründet, ein Forum des interdisziplinären Austauschs zu schaffen und den von Professor Dr. Waltraud Kruse († 2019) und weiteren Kollegen initiierten Westdeutschen Psychotherapietagen einen neuen Rahmen zu geben. 

Gemeinsam mit den beiden Aachener Kreisstellen der Ärztekammer Nordrhein hat die Initiative seit 2018 drei Fachtagungen ausgerichtet, um Antworten auf die aktuellen Herausforderungen zu suchen, die sich aus der Zunahme psychosomatischer Störungen in den Praxen und Kliniken ergeben.