MediNetzBonn e.V. setzt sich für die medizinische Versorgung von Menschen ohne Papiere ein. Ins Leben gerufen wurde das gemeinnützige Projekt von Sigrid Becker-Wirth. Die Lehrerin wurde für ihr Engagement kürzlich mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
von Vassiliki Temme
Die Hilfsorganisation in der ehemaligen Hauptstadt unterstützt kranke Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis dabei, Termine bei niedergelassenen Haus- und Fachärzten zu erhalten. Viele der bei MediNetzBonn engagierten Ärztinnen und Ärzte sind selbst Praxisinhaber und somit bietet sich den Patientinnen und Patienten ein breites medizinisches Spektrum. Zudem engagieren sich Studierende vieler Fachrichtungen, eine Gesundheitswissenschaftlerin, eine Sozialarbeiterin und ein Lehrer.
Schon früh von der Arbeit von MediNetz begeistert war Dr. Axel Gerschlauer. Er erfuhr über einen Kollegen von der Organisation. Damals war Gerschlauer noch Assistenzarzt in einem Bonner Krankenhaus. Ein Kind mit Hirnhautentzündung wurde eingewiesen, dessen Eltern illegal in Deutschland lebten. „Ein Sachbearbeiter der Klinik hat die Familie den Behörden gemeldet. Er sagte mir schroff, da kann sich das Sozialamt drum kümmern. Wir gerieten in einen kleinen Streit“, schildert der heutige Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin die damalige Situation und führt fort: „Es handelte sich lediglich um eine virale Meningitis. Das Kind musste nicht stationär weiterbehandelt werden. Ich wartete also mit der Mutter am Hintereingang der Klinik auf das Taxi, immer in der Angst, die Polizei und das Ausländeramt würden vorne zur Tür hereinkommen.“
Anonyme Versorgung
Dieses Erlebnis hat ihn geprägt und ihm gezeigt, was es bedeutet, wenn Menschen ohne Papiere medizinische Hilfe benötigen. „Das Recht auf ärztliche und medizinische Betreuung wird in Deutschland ignoriert, wenn man keinen Aufenthaltsstatus vorweisen kann. Es gibt keine staatliche Stelle, die diese Menschen auffängt. Es gibt nur das Ehrenamt“, so Gerschlauer.
Bei MediNetzBonn kann jeder Mitglied werden. Gerschlauer ist als kooperierender Arzt begeistert darüber, dass es den Verantwortlichen von MediNetz vergangenes Jahr gelungen ist, das Konzept des sogenannten Anonymen Krankenscheins auch in Bonn zu verwirklichen. Einer derjenigen, die das Projekt vorangetrieben haben, ist Noah Peitzmann, der auf Lehramt studiert. „In NRW ist der anonymisierte Krankenschein, anders als beispielsweis in Thüringen, eine kommunale Angelegenheit. Er ermöglicht es jetzt allen in Bonn lebenden Menschen – unabhängig von Herkunft, Aufenthaltsstatus, Einkommen oder sozialer Lage – Zugang zu gesundheitlicher Betreuung und Behandlung zu bekommen“, erklärt Peitzmann. Die Vergabe der Krankenscheine läuft über eine sogenannte geschützte Vermittlung, bei der zuerst eine Bedarfsprüfung durch Ärztinnen und Ärzte durchgeführt wird. Mit dem nur im Bedarfsfall ausgestellten Krankenschein können die Patienten anschließend Ärzte, Physio- und Ergotherapeuten sowie Logopäden und Krankenhäuser ihrer Wahl aufsuchen. Gleichzeitig wird in einer angeschlossenen Clearingstelle durch Sozialarbeiter und Juristen geprüft, ob in der oft unüberschaubaren rechtlichen Situation zwischen Aufenthalts- und Asylbewerberleistungsgesetz, Europa-, Sozial- und Arbeitsrecht Möglichkeiten zur Aufnahme in die Regelversorgung bestehen, beispielsweise durch das Beantragen einer Duldung aufgrund einer Krankheit (siehe Kasten unten).
Wo kann ich hin?
Seine Räumlichkeiten hat MediNetzBonn im Oscar-Romeo-Haus nahe der Innenstadt, wo jeden ersten, dritten und fünften Montag im Monat von 17.30 bis 19 Uhr die Sprechstunde stattfindet. Menschen ohne Krankenversicherung können dort ihre gesundheitlichen Probleme schildern und werden dann an geeignete Haus- und Fachärzte weitervermittelt. „Wir melden uns telefonisch bei den Praxen, schildern die Beschwerden der Patienten und machen einen Termin aus“, erklärt Peitzmann. Die Kosten für Arznei- und Hilfsmittel trägt MediNetz, die Ärztinnen und Ärzte erbringen ihre Leistungen ehrenamtlich. „Bei uns kommen die kleinen Patientinnen und Patienten meist schon im Säuglingsalter erstmals in die Praxis und laufen dann ganz normal in der Organisation mit, sprich wir machen Termine für Folgeuntersuchungen und so weiter“, sagt Gerschlauer. Kooperierende Apotheken bedienen die ärztlichen Verordnungen und rechnen ebenfalls mit dem Verein ab, auch bei Impfungen. Im vergangenen Sommer habe MediNetzBonn Patientinnen und Patienten ohne Papiere auch Impfungen gegen SARS-CoV-2 vermittelt. „Mittlerweile laufen die Coronaimpfungen aber über die Stadt“, sagt Peitzmann. Doch die Zahl der Menschen, die die Initiative aufsuchen, habe in letzter Zeit deutlich zugenommen. Der Student vermutet, dass die Coronaimpfaktion möglicherweise den Bekanntheitsgrad des Hilfsangebots erhöht hat.
Keine Übermittlungspflicht
Notfälle kommen Gerschlauer und Peitzmann zufolge sehr häufig vor, weil Beschwerden aus Angst vor einer Abschiebung oft Monate oder sogar Jahre unbehandelt bleiben. Menschen ohne Papiere befänden sich in einer Art Falle, so Gerschlauer. Theoretisch könne sie niemand davon abhalten, einen Arzt auszusuchen. Doch wenn sie die Rechnungen nicht selbst bezahlen könnten, werde häufig umgehend das Sozialamt eingeschaltet und dann müssten die Daten der Betroffenen zumindest an diese Behörde weitergegeben werden. Die Bundesärztekammer weist in einer Handreichung zum Thema aber darauf hin, dass im Rahmen des „verlängerten Geheimnisschutzes“ die ärztliche Schweigepflicht bis in öffentliche Stellen hinein wirke. „Demnach dürfen öffentliche Stellen Patientendaten, die sie von einem Schweigepflichtigen, zum Beispiel dem Verwaltungspersonal der Krankenhäuser, erhalten haben, grundsätzlich nicht an die Ausländerbehörde übermitteln (Ausnahmen: Gefährdung der öffentlichen Gesundheit oder Konsum harter Drogen)“, heißt es dort. (Zum Herunterladen unter www.bundesaerztekammer.de/bundesaerztekammer/patienten/patientenrechte/patientinnen-und-patienten-ohne-legalen-aufenthaltsstatus-in-krankenhaus-und-praxis) In der Praxis macht man laut Peitzmann aber häufig die Erfahrung, dass der Geheimnisschutz nicht bekannt ist oder nicht angewendet wird.
Die Angst vor einer Ausweisung sei dennoch so groß, dass viele Patientinnen und Patienten den Gang zum Arzt vermeiden. „Für Menschen, die ohne Aufenthaltstitel hier leben, die also meist aus Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union stammen, ist es sehr schwierig, sich hierzulande krankenzuversichern. Bei Betroffenen aus dem EU-Ausland oder auch deutschen Staatsbürgern ohne Krankenversicherung können unsere Anwälte oft helfen“, sagt Peitzmann. Wie dringend manche Patienten auf Hilfe angewiesen sind, hat Peitzmann selbst erlebt. „Eines Abends hatte ich gemeinsam mit einer Kollegin Dienst. Eine Philippinin kam mit ihrer Freundin zu uns, sie klagte über starke Schmerzen im Bein. Wir vereinbarten für sie einen Arzttermin für den folgenden Tag. Am nächsten Abend rief die Freundin an, die Frau sei verstorben. Wir waren zutiefst schockiert, das hätte nicht passieren dürfen.“ Solche tragischen Ereignisse sind Gerschlauer zufolge zwar sehr selten. Sie zeigten aber auf, dass der Staat sich in dieser Frage bewegen müsse: „Es kann nicht die Aufgabe der Hilfsorganisationen sein, die medizinische Versorgung der Menschen, die hier leben, menschenwürdig zu organisieren. Wir tun, was wir können, mit den Mitteln, die uns gegeben sind“, betont Gerschlauer. „Es ist aber ganz klar eine Angelegenheit der Politik, endlich dafür zu sorgen, dass jeder, unabhängig von seinem Aufenthaltsstatus, adäquat versorgt wird.“ Es sei ein katastrophales Signal, wenn es als „normal“ gelte, Menschen von der Regelversorgung auszuschließen. Ohne ein Eingreifen des Staates bleibe man darauf angewiesen, dass Menschen anderen Menschen freiwillig, ohne Entlohnung und auf ehrenamtlicher Basis helfen wollen.
Anonymer Krankenschein
Mit dem Anonymen Krankenschein (AKS) können Menschen, die ansonsten keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu gesundheitlicher Versorgung haben, medizinische Hilfe in Anspruch nehmen, ohne dass sie selbst, die behandelnden Ärzte, Therapeuten oder Krankenhäuser die Kosten schultern oder diese durch Spenden finanziert werden müssen. In Bonn leben schätzungsweise knapp 10.000 Menschen, die den AKS in Anspruch nehmen könnten.
In Deutschland wird das Konzept des AKS mit geringfügigen Abweichungen bereits in einigen Städten und Regionen erfolgreich umgesetzt, darunter in Thüringen, Berlin, Leipzig und Düsseldorf.
Basierend auf Zahlen aus Düsseldorf und von MediNetzBonn e.V. belaufen sich die Gesamtkosten der einzelnen Kommunen für den AKS auf rund 300.000 Euro jährlich. Darin enthalten sind die Behandlungs- und Personalkosten, die Beschaffung der Erstausstattung sowie laufende Kosten inklusive Mieten. Die Kosten werden aus dem Kommunalhaushalt bestritten und können nach Ansicht der AKS-Befürworter insgesamt sogar eine Entlastung für die Stadt bedeuten, da viele schwere und chronische Krankheitsverläufe und Notfälle, für deren Behandlung bisher das Sozialamt aufkommt, durch rechtzeitige Vorbeugung, frühe Diagnostik und Behandlung verhindert werden können. www.aks-bonn.de