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Praxis

Advance Care Planning in der Psychiatrie

22.09.2021 Seite 27
RAE Ausgabe 10/2021

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 10/2021

Seite 27

In sogenannten Odysseus-Verfügungen legen Patientinnen und Patienten im Vorhinein Behandlungspräferenzen fest, die in akuten Phasen psychischer Erkrankungen trotz widersprechender – krankheitsbedingter – Willensäußerungen dennoch bindend bleiben sollen. Diese vorwiegend zeitlich befristeten Verfügungen können gerade in der Psychiatrie als autonomieersetzende Instrumente vertrauensfördernd und damit sinnvoll sein. 

von Utako B. Barnikol und Nikolaus Michael

Episodisch auftretende, über Jahre verlaufende psychische Erkrankungen, vor allem Psychosen, können mit symptomarmen oder -freien Intervallen einhergehen. Diese Phasen der (Voll-)Remission sind dazu prädestiniert, entsprechende Behandlungsvereinbarungen vorausverfügend festzulegen. Betroffene können nach ihrem freien Willen in Odysseus-Verfügungen (OV) über zukünftige Behandlungsmaßnahmen verfügen, die darauf abzielen, Dauer und Ausmaß von Rückfällen zu verringern, Krankheitsphasen rasch zu durchbrechen, das Risiko von Residuen zu reduzieren und neu auftretende Krankheitsphasen günstigenfalls durch gezielte vorbeugende Interventionen bei spiralförmiger Vulnerabilität zu verhindern [1, 2].

Mögliche Legitimation von Zwang

OV können dabei als eine im Voraus verfügte Legitimation einer gegebenenfalls zukünftig notwendigen Zwangsbehandlung dienen [1]. OV beschränken sich nicht ausschließlich auf die Vorausverfügung von Zwang, sondern haben idealerweise auch die Vermeidung von Zwangsmaßnahmen zum Ziel, zumindest aber die Reduzierung der Dauer von in Freiheitsrechte eingreifendem Zwang [1,3].

Über das Modell des Advance Care Planning in der Akut- und Notfallmedizin hat das Rheinische Ärzteblatt im August und September 2021 berichtet.

Der Begriff OV bezieht sich auf Homers Odyssee im 12. Gesang des Epos. Dort widersteht König Odysseus dem lockenden Gesang der Sirenen, indem er verfügt, an den Schiffsmast gebunden zu werden, um von dem todbringenden Gesang der Sirenen nicht irregeleitet zu werden. Er weist seine Mannschaft an, ihn – ungeachtet möglicher gegenteiliger Bitten – solange gefesselt zu halten, bis der Gesang der Sirenen verklungen ist [4].

OV in der Psychiatrie sollten vorzugsweise folgende Faktoren berücksichtigen:

  • Therapieansprechen in vorherigen Krankheitsphasen
  • phasenhafte Erkrankungen mit symptomfreien Intervallen
  • zeitlich limitierte Dauer der Vereinbarung
  • Anwesenheit einer dritten Person, die von den Patienten selbst benannt wird, um den Abschluss einer Odysseus-Vereinbarung zu bezeugen

Der im Kontext von Advance Care Planning (ACP) [5] weitläufig verwendete Begriff der partizipativen Entscheidungsfindung (shared decision making, SDM), der auch in der Psychiatrie Einzug gefunden hat [6], wird oft missverständlich ausgelegt [3, 5]. Die Entscheidung über die jeweilige Behandlung steht in Behandlungsvereinbarungen formal allein den Patienten zu. Ungeachtet der gründlichen Beratung durch die Behandler, die unbestritten das Wohl ihrer Patienten priorisieren [6, 7], um diese vor vermeidbaren Umwegen zu schützen, sind es letztlich allein die Patienten selbst, die über ihre Behandlung souverän verfügen, sofern sie dies wünschen [7, 8]. 

Zwar wird SDM in der Regel als „gemeinsam erreichte Entscheidung“ charakterisiert, die dem Patientenwohl zugutekommen soll [9, 10]. Zur Präzisierung ist dennoch der Begriff „assistierte Entscheidungsfindung“ (assisted decision making) oder „unterstützte Entscheidungsfindung“ (supported decision making) der SDM vorzuziehen [9]. Die Begriffswahl verdeutlicht, dass Patienten Therapieentscheidungen nach den rechtlichen Voraussetzungen nicht zwingend „gemeinsam“ mit dem Behandler treffen müssen [7, 11]. Vielmehr ist eine engagiert beratende und dabei akzeptierende Haltung der Behandler angesprochen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass OV und ACP als dynamische Form der Patientenverfügungen vorausschauend und personalisiert angewendet werden können [8, 12]. Dabei unterliegt das ACP in der Psychiatrie besonderen Sorgfaltsanforderungen, um im konkreten Behandlungsfall Berücksichtigung finden zu können [3, 7]. Obligatorisch sollte geprüft werden, ob aus vorangegangenen Behandlungen ein Nutzen gewonnen werden kann, der für zukünftige fachgerechte Therapien leitend sein kann [3, 5]. Für die Realisation verbindlicher OV sind evaluierte Verfahren zur assistierten Entscheidungsfindung essenziell [2]. Sie sollten gezielt zur Anwendung kommen, um auch den in ihrer Willensbildung eingeschränkten Patienten Möglichkeiten zur Selbstbestimmung zu eröffnen und zu wahren [1].

Primat des freien Willens

Bei psychisch Erkrankten ist die freie, informierte Einwilligung in alle therapeutischen Maßnahmen notwendige Voraussetzung und somit bindend für jedes ärztliche Handeln. Die Freiheit der Willensbestimmung und die eigene Entscheidung der Patientinnen und Patienten darf dabei nicht durch äußere Einflüsse eingeschränkt werden, das heißt die Willensfreiheit setzt zunächst die Abwesenheit von Zwang voraus [6, 13].

Die Freiheit der Willensbestimmung hängt von der Einsicht in die Krankheit und von der Fähigkeit zur Selbstfürsorge der Patienten ab. Zweifellos stellt auch heute noch die helfende ärztliche Fürsorge für die Therapie psychisch kranker, hilfloser Patientinnen und Patienten ohne ausreichende Selbstfürsorge eine grundsätzliche Verpflichtung für alle ärztlich Tätigen dar [6]. 

Dr. med. Utako Birgit Barnikol ist Ärztin für Nervenheilkunde und Leiterin der AG Angewandte Ethik in der translationalen Krebsforschung der Klinik 1 für Innere Medizin am Universitätsklinikum Köln. Prof. Dr. med. Nikolaus Michael ist Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie und Chefarzt am Krankenhaus Elbroich in Düsseldorf.

Literaturverzeichnis

[1]    Zur moralischen Autorität von Odysseus – Verfügungen: Definitionen. Unterscheidungen, Rechtfertigungen. Schöne-Seifert B, Stier M, Reichardt J. ZEMO 2019 2: 315-329.

[2]    Ulysses Contracts in psychiatric care: helping patients to protect themselves from spiralling, Harriet Standing , Rob Lawlor, J Med Ethics 2019 Nov;45(11):693-699. doi: 10.1136/medethics-2019-105511. 

[3]    Psychiatric Advance Directives Under the Convention on the Rights of Persons With Disabilities: Why Advance Instructions Should Be Able to Override Current Preferences, Scholten M, Gieselmann A, Gather J, Vollmann J., Front Psychiatry. 2019 Sep 11;10:631. doi: 10.3389/fpsyt.2019.00631. eCollection 2019.

[4]    Homer, Odyssee, 12. Gesang, Sirenen, Skylla und Charybdis Verse 16-58. Übersetzung aus dem griech. Originaltext: Hom. Od. 12, 16-58, Schadewald, Wolfgang. Artemis Verlag, Zürich-Stuttgart, 1957.

[5]    Advance Care Planning – Von der Patienten­verfügung zur gesundheitlichen Vorausplanung. Michael CoorsM., Jox R , in der Schmitten J (Hrsg.) 2015 Kohlhammer Verlag, Stuttgart.

[6]    Die Indikation für autonomieersetzende Interventionen. Maier WH, & Barnikol U.B. In: Medizinische Indikation. Dörries, a. Lipp. V. (Hrgs). 2015 Kohlhammer, Stuttgart.

[7]    Advance directives in psychiatric care: a narrative approach, Guy Widdershoven and Ron Berghmans Maastricht University, The Netherland Journal of Medical Ethics 2001;27:92–97

[8]    Advance Care Planning - eine dynamische Form der Patientenverfügung, Barnikol UB, Beck S, Birnbacher D, Fangerau H., Ärztezeitung 17. August 2015 online 2015.

[9]    Dealing with dementia patients: Jointly responsible for decisions. Birnbacher D, Klitzsch W, Langenberg U, Barnikol UB., DtschArztebl 2015; 112(12): A-514 / B-438 / C-426.

[10]    Die Achtung vor der Menschenwürde in der Psychiatrie, Barnikol UB, Fangerau H, Beck S, Birnbacher D., NeuroMarginal in Neuroaktuell 11 (2015).: 31484783 DOI: 10.1136/medethics-2019-105511.

[11]    What Does the Evolution From Informed Consent to Shared Decision Making Teach Us About Authority in Health Care?, James F. Childress, PhD and Marcia Day Childress, PhD, AMA J Ethics. 2020;22(5):E423-429. doi: 10.1001/amajethics.2020.423.

[12]    Advance Care Planning- mehr als eine Patientenverfügung 2.0. Meier S, Otten T. RÄB 09 2021.

[13]    Odysseus in der Psychiatrie. Zu den ethischen Grundlagen von Behandlungsvereinbarungen in der Psychiatrie . Stoecker R . 2017 Theorie und Praxis der Menschenwürde