Wird eine technisch fehlerhafte Röntgenuntersuchung des Thorax nicht wiederholt und auch keine Untersuchung in zwei Ebenen durchgeführt, liegt ein Befunderhebungsfehler vor. Im vorliegenden Begutachtungsfall wurde zudem eine flaue Verschattung vom Arzt nicht erkannt, die – bei Angabe von Hämoptysen und zurückliegender ausgeprägter Nikotinanamnese – eine zeitnahe Computertomografie des Thorax zur Abgrenzung einer Entzündung von einem Tumor erfordert hätte. Bei Infektverdacht mit Verschreiben eines Antibiotikums hätte eine zeitnahe Kontrolle mit dem Patienten vereinbart werden müssen (therapeutische Hinweispflicht).
von Bernd Sanner, Margarete Gräfin von Schwerin und Beate Weber
Ein Lungenkarzinom ist bei Männern nach dem Prostatakarzinom die zweithäufigste bösartige Tumorerkrankung. Nach der S3-Leitlinie Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Lungenkarzinoms (2018) stellt Nikotinabusus den alles überragenden Hauptrisikofaktor dar. Die Dauer des Rauchens ist demnach der wichtigste Einflussfaktor. Symptome des Lungenkarzinoms treten oft erst in späteren Stadien auf. Typische Symptome sind Husten und blutig tingiertes Sputum, zudem Allgemeinsymptome wie Gewichtsverlust, Nachtschweiß und Abgeschlagenheit. Die späte Diagnose ist mitverantwortlich für die hohe Sterblichkeit an einem Lungenkarzinom. Die Nutzen-Risiko-Abwägung eines Früherkennungsprogramms ist zwar unumstritten, allerdings hat bisher kein zur Verfügung stehendes Verfahren zu einer uneingeschränkten positiven Empfehlung geführt. Gerade vor diesem Hintergrund ist bei neu aufgetretener Lungensymptomatik (zum Beispiel Husten und/oder Hämoptoe) bei Patientinnen und Patienten mit einer Raucheranamnese zeitnah eine Vorstellung bei einem Lungenfacharzt inklusive einer Röntgenbildgebung als Basisdiagnostik geboten. Die Konstellation von Hämoptoe und unauffälligem Röntgenthoraxbild bei über 40-jährigen Patienten mit COPD und/oder Raucheranamnese sollte Anlass sein, die Indikation für eine weitere Diagnostik wie CT-Thorax und/oder Bronchoskopie zu prüfen. Hier ist zu bedenken, dass ein respiratorischer Infekt ein Lungenkarzinom nicht ausschließt, sondern dieses gegenteilig sogar durch die veränderte Anatomie entstanden sein kann.
Nach der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin zur Diagnostik und Therapie von erwachsenen Patienten mit Husten (2019) ist Husten weltweit eines der häufigsten Symptome, das zur ärztlichen Vorstellung führt. Akute virale Infekte sind dabei die häufigste Ursache von Erkältungsinfekten, die etwa nach neun bis zwölf Tagen spontan ausheilen. Viele andere Ursachen durch fast alle pneumologischen und einige nichtpneumologische Erkrankungen kommen infrage. Werden Patientinnen und Patienten vom Hausarzt an den Lungenfacharzt zur weiteren Diagnostik überwiesen, liegen meist ein chronischer Husten oder andere Alarmzeichen wie zum Beispiel Hämoptoe, Atemnot, Thoraxschmerz, hohes Fieber oder Begleiterkrankungen vor. Auch wenn ein Husten nach einem akuten broncho-pulmonalen Infekt persistiert, ist dies nicht mit einer Persistenz zum Beispiel des Virusinfektes gleichbedeutend. Während bei einem akuten Husten ohne Alarmzeichen auf technische Untersuchungen verzichtet werden kann, sollte bei einem akuten Husten mit Alarmzeichen die adäquate Diagnostik ohne Zeitverzögerung erfolgen. Auch bei einem chronischen Husten muss die Diagnostik mit einer Röntgenaufnahme der Thoraxorgane und einer Lungenfunktionsprüfung unverzüglich erfolgen. Dabei markiert die willkürlich gezogene Grenze von acht Wochen zur Differenzierung des akuten vom chronischen Husten den obligatorischen Start der ausführlichen Diagnostik.
Die Gutachterkommission hatte sich in den Abschlussjahren 2017 bis 2021 in 21 Fällen mit dem Vorwurf einer nicht zeitgerechten Erkennung eines Lungenkarzinoms zu befassen. Dieser Patientenvorwurf war in zehn Fällen begründet. Dabei wurde jeweils in vier Fällen eine gebotene Röntgenuntersuchung des Thorax versäumt beziehungsweise der Befund verkannt, in einem Fall wurde eine weiterführende Diagnostik trotz erkanntem auffälligem Befund nicht veranlasst und einmal eine Sicherungsaufklärung über einen abklärungsbedürftigen Zufallsbefund im Routine-Thorax versäumt.
Über einen Fall wollen wir nachfolgend exemplarisch berichten.
Ein Mitte 60-jähriger Patient wirft dem von ihm im Herbst 2018 aufgesuchten Internisten vor, dass ein zehn Monate später aufgedecktes Lungenkarzinom bereits bei der Erstvorstellung hätte erkannt werden müssen. Bedingt durch das zwischenzeitliche erhebliche Größenwachstum habe sich die Prognose mit Inoperabilität deutlich verschlechtert. Obwohl auf der Röntgenaufnahme das obere Drittel der Lungen nicht abgebildet worden sei und er über Blut im Sputum berichtet habe, habe sich der Arzt mit der Qualität der Aufnahme zufriedengegeben. Der Arzt habe ihm gegenüber einen Karzinomverdacht ausgeschlossen, beruhigend von einem grippalen Infekt gesprochen und ein Antibiotikum verschrieben. Nach der Einnahme habe sich kein Blut mehr im Sputum gezeigt. Zu einer Kontrolluntersuchung sei er vom Arzt nicht aufgefordert worden.
Der in Anspruch genommene Internist weist die Vorwürfe des Patienten zurück. Bei Therapieresistenz der von ihm veranlassten antibiotischen Behandlung wäre eine Wiedervorstellung und Diagnostik nach etwa zwei Wochen möglich gewesen und mit großer Wahrscheinlichkeit auch veranlasst worden. Der Zeitverzug von zehn Monaten habe im Verantwortungsbereich des Hausarztes und des Patienten gelegen. Die Röntgenaufnahme des Thorax p.a. sei von ihm in einer orthopädischen Praxis im selben Gebäude in Auftrag gegeben und dort nicht optimal durchgeführt worden. Seine Aufgabe sei es gewesen, eine Beurteilung vorzunehmen. Eine zusätzliche Information über eine mögliche Tumorerkrankung wäre durch die Seitaufnahme seines Erachtens nach nicht zu erwarten gewesen. In Anbetracht der klinischen Symptomatik und der Laborbefunde des erhöhten CRP habe er sich – in der Erwartung einer Wiedervorstellung – zunächst für eine antiinfektiöse Therapie entschieden. Hierüber habe er den Hausarzt in seinem zeitnah erstellten ausführlichen Befundbericht informiert.
Sachverhalt
Nach dem zur Begutachtung eingereichten Befundbericht an den Hausarzt stellte sich der Patient bei dem von ihm im Verfahren vor der Gutachterkommission belasteten Facharzt für Innere Medizin, Lungen- und Bronchialheilkunde erstmalig mit über drei Wochen – aber in den letzten zwei bis drei Tagen nicht mehr – bestehendem blutig gefärbtem grünlichen Sputum vor. Zudem wurden gelegentliche Missempfindungen in der Brust belastungsunabhängig geklagt, aber keine Angina pektoris-Beschwerden. Anamnestisch bekannt sei eine arterielle Hypertonie. Ein Nikotinkonsum sei vor drei Jahren beendet worden (insgesamt circa 70-80 pack years). Es bestünden keine ungewollte Gewichtsänderung, keine Ödeme, kein Nachtschweiß, keine auffällige Dyspnoe und kein Infekt.
Der Internist berichtete weiter, dass er eine körperliche Untersuchung inklusive Auskultation der Lungen mit freiem Befund, ein EKG, ein Belastungs-EKG (bis 175 Watt mit Herzfrequenz von 126/Minute), eine Bestimmung der Sauerstoffsättigung (in Ruhe und bei Belastung 94 Prozent), eine Echokardiografie, eine Stressechokardiografie, eine Duplex-Untersuchung der Carotiden, eine Sonografie der Bauchaorta und eine Lungenfunktionsprüfung mittels Bodyplethysmografie mit jeweils unauffälligen Befunden durchgeführt habe. Die Blutlaboruntersuchung habe eine Erhöhung des CRP-Wertes auf 7,74 mg/l (Norm: < 5,0 mg/l) ergeben. Die Röntgenuntersuchung des Thorax p.a. habe folgenden Befund gezeigt: „Normal großes, normal konfiguriertes Herz. Das obere Mediastinum ist nicht verbreitert. Das aortopulmonale Fenster ist frei. Die Hili sind gefäßkonfiguriert. Kein pulmonales Infiltrat, keine Stauung, kein Erguss, keine Rundherde.“ Zusammenfassend sei das grünliche Sputum mit blutiger Beimengung als am ehesten infektbedingt interpretiert und eine antibiotische Therapie mit Azithromycin 500 verordnet worden.
Der Patient wurde zehn Monate später durch den Hausarzt in einem Krankenhaus vorgestellt, nachdem die pneumologische Diagnostik inklusive Thorax-CT einen großen Herd mit Verdacht auf ein Lungenkarzinom im Lungenoberlappen mit Kontakt zur Pleura aufgedeckt hatte. Histologisch zeigte sich ein niedrig differenziertes Plattenepithelkarzinom. Die drei Wochen später durchgeführte Thorakoskopie zeigte eine Pleurakarzinose mit Inoperabilität auf (Tumorstadium cT3 (5,5 cm), cN0, pM1a, Stadium IV). Dem Patienten wurde eine palliative Radiochemotherapie empfohlen.
Bewertung durch die Gutachter
Der radiologische und der internistisch-pneumologische Gutachter kamen in ihren jeweiligen Gutachten zu der Bewertung, dass die auf die geschilderten Beschwerden des Patienten (blutig verfärbtes, grünliches Sputum nach eingestelltem, langjährigem Tabakkonsum) hin durchgeführte Röntgenuntersuchung des Thorax technisch fehlerhaft durchgeführt worden sei. Die Aufnahme sei aufgrund großer Kontraste schlecht beurteilbar gewesen, die Lunge sei ohne die Lungenspitzen nicht komplett abgebildet und standardwidrig nur in einer Ebene durchgeführt worden; die seitliche Projektion sei nicht veranlasst worden. Die gleichwohl im rechten Lungenoberfeld erkennbare flaue Verschattung hätte Anlass zu weiterer Diagnostik geben müssen, in erster Linie mittels Thorax-CT. Das Unterlassen stelle einen einfachen Behandlungsfehler dar. Dadurch bedingt sei die Diagnose einer pulmonalen Raumforderung erst zehneinhalb Monate später gestellt worden.
Ob allerdings die verzögerte Diagnostik zu einer relevanten Verschlechterung des Tumorstadiums und der Prognose geführt habe, lässt sich nach Auffassung der Fachsachverständigen nicht mit Gewissheit beantworten. Es lasse sich weder beweisen noch ausschließen, ob im Herbst 2018 ein günstigeres Tumorstadium und insbesondere noch keine Metastasierung des Rippenfells vorgelegen habe.
Der Patient beantragte daraufhin eine abschließende Begutachtung durch die Gutachterkommission, insbesondere mit der Begründung, dass von einem schwerwiegenden Befunderhebungsfehler auszugehen sei.
Bewertung durch die Gutachterkommission
Die Gutachterkommission stimmte den Fachsachverständigen im Hinblick auf den festgestellten Behandlungsfehler zu und bewertete diesen klarstellend als Befunderhebungsfehler mit der Folge einer Beweislastumkehr zugunsten des Patienten gemäß § 630h Abs. 5 S. 2 BGB. Vom Arzt hätte zudem auf jeden Fall ein kurzfristiger Kontrolltermin veranlasst werden müssen (therapeutische Hinweispflicht).
Auch die technisch korrekte Durchführung und das Erkennen der Verschattung im rechten Lungenoberfeld hätte – bei anamnestischer Angabe von Hämoptysen und ausgeprägter Nikotinanamnese – in Ergänzung eine Computertomografie des Thorax zur Differenzierung des Befundes erfordert. Hier wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit eine tumoröse Formation erkennbar gewesen, woraufhin weitere diagnostische und therapeutische Maßnahmen hätten folgen müssen. Die Verkennung der vorliegenden pathologischen Veränderungen im rechten Lungenoberlappen im Thorax-CT hätte als fundamental bezeichnet werden müssen, eine Nichtreaktion auf diese Veränderung wäre als schwerwiegender Behandlungsfehler zu interpretieren gewesen. Die weitere Diagnostik hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu geführt, dass die endgültige Diagnose des Lungenkarzinoms früher als erst nach zehn Monaten Verzögerung gestellt worden wäre. Dies hätte zugunsten des Patienten zur Konsequenz gehabt, dass eine entsprechende Therapie früher hätte begonnen werden können. Inwieweit dies die Prognose verbessert hätte, kann jedoch nicht festgestellt werden.
Professor Dr. med. Bernd Sanner ist Stellvertretendes Geschäftsführendes Kommissionsmitglied, Margarete Gräfin von Schwerin ist Stellvertretende Vorsitzende und Dr. med. Beate Weber ist die für die Dokumentation und Auswertung der Begutachtungen zuständige Referentin der Gutachterkommission Nordrhein.