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Meinung

Die Folgen des Fachkräftemangels

20.04.2022 Seite 3
RAE Ausgabe 5/2022

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 5/2022

Seite 3

Rudolf Henke © Jochen Rolfes
Wer in Praxen, Kliniken oder im Öffentlichen Gesundheitsdienst arbeitet, ist im dritten Jahr der Pandemie nicht mehr weit entfernt von mentaler und körperlicher Erschöpfung oder sogar schon mitten darin. Es ist alles sehr viel, und das Verständnis dafür außerhalb des Gesundheitswesens schmilzt. Seit Jahren klagt die Ärzteschaft über Fachkräftemangel. Aber noch nie war so mit Händen zu greifen, dass er ein Risiko sowohl für die bedeutet, die im Gesundheitswesen arbeiten, als auch für Patientinnen und Patienten. Nur dem immensen Einsatz aller dort Tätigen ist es zu verdanken, dass das System über die letzten Jahre standgehalten hat.

Dabei war auch ohne Coronakrise schon lange absehbar, dass in einer Gesellschaft des langen Lebens der medizinische und pflegerische Versorgungsbedarf eher steigt als sinkt. Auch auf mehreren Kammerversammlungen haben wir auf die Konsequenzen des Fachkräftemangels hingewiesen und Möglichkeiten zu seiner Beseitigung aufgezeigt. 

Konkret haben wir eine deutliche Aufstockung von Medizinstudienplätzen gefordert, die Herausnahme der Kosten für das gesamte medizinische Krankenhauspersonal aus der DRG-Finanzierung, die notwendigen Mittel für einen Coronabonus oder gleichsinnige Gehaltserhöhungen für die Medizinischen Fachangestellten und für die Pflege als Zeichen gesellschaftlicher Wertschätzung sowie die konsequente Umsetzung der Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, zu der eine arztspezifische tarifvertragliche Vergütung der Ärztinnen und Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst unbedingt dazugehört.  
Zwar haben NRW und einige wenige andere Bundesländer die Zahl der Medizinstudienplätze erhöht, doch es ist zu befürchten, dass dieses Engagement noch nicht reichen wird, um die bald ausscheidende Ärztegeneration zu ersetzen. 

Statt für mehr Personal durch die Einrichtung von entsprechenden Studien- und Ausbildungsplätzen zu sorgen, statt durch genügend Mittel für eine angemessene Bezahlung und eine familienkompatible Arbeitszeitgestaltung dafür zu sorgen, dass qualifizierte Kräfte nicht in patientenferne Tätigkeiten abwandern, und statt durch eine wertschätzende Politik das Ansehen aller Gesundheitsberufe zu steigern, wird viel zu oft nur punktuelle Kosmetik betrieben und an Ersatzszenarien gearbeitet, die an den realen Bedürfnissen von Patientinnen und Patienten vorbeigehen. 
Den ärztlichen Personalmangel kann man weder dadurch kompensieren, dass man ihrer aktuellen Belastung zum Trotz andere Gesundheitsberufe ärztliche Aufgaben leisten lässt, noch dass man Telemedizin und Künstliche Intelligenz als Allheilmittel missversteht. 

Natürlich können durchdachte E-Health-Lösungen bei der Versorgung helfen und sie sollten mehr zum Einsatz kommen. Und sicher gibt es manches, was Ärztinnen und Ärzte auf andere Gesundheitsberufe delegieren könnten. Aber mit solchen Szenarien ist noch kein multimorbider Patient ausreichend (haus-)ärztlich versorgt. Viele Menschen, gerade die Hochbetagten, möchten nicht via Bildschirm, sondern unmittelbar von ihnen vertrauten Ärztinnen und Ärzten behandelt werden.

Hat es nicht dauerhafte Folgen für unser Berufsbild, wenn andere Gesundheitsberufe den Patientenkontakt pflegen sollen und unsere Arbeit darauf reduziert wird, im Minutentakt per Videochat Diagnosen zu stellen und Therapien anzuordnen? Hilft es unseren Patienten wirklich, wenn durch solche Lösungen der persönliche Kontakt verloren geht und das für die Genesung so wichtige Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient ausgehöhlt wird? 

Geben wir acht, dass der Fachkräftemangel nicht zu einer schleichenden Veränderung des ärztlichen Berufsbilds und zu einer Medizin führt, die den Patienten gar nicht mehr in seiner Ganzheitlichkeit erfasst, weil dafür schlicht die Zeit und der persönliche Kontakt fehlt!

Rudolf Henke, Präsident der Ärztekammer Nordrhein