Vorlesen
Meinung

Wegsehen nicht erlaubt!

23.11.2022 Seite 3
RAE Ausgabe 12/2022

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 12/2022

Seite 3

Rudolf Henke © Jochen Rolfes

Gewalt gegen medizinisches Personal ist ein weltweit wachsendes Problem, das das Recht aller Patientinnen und Patienten auf eine gute Gesundheitsversorgung sowohl in Friedens- wie auch in Kriegszeiten gefährdet. Gewalt gefährdet die direkte Patientenversorgung, Gewalt gefährdet die Gesundheit des medizinischen Personals, Gewalt zerstört nachhaltig das Arzt-Patientenverhältnis, humanitäre Werte und Wissenschaft.

Gewalt gegen medizinisches Personal wird sowohl von Diktatoren und ihren Regimen und politischen Gruppierungen als auch von Einzelpersonen verübt. Doch im Ergebnis schadet Gewalt, ganz gleich, von wem sie ausgeübt wird, im Kern immer den Kranken und Schutzbedürftigen, denen wir uns in unserem ärztlichen Gelöbnis verpflichtet haben.


Erschüttert verfolgen wir, dass derzeit im Iran Sicherheitskräfte des Regimes gegen Ärztinnen und Ärzte vorgehen, die verletzte Demonstranten behandeln wollen. Die Versorgung der Verletzten wird mitunter als Straftat ausgelegt. Wir verurteilen solch ein Vorgehen auf das Schärfste.


In der Türkei ist am 26. Oktober die Vorsitzende des türkischen Ärzteverbandes, Sebnem Korur Fincanci, festgenommen worden, nachdem sie die Untersuchung eines möglichen Einsatzes von chemischen Waffen der türkischen Armee gegen die kurdische Bevölkerung im Irak gefordert hatte. Mögliche Menschenrechtsverletzungen zu thematisieren, ist aber die Pflicht jeder Ärztin und jedes Arztes und darf niemals Grund für Inhaftierung sein. Wir fordern die sofortige Freilassung unserer Kollegin.


In Deutschland und anderen Ländern kommt es seit der Coronapandemie vermehrt zu Gewalt und Drohungen gegenüber Ärztinnen und Ärzten in Praxen, Impfzentren und Notaufnahmen. Praxen und Impfzentren werden zu Zielscheiben von Vandalismus, Ärztinnen und Ärzte nicht nur in den sozialen Medien verfolgt und bedroht. Mit diesem völlig inakzeptablen Vorgehen gefährden die Täterinnen und Täter die medizinische Versorgung, wenn Praxen wegen des Terrors nicht mehr erreicht werden können, weil sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht mehr ans Telefon wagen oder Ärztinnen und Ärzte unter dem Druck krank werden. Der Suizid einer jungen österreichischen Ärztin aus dem Sommer dieses Jahres ist uns allen noch in Erinnerung.


Zurecht hat der Weltärztebund in diesem Jahr in Berlin in einer gemeinsamen Erklärung die Einführung einer Null-Toleranz-Politik gegenüber Gewalt am Arbeitsplatz gefordert. Denn Gewalt gegen Ärztinnen und Ärzte bedroht nachhaltig nicht nur deren Berufsausübung, sondern auch deren Wohlbefinden und Gesundheit.
Und nein, Bedrohungen und Angriffe auf Praxen sind keine Bagatellen. Sie sind deshalb keine Bagatellen, weil ihre Auswirkungen in einem ohnehin schon am Limit arbeitenden Gesundheitssystem letztendlich den Ausschlag dafür geben können, ob Patientenversorgung überhaupt noch aufrechterhalten werden kann.


Doch die Folgen systematischer Drohungen und Gewalt gehen noch weiter: sie schaden der evidenzbasierten Medizin. Denn welche Wissenschaftler und welche Ärztinnen und Ärzte sind nach solchen Hetzkampagnen noch gewillt, ihre Erkenntnisse und Einschätzungen aus evidenzbasierten Studien öffentlich zu diskutieren, wenn sie befürchten müssen, dass dies ihre Familien und Praxisangestellten gefährdet. Das Ergebnis ist, dass Wissenschaft und wissenschaftlicher Diskurs aus der Öffentlichkeit verschwinden und einer glaubensbasierten Wirklichkeit Platz machen.


Wenn wir das für die Medizin nicht wollen, dann muss das Thema auf die politische Agenda, es braucht Daten und Schutzkonzepte in Deutschland wie auch im Rest der Welt.

Rudolf Henke