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„Triage ist immer eine tragische Entscheidung“

18.03.2022 Seite 28
RAE Ausgabe 4/2022

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 4/2022

Seite 28

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung Mitte Dezember den Gesetzgeber verpflichtet, im Falle einer pandemiebedingten Ressourcenknappheit zu verhindern, dass Menschen mit Behinderung bei Therapieentscheidungen diskriminiert werden. In einer Online-Veranstaltung der Ärztekammer Nordrhein Anfang März diskutierten Experten aus der Intensiv- und Notfallmedizin, Ethiker und Vertreter der Behindertenhilfe, wie eine mögliche Gesetzgebung aussehen könnte.  

von Jocelyne Naujoks

„Der Wert eines Lebens kann nicht gegen den eines anderen abgewogen werden“, sagte Rudolf Henke, Präsident der Ärztekammer Nordrhein, Anfang März bei einer Online-Veranstaltung der Ärztekammer Nordrhein zum Triage-Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vom 16. Dezember 2021 (siehe Kasten). Eine Triage-Situation sei immer eine absolute Ausnahmesituation, in der stets einzelfallbezogene Entscheidungen getroffen werden müssten. Dabei dürfe es keine Zuordnung zu bestimmten Gruppen aufgrund des Alters oder von Behinderung geben, betonte Henke. Das BVerfG hatte den Gesetzgeber Mitte Dezember aufgefordert, unverzüglich einen Gesetzentwurf vorzulegen, um im Falle einer pandemiebedingten Triage sicherzustellen, dass Menschen nicht aufgrund ihrer Behinderung benachteiligt werden. Das Gericht überließ dabei dem Gesetzgeber, ob er Vorgaben zu den Kriterien oder zum Verfahren der Verteilungsentscheidung macht. In der Frage, wer die nicht ausreichend zur Verfügung stehenden intensivmedizinischen Ressourcen erhalten soll und wer nicht, dürfe allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden werden, so das BVerfG. 

Eine echte Triage-Situation gab es bislang nicht

„Eine Triage-Entscheidung ist immer eine tragische Entscheidung“, sagte Professor Dr. Gernot Marx, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Diese hatte gemeinsam mit acht weiteren Fachgesellschaften bereits Anfang 2020 eine Handlungsempfehlung für den Fall pandemiebedingter zu knapper personeller und materieller Ressourcen in der Intensiv- und Notfallmedizin herausgegeben. Die DIVI habe damals vor dem Hintergrund der Bilder aus dem italienischen Bergamo eine Empfehlung für den Fall erarbeitet, dass mehr Patienten auf die Intensivstationen eingeliefert werden als Beatmungsgeräte zur Verfügung stehen. In den darauf folgenden Monaten der Pandemie sei es durchaus auch in deutschen Krankenhäusern zu Priorisierungsentscheidungen gekommen in dem Sinne, dass Operationen verschoben und Patienten in andere Krankenhäuser verlegt werden mussten. Eine echte Triage, bei der die vorhandenen Ressourcen nicht mehr für die Versorgung aller ausreichten, habe es seines Wissens nach auf den Intensivstationen aber bislang nicht gegeben. „Eine Triage ist eine absolute Ausnahmesituation – insbesondere in der Intensivmedizin, insbesondere in Deutschland“, sagte Marx. Das deutsche Gesundheitswesen verfüge über mehr Intensivkapazitäten als jedes andere europäische Land. 

Das entscheidende Auswahlkriterium im Falle einer Triage ist Marx zufolge die aktuelle klinische Erfolgsaussicht. Entscheidend sei dabei, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Patient die aktuelle Erkrankung mit Hilfe der Intensivtherapie überleben könne. 
Grundlegend für diese Entscheidung sei die klinische Erfahrung des Arztes, so Marx. „Das akute klinische Bild ist extrem wichtig, um eine Entscheidung zu treffen. Das hat, ehrlich gesagt, relativ wenig mit bereits vorliegenden chronischen Erkrankungen oder Behinderungen zu tun“, betonte er. Mit Blick auf den Beschluss des BVerfG hält Marx präzise Verfahrensanforderungen durch den Gesetzgeber für einen gangbaren Weg, um Entscheidungen über die Verteilung intensivmedizinischer Behandlungsressourcen zu regeln. Ein Mehraugenprinzip und Vorgaben für die Dokumentation, wie es das Gericht vorgeschlagen habe, mache eine Entscheidung und den Weg dahin nachvollziehbar.  

„Erfolgswahrscheinlichkeit immer diskriminierend“

Menschen mit Behinderung würden bei einer Triage nach Erfolgswahrscheinlichkeit immer eine zumindest mittelbare Diskriminierung erfahren, wandte Nancy Poser ein, Richterin am Amtsgericht Trier und Beschwerdeführerin vor dem Bundesverfassungsgericht. Ihr zufolge erhalten Menschen mit Behinderung häufig falsche Prognosen und werden dadurch vielfach unbewusst diskriminiert. Die Behinderung bringe zudem meist Komorbiditäten mit sich, wodurch die Betroffenen gegenüber gesunden Menschen einen tatsächlichen physischen Nachteil hätten. Dieser senke in der Folge dann die Chancen auf eine Behandlung. Die Richtlinien der DIVI folgten dem Prinzip „survival of the fittest“ und glichen damit einem „Todesurteil“ für Menschen mit Behinderung, kritisierte Poser. Sie schlug stattdessen ein „randomisiertes“ Verfahren im Falle einer Ressourcenknappheit vor, zum Beispiel indem die Patienten, die zuerst kommen, auch zuerst behandelt werden. 

Eine Randomisierung könne im Falle einer Triage Menschen mit Behinderung eine faire Chance geben und weniger diskriminierend sein, sagte Dr. Maria del Pilar Andrino, Leiterin des Gesundheitszentrums des Franz-Sales-Hauses in Essen. Ihrer Ansicht nach greift es jedoch zu kurz, wenn Triage nur als Teil der Intensivmedizin gedacht wird. Diese finde bereits statt, bevor die Menschen die Kliniken überhaupt erreichten. So seien Menschen mit Behinderung während der Pandemie gar nicht erst in die Kliniken eingeliefert worden. Andrino schlug vor, gemeinsam mit Vertretern der Ärzteschaft und der Behindertenhilfe die DIVI-Leitlinien entsprechend zu überarbeiten.

Eine Randomisierung ohne Hilfskriterien sei zu kurz gedacht, gab Dr. Sven Dreyer, Leiter der Stabsstelle Medizinische Prozessorganisation am Universitätsklinikum Düsseldorf und Vorstandsmitglied der Ärztekammer Nordrhein, zu bedenken, der die Veranstaltung moderierte. Eine Triage-Entscheidung müsse eine ärztliche Entscheidung bleiben, betonte er.

Hohe Belastung für Ärzte und Pfleger

Medizinische Entscheidungen müssten auch während einer Pandemie auf den Kriterien medizinische Indikation und Patientenwillen basieren, forderte Dr. Stefan Meier, Oberarzt an der Klinik für Anästhesiologie am Universitätsklinikum Düsseldorf und Mitglied des Gründungsausschusses für das Komitee für medizinethische Beratung der Ärztekammer Nordrhein. In Düsseldorf habe ein eigens gebildetes „Sofort Team Ethik“ in Anlehnung an die Empfehlungen der Fachgesellschaften einen Stufenplan entwickelt, der das Vorgehen bei einem zunehmenden Mangel an Ressourcen regele. „Einen Teil unserer täglichen Arbeit bestimmte die Frage, welche Ressourcen tagesaktuell in Anbetracht der aktuellen Anzahl von Coronapatienten zur Verfügung standen“, berichtete Meier. In Spitzenzeiten seien bis zu einem Viertel der verfügbaren Betten freigehalten worden, um die wachsende Anzahl von COVID-19-Patienten versorgen zu können. Aktuell würden etwa zehn Prozent der Betten nicht betrieben, vor allem aufgrund von Personalausfällen. 

Die hohe Sterberate der Patientinnen und Patienten auf den Intensivstationen sei schon abseits von Priorisierungsentscheidungen eine große Belastung für das ärztliche und pflegerische Personal gewesen, so Meier. Das habe auch immer wieder zu Schuldgefühlen bei den behandelnden Ärzten und Pflegern geführt. Die Uniklinik habe infolgedessen neben internen Gesprächsrunden und Informationsveranstaltungen auch eine externe Supervision verstetigt. Ärzte und Pflegende konnten zudem in Kommunikationsseminaren speziell auf COVID-19-Fälle ausgerichtete Gespräche üben.

Als große Herausforderung habe er die Kommunikation mit den Angehörigen empfunden, die meist nur telefonisch stattfinden konnte, erklärte Meier. Angehörige und Patienten hätten vielfach Therapien in Frage gestellt oder alternative Behandlungen eingefordert. Prognosen seien angesichts der Neuartigkeit der Erkrankung zum Teil schwierig gewesen. Ärzte und Pfleger seien zudem häufig mit der Annahme vonseiten der Angehörigen konfrontiert worden, dass Behandlungsentscheidungen aufgrund der Bettenknappheit getroffen würden, berichtete Meier. „Es war immer wieder eine Herausforderung zu erklären, dass dies nicht der Fall war.“ Die andauernde Diskussion über die Priorisierung von Therapien habe seines Erachtens dazu geführt, dass sich die Menschen in Deutschland erstmals mit diesem Thema auseinandergesetzt haben. 

Das in der Notaufnahme tagtäglich geübte System der Behandlung nach Dringlichkeit habe dem Behandlungsteam auch in „Crowding- und Over-Crowding-Situationen“ Sicherheit gegeben, sagte Martin Pin, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA). Eine Ersteinschätzung erfolge dabei nicht aufgrund der Krankheitsschwere, sondern der Behandlungsdringlichkeit, sagte Pin, der Chefarzt der Zentralen Notaufnahme und des Aufnahmebereichs des Florence-Nightingale-Krankenhaus in Düsseldorf ist. „Es geht darum, unabhängig von einer Grunderkrankungen oder besonderen Umständen, zu entscheiden, wie schnell ein Patient von einem Arzt gesehen werden muss.“ Rund ein Drittel der Notaufnahmen in deutschen Krankenhäusern sind einer Umfrage der DGINA zufolge aktuell stark ausgelastet oder sogar überbelastet. Auch das gebe einen Hinweis auf die Patientensicherheit und eine ausreichende Versorgung, so Pin.
 

Gericht nimmt Gesetzgeber in die Pflicht

In seinem Beschluss vom 16. Dezember 2021 fordert das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den Gesetzgeber auf, unverzüglich dafür Sorge zu tragen, „dass jede Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Verteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen hinreichend wirksam verhindert wird“. Bei der konkreten Ausgestaltung komme ihm dabei ein „Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum“ zu, so das Gericht.

Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) für intensivmedizinische Entscheidungen bei pandemiebedingter Knappheit in ihrer derzeitigen Fassung „zu einem Einfallstor für eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen werden können“. Die Empfehlungen schlössen nicht aus, „dass eine Behinderung pauschal mit Komorbiditäten in Verbindung gebracht oder stereotyp mit schlechten Genesungsaussichten verbunden wird“. In einer extremen Entscheidungssituation, wie sie im Falle einer pandemiebedingten Triage vorliege, könne es für Ärztinnen und Ärzte „besonders fordernd sein, auch Menschen mit einer Behinderung diskriminierungsfrei zu berücksichtigen“. Daher müsse der Gesetzgeber sicherstellen, „dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird“. Einer Regelung nach Kriterien, nach denen zu entscheiden ist, wie eine knappe Ressource zur Lebensrettung verteilt werde, stehe zunächst nichts entgegen. Der Gesetzgeber könne „Vorgaben zum Verfahren machen, wie ein Mehraugen-Prinzip bei Auswahlentscheidungen oder für die Dokumentation, oder er kann die Unterstützung vor Ort regeln“. Auch spezifische Vorgaben für die Aus- und Weiterbildung in der Medizin und Pflege und insbesondere des intensivmedizinischen Personals hält das BVG für möglich.