Inkontinenz wird häufig erst spät diagnostiziert. Dabei können eine frühe diagnostische Abklärung und eine konservative Therapie die Lebensqualität der betroffenen Frauen verbessern. Doch Inkontinenz ist nach wie vor ein Tabuthema – zum Leid der Betroffenen.
von Martina Levartz und Beate Weber
Zehn Prozent der Frauen zwischen 20 und 24 Jahren sind inkontinent. Im Alter zwischen 30 und 40 Jahren leiden bis zu 20 Prozent der Frauen an Inkontinenz, Anfang 50 ist schon jede dritte Frau betroffen, so das Ergebnis einer norwegischen Studie. Das sei nur die Spitze des Eisbergs, sagte Dr. Sebastian Kolben, Oberarzt der Frauenklinik des Evangelischen Krankenhauses Hagen-Haspe, auf einer Fortbildungsveranstaltung der Reihe „Aus Fehlern lernen“, die das Institut für Qualität im Gesundheitswesen Nordrhein (IQN) gemeinsam mit der Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler bei der Ärztekammer Nordrhein organisiert hat. Man gehe davon aus, dass die Zahl betroffener Frauen deutlich höher liege, als es die Inzidenzen vermuten ließen. Grundsätzlich steige die Zahl der Patientinnen mit zunehmendem Alter, doch auch junge Frauen seien betroffen, sagte Kolben den rund 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Online-Seminars. Neben einer ausführlichen Anamneseerhebung sei eine dezidierte Diagnostik notwendig, um die verschiedenen Ursachen einer bestehenden Inkontinenz voneinander abzugrenzen.
Eine Sammlung gutachtlicher Entscheidungen können Sie auf der Homepage der Ärztekammer Nordrhein unter https://www.aekno.de/patienten/behandlungsfehler/weitere-informationen herunterladen oder bestellen auf https://www.aekno.de/presse/materialbestellung.
Betroffene stellten sich häufig erst spät zur Diagnostik und Therapie beim Arzt vor, berichtete Professor Dr. Markus Fleisch, Direktor der Landesfrauenklinik des Helios Universitätsklinikums in Wuppertal und stellvertretendes geschäftsführendes Mitglied der Gutachterkommission Nordrhein. Inkontinenz sei noch immer ein Tabuthema. Viele nehmen die Inkontinenz laut Fleisch einfach hin, weil Frauen in der Familie ähnliche Erfahrungen gemacht haben oder sie die Erkrankung bei ihrer Anatomie als normal empfinden.
Dr. Kourosh Taghavi, niedergelassener Frauenarzt in Düsseldorf, wies darauf hin, dass insbesondere jüngere Frauen nach einer Entbindung von Inkontinenz betroffen seien. Er habe beobachtet, dass gerade sie sich mit ihrem „vermeintlichen Schicksal“ und den Einschränkungen ihrer Lebensqualität abfänden. Dabei biete eine möglichst frühzeitig begonnene konservative Therapie mit lokaler Östrogenisierung sowie ein angeleitetes Beckenbodentraining gute Erfolgsaussichten, betonte Taghavi. Die richtige Indikationsstellung und konsequente Ausschöpfung der konservativen Therapieoptionen seien hier elementar. Von vorschnellen Operationen riet der Gynäkologe ab.
Eine enge Kooperation von Urologen und Gynäkologen in der Diagnostik und konservativen Therapie sei wünschenswert, sagte Dr. Gudula Linnenbrink, Fachärztin für Urologie in Kempen. In der Urologie habe man zusätzliche diagnostische Möglichkeiten, beispielsweise eine Urethrozystoskopie, um weitere Ursachen abzugrenzen, so Linnenbrink. Sie riet, eine langfristige konservative Therapie durch speziell geschulte Physiotherapeuten begleiten zu lassen.
Ärztinnen und Ärzten riet Professor Dr. Tanja Fehm, Direktorin der Frauenklinik der Universitätsklinik Düsseldorf, Patientinnen routinemäßig im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen oder bei Konsultationen auf Inkontinenzbeschwerden anzusprechen. So könnten die Möglichkeiten der Diagnostik und konservativen Therapie frühzeitig genutzt und die Lebensqualität der Betroffenen verbessert werden.
Inkontinenzchirurgie – Das ist zu beachten
- Präzise Indikationsstellung durch fundierte Diagnostik unter Berücksichtigung von verfügbaren Alternativen, inklusive der konservativen Therapieoptionen
- Risikoaufklärung über alle Eingriffsbestandteile und Alternativverfahren mit Benennen der jeweiligen Vor- und Nachteile
- Auch für Dritte nachvollziehbare Dokumentation der Durchführung
- Koagulations- und Lagerungsschäden durch sorgfältiges Vorgehen entgegenwirken (Cave: voll beherrschbares Risiko)
- Zeitnahes Erkennen und Behandeln typischer Komplikationen von Eingriffen im kleinen Becken
- Sicherungsaufklärung über Verhaltensempfehlungen und erforderliche Kontrolluntersuchung
Quelle: Präsentationsfolie Professor Dr. Markus Fleisch, modifiziert
Behandlungsfehlervorwürfe habe es in den vergangenen Jahren fast ausschließlich bei operativen Therapien gegeben, sagte Fleisch und berichtete über entsprechende Fälle der Gutachterkommission. Behandlungsfehler seien zum Beispiel bei einer intra- und postoperativ nicht erkannten Harnblasenpenetration sowie einem fehlerhaft nur einseitig eingebrachten TVT-Band festgestellt worden. Fleisch wies die Seminarteilnehmer auch darauf hin, eine präzise Indikationsstellung immer durch eine fundierte Diagnose zu begründen sowie verfügbare alternative Therapieoptionen zu berücksichtigen. So sei in einem der Gutachterkommission zugetragenen Fall als erster Therapieschritt ein angeleitetes Beckenbodentraining über drei Monate, kombiniert mit einem Blasentraining fehlerhaft unterlassen worden. In einem anderen Fall stellte der Gutachter einen Behandlungsfehler fest, als vor einer vorgenommenen CESA-Operation (kurz für cervicale sacrospinale bilaterale Fixation) bei Diagnose einer Dranginsuffizienz weitere Differenzialdiagnosen, wie eine Harnwegsinfektion oder eine neurologische Erkrankung, nicht ausgeschlossen wurden.
Dr. Martina Levartz, MPH, ist Geschäftsführerin des Instituts für Qualität im Gesundheitswesen Nordrhein (IQN). Dr. Beate Weber ist für die Dokumentation und Auswertung zuständige Referentin der Geschäftsstelle der Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler bei der Ärztekammer Nordrhein.