Im klinischen Alltag sind Behandlungsteams immer wieder mit Patientinnen und Patienten konfrontiert, die aufgrund einer schweren Erkrankung, sei sie somatischer oder psychischer Natur, ihrem Leben ein Ende setzen wollen. Der Umgang mit Sterbewünschen führt in den multiprofessionellen Teams zu medizinischen, ethischen, juristischen und berufsrechtlichen Fragen. Im geschilderten Fall leidet der Patient an einer Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) und möchte sein Leben durch freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken (FVET) beenden.
von Yann-Nicolas Batzler, Christa Maria Stillger, Jacqueline Schwartz und Martin Neukirchen
Im Frühjahr 2020 traten bei Herrn T. zum ersten Mal neurologische Defizite unter anderem in Form einer sich ausbreitenden Muskelschwäche, zunehmenden Artikulationsschwierigkeiten sowie einer Dysphagie auf. Es folgte eine langwierige Abklärung mit zahlreichen Arztkontakten, bis zuletzt an einer Uniklinik die Diagnose einer Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) gestellt wurde. Laut Herrn T. kam es in den letzten Wochen vor seiner stationären Aufnahme zu einer raschen Progredienz der Symptome, unter anderem war die Bewältigung feinmotorischer Tätigkeiten nicht mehr möglich. Herr T. befasste sich vor seiner Aufnahme auf die Palliativstation mithilfe von Literatur und Fallberichten intensiv mit dem Krankheitsverlauf der ALS. Außerdem war er über die Möglichkeiten eines freiwilligen Verzichts auf Essen und Trinken (FVET), über die Möglichkeiten des ärztlich assistierten Suizids in den umliegenden Ländern sowie über das aktuelle Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum § 217 StGB bestens informiert. Ein mit zunehmendem Autonomieverlust einhergehendes langsames Sterben, das er im Endstadium einer ALS für sich befürchtete, kam für ihn nicht in Frage. Auch einen ärztlich assistierten Suizid im Ausland schloss er für sich aus. Er entschied sich daher für den freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken (FVET). Herr T. wurde bereits im Vorfeld kurzzeitig durch ein Team der Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung (SAPV) begleitet, ließ sich dann zur Abklärung seines Sterbewunsches stationär auf eine Palliativstation aufnehmen.
Soziale Anamnese
Herr T. war Polizist und befand sich zum Zeitpunkt der Diagnosestellung bereits im Ruhestand. Er war verheiratet, aus der Ehe gingen ein Sohn und ein Enkel hervor. Herr T. war in seiner Freizeit sehr aktiv und fuhr unter anderem viel mit dem Fahrrad. Er war ein geselliger Mensch. Freunde und Familie schätzten ihn für seine Herzlichkeit und seine direkte Art. Den Wunsch nach FVET konnte seine Familie initial nur schwer annehmen. Im Verlauf der Krankheitsbewältigung entschloss sie sich aber dazu, die eigenen Bedürfnisse, Ängste und Zweifel hintan zu stellen und Herrn T. beim FVET zu begleiten.
Vorgehen
Bereits im Aufnahmegespräch drückte Herr T. den Willen aus, freiwillig auf Nahrung und Flüssigkeit verzichten zu wollen. Eine Kompromittierung durch eine Depression oder ein anderes psychiatrisches Krankheitsbild war nicht erkennbar. Herr T. schien gut informiert. Eine äußere Beeinflussung durch Dritte oder Anzeichen eines inkonsistenten fluktuierenden Todeswunsches waren nicht erkennbar. So konstatierte das Palliativteam eine auf den ersten Eindruck freiverantwortliche Entscheidung zum FVET. Zur weiteren Abklärung erfolgte eine ausführliche psychiatrische Beurteilung, die das Bild des Patienten bestätigte: Die Psychiater schlossen eine psychische Erkrankung wie eine Depression aus und attestierten die uneingeschränkte Einwilligungsfähigkeit des Patienten.
Daraufhin wurde Herr T. ausführlich in mehreren Gesprächen auch im Beisein seiner Familie über die Möglichkeiten einer Symptomkontrolle, hier vor allem der bei ALS häufigen Symptome Luftnot und Angst sowie Immobilität aufgeklärt. Auch die palliative Sedierung bei ausbleibendem Erfolg aller anderen symptomlindernden Maßnahmen wurde mit Herrn T. erörtert. In einem nächsten Schritt erfolgte eine multiprofessionelle Besprechung des Falls. Hierbei hatte jedes Teammitglied die Möglichkeit, über Unsicherheiten, Zweifel und Bedenken zu sprechen. Daraufhin folgte eine ethische Fallbesprechung.
Klinisch ethische Fallberatung
Anwesend waren neben dem Moderator und der Protokollantin Teammitglieder aus der Pflege, dem ärztlichen Dienst, der Kunsttherapie, der Psychologie sowie der Physiotherapie. Die klinisch ethische Fallberatung erfolgte nach einem standardisierten Protokoll. Dieses umfasst die folgenden Schritte: Formulierung der ethischen Fragestellung, Erhebung der Fakten (medizinische, pflegerische, juristische, soziokulturelle und spirituelle Dimension), Zusammenfassung der Handlungsoptionen, Bewertung der Handlungsoptionen und letztlich das abschließende ethische Votum.
Am Anfang der Fallberatung wurde die folgende Fragestellung formuliert: „Ist es ethisch gerechtfertigt, dem Wunsch von Herrn T. auf FVET unter palliativmedizinischer Begleitung zu entsprechen?“ Im Rahmen der medizinischen Dimension wurde die Krankengeschichte ausführlich geschildert. Auf das Ergebnis der psychiatrischen Evaluation wurde besonderes Augenmerk gelegt. Pflegerisch wurde Herr T. als Selbstversorger mit einem großen Autonomiebedürfnis wahrgenommen. Er folgte selbstbestimmt seiner eigenen Tagesstruktur.
Auf der juristischen Ebene wurde die durch die Kollegen der Psychiatrie bestätigte, uneingeschränkte Einwilligungsfähigkeit von Herrn T. thematisiert. Untermauert wurde dies durch die Einschätzung des Teams bezüglich der gesunden geistigen Verfassung des Patienten. Aus strafrechtlicher Sicht ist weder ein Suizid noch die Beihilfe dazu strafbar. Zudem wurde auf das Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) zum Thema FVET Bezug genommen. Dort heißt es: „Der Entschluss einer entscheidungsfähigen Patient*in, durch FVET aus dem Leben zu scheiden, ist Ausdruck von Selbstbestimmung und vom Behandlungsteam als Sterbewunsch wahrzunehmen und zu respektieren.“ Soziokulturell war Herr T. in stabile Familienverhältnisse eingebettet. Seine Familie unterstützte den Patienten nach intensiver Auseinandersetzung bei seinem Vorhaben. Spirituell festigte sein christliches Menschenbild seinen Entschluss.
Handlungsoptionen bestanden vor allem in der Festlegung symptomlindernder Therapieoptionen. Freiverantwortlichkeit und Einwilligungsfähigkeit wurden festgestellt. Die Notwendigkeit einer ausführlichen schriftlichen Aufklärung wurde bestätigt. Es wurde festgehalten, dass dem Patienten im Falle einer Meinungsänderung die Flüssigkeits- oder Nahrungsaufnahme jederzeit ermöglicht wird. Abschließend votierte das Behandlungsteam unter Moderation des klinischen Ethikkomitees für eine palliativmedizinische Begleitung von Herrn T. und beantwortete die eingangs gestellte ethische Frage mit „Ja“.
Verlauf
Nach ausführlichen Gesprächen mit Herrn T., der psychiatrischen Einschätzung, der Fallbesprechung und der klinisch ethischen Fallberatung sowie nach schriftlicher Aufklärung stellte Herr T. das Essen und Trinken ein. Belastend für das Behandlungsteam und seine Familie war, dass sich Herr T. entschlossen hatte, seinen Enkel ab diesem Zeitpunkt nicht mehr wiedersehen zu wollen. Herr T. beschrieb eine große Sorge, dass die Begegnung mit dem Enkel diesen emotional zu sehr belasten könnte. In den ersten Tagen traten keine relevanten Symptome auf. Im Verlauf kam es zu einer Xerostomie und Durst, was durch Mundpflege ausreichend therapiert werden konnte. Immer wieder traten Episoden von Dyspnoe auf, die mit bedarfsgerechter Morphingabe behandelt werden konnten.
Zwei Tage vor seinem Tod war Herr T. durch den auftretenden Durst stark symptombelastet und fragte in einem persönlichen und sehr vertrauensvollen Gespräch mit einem Arzt nach den Möglichkeiten eines ärztlich assistierten Suizids als Alternative zum begonnenen FVET. In diesem intensiven Gespräch äußerte der Arzt Verständnis für den von Herrn T. vorgebrachten Wunsch, lehnte einen assistierten Suizid aufgrund ethischer Bedenken in dieser konkreten Situation aber ab. Herr T. brachte großes Verständnis für die vom Arzt und dem Behandlungsteam offen kommunizierte Haltung auf und akzeptierte diese vorbehaltlos.
Die Familie des Patienten wurde während des gesamten Aufenthalts intensiv psychologisch begleitet und konnte die Situation trotz großer Trauer gut annehmen.
Herr T. verstarb ausreichend symptomkontrolliert fünf Tage nach Einstellen des Essens und Trinkens.
Nachklang
Nach dem Tod von Herrn T. fand eine intensive Trauerbegleitung der Angehörigen statt. Diesen wurde genügend Zeit gegeben, sich von Herrn T. zu verabschieden. Die Angehörigen wurden auch danach weiterhin psychologisch begleitet.
Für die teaminterne Verarbeitung fand zudem eine retrospektive Fallsupervision statt. Hierbei wurde der Fall nochmals aufgearbeitet und über belastende Momente in der Sterbebegleitung gesprochen. Die Familie blieb dem Zentrum auch über einige Zeit nach dem Tod sehr verbunden.
Abschließende Stellungnahme
Der Wunsch auf FVET wird von zahlreichen deutschen Palliativmedizinern akzeptiert und unterstützt. So kann die Begleitung von Patienten, die ihrem Leben mithilfe von FVET ein Ende setzen wollen, zu einem Bestandteil der palliativmedizinischen Versorgung schwerstkranker Menschen gehören.
Klinisch ethische Fallberatungen sollen Handlungsempfehlungen in Grenzsituationen erarbeiten. Sie sollen jedoch nicht über die weitere Behandlung entscheiden, sondern dem Behandlungsteam in ethisch anspruchsvollen Situationen zu einer ausgewogenen Entscheidung verhelfen. Gerade deshalb wird die klinisch ethische Fallbesprechung als besonders relevant betrachtet. Da es sich um ein moderiertes Gespräch handelt, können neue Aspekte herausgearbeitet werden, die bisher nicht beachtet oder anders bewertet wurden. Ein befürwortendes Ethikvotum kann zudem ein Anker für das palliativmedizinische Team in einer emotional angespannten Situation sein.
Ziel einer im Anschluss an den Fall konzipierten Studie war es, die Belastungen im Team herauszuarbeiten. Alle Befragten gaben an, dass die klinisch ethische Fallberatung die Begleitung von Herrn T. erleichtert hat. Sie hilft dabei, Konflikten im Team sowie emotionalen Grenzsituationen zu begegnen und die Begleitung bei FVET zu erleichtern, auch wenn eigene Grundsätze dem entgegenstehen mögen. Erst auf diese Weise kann dem Wohl des Patienten in Gänze entsprochen werden und die Funktionsfähigkeit eines Behandlungsteams in ethisch herausfordernden Situationen erhalten bleiben.
Dr. med. Yann-Nicolas Batzler arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Facharzt für Urologie und Palliativmedizin am Interdisziplinären Zentrum für Palliativmedizin am Universitätsklinikum Düsseldorf der Heinrich-Heine-Universität. Christa Maria Stillger ist Fachkrankenpflegerin für Anästhesie, Intensivpflege und Palliative Care und Leiterin des Pflegeteams des Zentrums. Dr. med. Jacqueline Schwartz ist stellvertretende leitende Ärztin des Zentrums für Palliativmedizin. Privatdozent Dr. med. Martin Neukirchen ist Leitender Arzt des Zentrums.