Grande Cayemite heißt das Ziel von ISAR (International Search and Rescue) Germany. Die Leitstelle der Weltgesundheitsorganisation hat den Helferinnen und Helfern aus Deutschland die kleine Insel vor der Westküste Haitis als Einsatzort angewiesen. Die UN-Organisation koordiniert von der Hauptstadt Port-au-Prince aus den internationalen Hilfseinsatz nach dem schweren Erdbeben am 14. August, dessen Epizentrum im Westen des Landes lag und das dort die größten Schäden angerichtet hat. „Die Menschen auf Grand Cayemite haben nichts“, beschreibt Dr. Peter Kaup im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt die Lage vor Ort. Der Hausarzt aus Oberhausen gehört neben weiteren Ärztinnen und Ärzten, Pflegekräften, Sanitätern, Experten für Wasseraufbereitung und Logistikern dem 35 Mitglieder zählenden ISAR-Team an, das dort medizinische Hilfe leisten soll. „Die Menschen leben in Hütten, die man auch vor dem Erdbeben kaum als solche bezeichnen konnte. Es gibt keine Arbeit und kaum etwas zu essen, außer dem, was man aus dem Meer fischen kann.“ Die medizinische Versorgung auf Grande Cayemite hält eine Krankenschwester aufrecht, die selbst nur sporadisch bezahlt wird und über eine „katastrophal ausgestatte Apotheke und eine noch schlimmer ausgestattete Krankenstation“ verfügt, wie Kaup schildert. Welche Schäden das Erdbeben auf der Insel angerichtet an, ist kaum zu bemessen. Denn vieles liegt schon seit dem verheerenden Beben von 2010 in Trümmern, bei dem damals mehr als 200.000 Menschen vor allem in der Hauptstadt Port-au-Prince ums Leben kamen.
Das ISAR-Team ist diesmal nicht ausgerückt, um unter Schutt nach Überlebenden zu suchen, sondern um Verletzte zu versorgen. Mit elf Tonnen Ausrüstung, darunter Medikamente und ein Feldlazarett, fliegen die Helfer zunächst vom Flughafen Köln/Bonn nach Port-au-Prince. Von dort aus geht es aufgrund der prekären Sicherheitslage fernab der Küste auf dem Seeweg weiter. „Auf dem Landweg hätten wir durch mehrere Gebiete fahren müssen, die von rivalisierenden Banden kontrolliert werden“, sagt Kaup. Überfälle und Entführungen von Ausländern seien in Haiti an der Tagesordnung. Erst Anfang Juli wurde der amtierende Präsident Jovenel Moise in seinem Bett erschossen.
„Wir gehen nicht blauäugig in einen Einsatz“
Sorgen um die eigene Sicherheit habe sich das ISAR-Team jedoch nicht gemacht, erklärt Kaup. „Wir gehen nicht blauäugig in einen solchen Einsatz.“ Vorab habe ein Erkundungsteam Infrastruktur und sichere Reisewege erkundet. Im Einsatzdorf bot der Pfarrer Unterstützung für die Helfer aus Deutschland an. „Wir haben dann auf dem Kirchengelände unser Lager aufgebaut, sodass wir unter dem Schutz der Kirche und des Pfarrers arbeiten konnten, der dort eine anerkannte Autorität ist“, berichtet Kaup. Außerdem sei das ISAR-Team von Mitarbeitern eines Sicherheitsdienstes aus Süddeutschland begleitet worden.
Während ihres siebentägigen Einsatzes behandeln die Helferinnen und Helfer in ihrem Feldkrankenhaus neben chronischen Erkrankungen und „normalen“ Infekten Patientinnen und Patienten, die ohne medizinische Versorgung von außen mit Sicherheit gestorben wären, wie den Fischer, der sich nach einem Hummerbiss mit hochrot entzündetem Unterarm beim ISAR-Team vorstellt. „Der Mann brauchte eine Antibiose und wir mussten den Abszess spalten“, erinnert sich Kaup. „Wenn wir nicht dagewesen wären, hätte ihm niemand helfen können.“
Bei manchen Patienten gerät aber auch das ISAR-Team an seine Grenzen. So sucht eine Mutter Hilfe für ein fünfjähriges Mädchen, das in heißes Öl gefallen war, als beim Erdbeben die Hütte zusammenbrach. An die 20 Prozent der Körperoberfläche des Kindes sind verbrannt und die Wunden unbehandelt. „Das kann man eigentlich gar nicht überleben“, meint Kaup. Das Mädchen wird von den Ärzten erstversorgt. Es steht jedoch fest, dass man die Kleine nicht längerfristig weiterbetreuen kann und eine medizinische Alternative vor Ort gibt es nicht.
Einen Ausweg findet das Team mithilfe von Nachbarn und Anwohnern. Zweimal gelingt es, über die Sozialen Netzwerke einen Rettungshubschrauber zu organisieren, der jeweils drei bis vier schwer verletzte oder schwer kranke Patienten nach Port-au-Prince ausfliegen kann. Darunter ist auch ein Neugeborenes, das „fast tot“ von Mutter und Großmutter im Feldkrankenhaus eingeliefert wird. Die 20-jährige Mutter ist ebenfalls schwer krank. Sie leidet seit frühester Kindheit unter Krampfanfällen, die nie behandelt wurden. „Es war mehr als fraglich, ob wir das Kind retten können. Aber wir haben es geschafft, die Kleine zu stabilisieren“, sagt Kaup. Der Mutter verabreicht er Medikamente, um die Krampfanfälle zu stoppen. „Wir haben immer Arzneimittel zur Behandlung chronischer Erkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck dabei. Sie stammen vom Medikamentenhilfswerk action medeor. Die Medikamente dienen eigentlich nicht dazu, Patienten neu einzustellen, sondern die Zeit zu überbrücken, bis die Menschen sich wieder einen regulären Zugang zu ihrer Medikation verschaffen können“, erklärt der Hausarzt. Bei der jungen Mutter schlägt die Therapie sofort an. Die Großmutter ist dem ISAR-Team so dankbar, dass sie es bittet, den Namen für die neugeborene Enkelin auszusuchen. Das Team entscheidet sich für Isarbelle. „Wir versuchen jetzt, über den Pfarrer vor Ort herauszufinden, wie es Mutter und Kind geht und wo sie sich aufhalten“, sagt Kaup. „Denn wir wollen gerne die Patenschaft für die kleine Isarbelle übernehmen.“
Die zwischenmenschlichen Beziehungen, die während eines Einsatzes entstehen, sind dem Hausarzt wichtig. „Wir sind nicht die Helden und dann wieder weg“, sagt Kaup. „Wir wollen Freundschaft und Miteinander und vor allem Kompetenz vor Ort lassen.“ So habe das Team von Anfang an eng und gut mit der Krankenschwester vor Ort zusammengearbeitet: Während diese beispielsweise ihre Erfahrungen in der Behandlung von Tropenkrankheiten eingebracht habe, hätten die Helfer aus Deutschland Apotheke und Krankenstation neu ausgerüstet.
Das ISAR-Team sieht sich bei seinen Einsätzen in einer Rolle, die zu Hause der Rettungswagen einnimmt. „Wir sind schnell vor Ort und autark“, sagt Kaup. Wenn sich dann nach der akuten Phase einer Naturkatastrophe allmählich wieder Strukturen entwickelten, übernähmen größere Hilfsorganisationen die Versorgung, die länger brauchten, um anzurollen, dann aber auch breitflächig und längerfristig die Versorgung gewährleisten könnten. „Allerdings ist auf Grande Caymite nach uns niemand mehr gekommen“, räumt Kaup ein. Man werde aber versuchen, die Menschen dort weiter zu unterstützen. Möglicherweise reiche das Spendenaufkommen auch, um erneut ein kleines Team, bestehend aus einem oder zwei Helfern, auf die Insel zu schicken. „Wir werden dort nicht die medizinischen Strukturen verändern können. Wenn aber die Krankenschwester uns per E-Mail oder Telefon mitteilt, dass sie bestimmte Medikamente braucht, werden wir ihr die schicken“, bekräftigt Kaup. Einen weiteren großen Hilfseinsatz könne die Organisation hingegen finanziell und unter Sicherheitsaspekten nicht stemmen.
„Rettest Du ein Leben, rettest Du die Welt“
Kaup, der vor seiner Niederlassung als Hausarzt in einer Gemeinschaftspraxis lange als Anästhesist und Intensivmediziner im Krankenhaus gearbeitet hat, engagiert sich seit der Gründung der Hilfsorganisation im Jahr 2003 bei ISAR Germany. Die Initiative dazu ging von Mitgliedern der Feuerwehr Duisburg aus, die er von seinen Einsätzen als Notarzt im Rettungsdienst persönlich kannte. Dass er regelmäßig Auslandseinsätze leisten kann, hat Kaup, wie er sagt, in erster Linie seinen Praxispartnern Martina Neuber und Michael Etges zu verdanken, die ihn vertreten und denen er blind vertraut. Etges war nach der Erdbebenkatastrophe 2010 selbst mit ISAR Germany in Haiti im Einsatz. „Wir haben damals per Münze entschieden, wer von uns beiden geht“, erinnert sich Kaup.
Ist Hilfe in einem Land wie Haiti, das politisch instabil ist, in dem Korruption und Gewalt herrschen, nicht nur ein Tropfen auf den heißen Stein? „Unser Motto ist: Rettest du ein Leben, rettest du die Welt“, sagt Kaup. Er frage sich nicht, was sein Einsatz gesamtpolitisch bringe. Man könne immerhin das Leben einiger weniger Menschen verbessern. „Es ist eine gute Gelegenheit, Mensch zu sein“, sagt Kaup.
Suchen, bergen, behandeln
ISAR (International Search and Rescue) Germany, 2003 in Duisburg gegründet, leistet – seit 2007 unter dem Dach der Vereinten Nationen – Hilfe nach Naturkatastrophen, Unglücken und humanitären Katastrophen. Dazu gehört die Suche nach und die Rettung von Erdbebenopfern sowie die medizinische Versorgung der betroffenen Menschen. Zurzeit sind rund 170 freiwillige Helferinnen und Helfer bei ISAR aktiv, sechs feste Mitarbeiter kümmern sich um Organisation und Verwaltung. Im jüngsten Einsatz bei der Erdbebenkatastrophe in Haiti Ende August hat die Organisation innerhalb einer Woche 800 Patientinnen und Patienten medizinisch versorgt. Die Nichtregierungsorganisation finanziert sich aus Spenden: www.isar-germany.de/spenden, Spendenkonto: ISAR Germany Stiftung gGmbH, Bank für Sozialwirtschaft, IBAN: DE25 3702 0500 0001 1825 00, Sparkasse Duisburg, IBAN: DE48 3505 0000 0200 2687 87.