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Interview

Neben den Vorteilen bleibt das Risiko

15.10.2021 Seite 21
RAE Ausgabe 11/2021

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 11/2021

Seite 21

Mehr Sensibilität für Rechte und Pflichten des ärztlichen Leiters in einem MVZ – das wünscht sich Fritz Stagge, Vorsitzender des Beratenden Fachausschusses für angestellte Mitglieder der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein. © Bildwerkeins/Paul Walther
Nicht ohne Grund erfreuen sich Medizinische Versorgungszentren (MVZ) heute großer Beliebtheit: Besonders für junge Ärztinnen und Ärzte ist die Aussicht auf ein Anstellungsverhältnis mit ausgeglichener Work-Life-Balance inzwischen eine attraktive Alternative zur vertragsärztlichen Niederlassung. Doch bringt die Beschäftigung in einem MVZ neben allen Vorteilen auch Risiken mit sich, wie Fritz Stagge, Vorsitzender des Beratenden Fachausschusses für angestellte Mitglieder der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Nordrhein, im Gespräch erläutert. Gefahren sieht er nicht zuletzt für die Position des ärztlichen Leiters. 

RÄ: Neben Ihrem Engagement bei der KV Nordrhein sind Sie in der Praxis für Gefäßchirurgie des Contilia Herz- und Gefäßzentrums in Essen tätig – ein MVZ. Welche Vorteile bietet die Kooperationsform?
Stagge: Ich denke, aus Sicht der Ärzteschaft liegt ein großer Reiz in der Aussicht auf Anstellung. Das war vor Einführung des MVZ im niedergelassenen Bereich so gar nicht oder nur unter gewissen Einschränkungen wie etwa bei Weiterbildungsassistenten möglich. Angestellt zu sein kann nämlich gleich mehrere Vorteile bergen. Ganz weit oben steht hier sicherlich die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, die heute insbesondere bei jungen Ärztinnen und Ärzten – allen voran solchen mit Familie – großgeschrieben wird. Das deckt sich auch mit meinen eigenen Erfahrungen: Seitdem ich im MVZ tätig bin, muss ich viele Dinge nicht mehr verantworten, die mich in meinen rund 20 Jahren der Selbstständigkeit sehr viel Zeit und auch Lehrgeld gekostet haben. Als Angestellter fällt es dagegen um einiges leichter, sich an die vereinbarten Arbeitszeiten zu halten und die eigenen Kapazitäten nicht zu überschreiten. Dafür gibt man andererseits auch Kompetenzen ab. 

Daneben gibt es noch weitere Gründe, die für eine Anstellung sprechen – unter ihnen nicht zuletzt auch monetäre. So umgeht man beispielsweise das finanzielle Wagnis einer Praxisgründung, vor dem nicht wenige Kolleginnen und Kollegen heute zurückscheuen. Bei einem MVZ dagegen übernimmt die Trägergesellschaft zusammen mit allen anfallenden Investitionskosten auch etwaige Risiken. Ob das mit allen seinen Konsequenzen so gut ist und nicht einer Kommerzialisierung Tür und Tor öffnet, sei hier fürs Erste dahingestellt. 

"Als ärztlicher Leiter in einem MVZ haftet man für die Korrektheit der Abrechnung so wie jeder andere Vertragsarzt auch."

RÄ: Gibt es nicht für solche Fälle die Funktion der ärztlichen Leitung?
Stagge: Eingeführt wurde die Position des ärztlichen Leiters mit dem Ziel, Bestrebungen von MVZ-Eigentümern auszubremsen, sollten medizinische Entscheidungen zugunsten einer möglichst hohen Rendite und nicht zugunsten des Patientenwohls getroffen werden. Das ist wichtig und richtig und sollte durch den Gesetzgeber künftig eher noch verstärkt werden. Ich denke hier in erster Linie an die Patienten – aber auch an die Ärztinnen und Ärzte selbst, die sich vielleicht nicht immer der ganzen Tragweite bewusst sind, die das Amt mit sich bringt. 

RÄ: Welche Risiken sehen Sie genau?
Stagge: Konkret schwebt mir der Fall einer Kollegin aus Bayern vor, die zur Zahlung einer fünfstelligen Summe verurteilt wurde, weil von ihr verantwortete Abrechnungen massiv fehlerhaft waren. Das grundlegende Problem ist doch: Als ärztlicher Leiter in einem MVZ haftet man für die Korrektheit der ärztlichen Abrechnung so wie jeder andere Vertragsarzt auch. Anders als bei diesem kann es jedoch geschehen, dass der ärztliche Leiter nicht immer genau weiß, was im Einzelfall abgerechnet wird. Trotzdem zeichnet er gegenüber seiner KV verantwortlich und kann für Fehler zur Verantwortung gezogen werden. Das ist ein Missverhältnis, das sich noch weiter zuspitzt, wenn das MVZ eine gewisse Größe hat und die Strukturen zunehmend unübersichtlicher werden; ganz zu schweigen von fachärztlichen Unterschieden, die wiederum andere klinische Kenntnisse voraussetzen. Als Gefäßchirurg kann ich etwa nur bedingt beurteilen, ob das, was ein Neurologe oder Gynäkologe abrechnet, seine Richtigkeit hat oder nicht. Zwar basiert das System letztlich auf Vertrauen, doch führt das nicht daran vorbei, dass wir zum Schutz der Ärzte langfristig weitere Kontrollmechanismen etablieren müssen. Das kann eine technische Lösung sein, der Abgleich der Frequenztabellen in den jeweiligen Fachgruppen oder auch nur ein aufklärendes Gespräch unter Kollegen im Vorfeld der Abrechnung. Wichtiger noch ist mir, dass die Ärzte überhaupt eine Sensibilität für das Thema entwickeln. Das kann keine finale Antwort sein – aber es markiert einen Startpunkt für das, was kommt. Fakt ist doch, dass die Problematik aus beschriebenen Gründen nicht über Nacht verschwinden wird und die ambulante Versorgung heute vielleicht mehr denn je auf angestellte Ärztinnen und Ärzte angewiesen ist. 

Die Fragen stellte Thomas Petersdorff, Referent im Bereich Presse und Medien der KV Nordrhein.