Vor zehn Jahren trat das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz in Kraft. Für den deutschen Medikamentenmarkt war das eine Zäsur. Denn seither orientieren sich die Preise für neue Arzneimittel an deren Zusatznutzen gegenüber dem Therapiestandard. Was viel kritisiert begann, hat sich im Rückblick „als lernendes System“ bewährt. Das war zumindest das Fazit einer Fachkonferenz, die am 19. März pandemiebedingt online stattfand.
von Heike Korzilius
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass im Jahr 2011 ausgerechnet ein liberaler Bundesgesundheitsminister das Preismonopol der Pharmaindustrie knackte. Philipp Rösler (FDP) brachte damals das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz, kurz AMNOG, auf den Weg. Seither können die Pharmaunternehmen die Preise für neue Arzneimittel nicht mehr uneingeschränkt selbst festlegen. Höhere Preise können sie nur noch dann erzielen, wenn die neuen Präparate einen Zusatznutzen gegenüber dem Therapiestandard haben (siehe Kasten).
Diesen Zusatznutzen bemisst der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA). Er stützt sich dabei in der Regel auf die Zuarbeit des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, das die Daten der pharmazeutischen Hersteller wissenschaftlich auswertet. „International hat sich Deutschland mit der systematischen Beurteilung von neuen Wirkstoffen sehr große Anerkennung erworben“, sagte der unparteiische Vorsitzende des G-BA, Professor Josef Hecken, bei einer virtuellen Fachtagung anlässlich des AMNOG-Jubiläums am 19. März dieses Jahres.
Hecken hob vor allem die Transparenz des Verfahrens hervor. In kaum einem anderen Bewertungsverfahren für medizinische Anwendungen würden der Öffentlichkeit so viele klinische Daten zur Verfügung gestellt wie im AMNOG-Prozess. Die Dossiers der Hersteller würden ebenso veröffentlicht wie die Beschlüsse des G-BA und die Stellungnahmen der betroffenen Unternehmen und Fachkreise. Seit Kurzem werden die Ergebnisse der Nutzenbewertungen zudem in die Verordnungssoftware der Ärztinnen und Ärzte integriert. Diesen will man damit unabhängige Informationen über Innovationen an die Hand geben und zugleich dafür sorgen, dass sich die Ergebnisse der Nutzenbewertung auch in den Verordnungen wiederspiegeln.
Hecken lobte, dass sich die Qualität der von den Pharmaunternehmen eingereichten Dossiers in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich verbessert habe. Auch die Patienten profitierten von dem Verfahren der Nutzenbewertung. Während in den ersten Jahren nach dessen Einführung Daten zur Lebensqualität in vielen Dossiers der Hersteller gefehlt hätten, seien sie inzwischen in knapp drei Viertel, aller Unterlagen enthalten.
Drei Milliarden Euro eingespart
Auch die finanziellen Erwartungen an das Verfahren hätten sich erfüllt, betonte Hecken. „Wir erzielen zurzeit verlässlich pro Jahr ein Einsparvolumen von deutlich über drei Milliarden Euro“, erklärte der G-BA-Vorsitzende. Für 2020 könnten die gesetzlichen Krankenkassen Prognosen zufolge sogar mit Einsparungen in Höhe von 3,9 Milliarden Euro rechnen.
Allerdings hat auch das AMNOG nicht verhindern können, dass die Kosten für neu zugelassene Arzneimittel Ende 2020 einen neuen Höchststand erreicht haben. Mit durchschnittlich 150.000 Euro je Patient und Jahr haben sich die Preise für neue Arzneimittel seit 2010 fast vervierfacht. Das belegt der aktuelle AMNOG-Report 2020 der DAK-Gesundheit. Demnach ist inzwischen jede vierte Neuheit auf dem deutschen Arzneimittelmarkt ein sogenanntes Hochpreis-Medikament mit Jahrestherapiekosten von mehr als 100.000 Euro.
20 Prozent der Verordnungen verursachten 80 Prozent der Arzneimittelkosten, erklärte Hecken bei der Fachtagung. Um zu verhindern, dass die Einführung immer teurerer Therapien die Krankenkassen an ihre finanziellen Grenzen bringt, forderte der G-BA-Vorsitzende eine „ernsthafte Diskussion“ über neue Möglichkeiten der Kostendämpfung. „Wir müssen uns zur Stabilisierung des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung und zur Vermeidung offener Rationierung ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen, ob der Erstattungsbetrag nicht rückwirkend ab dem Zeitpunkt der Nutzenbewertung durch den G-BA gelten sollte“, sagte der G-BA-Vorsitzende. Zu diesem Zeitpunkt sei eigentlich klar, in welcher Preisliga ein Wirkstoff spiele. Konkret bedeutet dieser Vorschlag, dass die Pharmaunternehmen dann nur noch ein halbes Jahr lang die selbst festgelegten Preise für ihre neuen Medikamente erzielen können statt wie bisher ein ganzes Jahr.
Um die Bezahlbarkeit der Arzneimittelversorgung zu sichern, hält Hecken die rückwirkende Geltung von Erstattungsbeträgen für vertretbarer als die Einführung einer sogenannten vierten Hürde, die die Markteinführung neuer Medikamente an eine vorherige Kosten-Nutzen-Bewertung knüpfen würde. Denn im Gegensatz dazu behindere der AMNOG-Prozess die Verfügbarkeit neuer Arzneimittel nicht. Von 21 im Jahr 2018 von der Europäischen Arzneimittelagentur EMA zugelassenen Arzneimitteln gegen seltene Erkrankungen seien 19 in Deutschland eingeführt worden, „und das binnen durchschnittlich 1,3 Monaten“, betonte Hecken. In Frankreich brauche es im Schnitt 18,8 Monate, in Spanien 14,6, in England 13 und in Italien 11,7 Monate, bis ein neues Medikament in der Versorgung ankomme.
Die Preisbildung bei neuen Medikamenten sei eines der politisch schwierigsten Themen, räumte auch Thomas Müller ein. Der Leiter der Abteilung Arzneimittel im Bundesgesundheitsministerium war zuvor lange Jahre beim G-BA tätig und von Anfang an in den AMNOG-Prozess eingebunden. Hinter dem Verfahren der Nutzenbewertung habe immer die Idee gestanden, „faire Preise für gute Arzneimittel“ zu erzielen, sagte Müller.
Nach Ansicht des BMG-Abteilungsleiters hat das AMNOG mit seinen Anreizsystemen dazu beigetragen, die Forschungsagenda der Pharmaunternehmen zu verändern. Es sei „ein ganz großer Fortschritt“, dass die Hersteller, statt wie in der Vergangenheit auf Me-Toos zu setzen, inzwischen verstärkt in sogenannte Sprunginnovationen investierten. „Es bringt den Patienten nichts, wenn die Industrie 20 Protonenpumpenhemmer, 30 Betablocker und 50 Benzodiazepine produziert“, sagte Müller. Deshalb müsse die Politik die richtigen Forschungsanreize setzen, und die seien nun einmal meist finanzieller Art. „Wir sollten Pharmapreise deshalb nicht moralisch bewerten“, forderte er. Gute Produkte dürften ruhig etwas kosten. Das heiße nicht, dass man die Ausgabenentwicklung völlig aus dem Blick verlieren sollte. „Wir müssen nur aufpassen, dass wir die richtigen Anreize setzen“, betonte Müller. „Das Fazit ist, die Industrie kann alles: von den Wundern, die wir jetzt bei den Corona-Impfstoffen erleben, über Kopien, die nicht viel Fortschritt bringen bis hin zum Opiatskandal in den USA.“
Fehlanreize korrigieren
Fehlanreize haben offenbar auch dazu geführt, dass die Europäische Union ihre Gesetzgebung zur Förderung von Arzneimitteln gegen seltene Erkrankungen überarbeiten will. Die sogenannten Orphanpräparate genießen seit 1999 eine besondere Marktexklusivität. Damit wollte man Forschung und Entwicklung in diesem Bereich fördern. Experten wie der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Professor Dr. Wolf-Dieter Ludwig, kritisieren seit Längerem, dass die Pharmaindustrie die Sonderregelung ausnutzt, indem sie künstlich Indikationen für immer kleinere Patientengruppen schafft und Zulassungen für diese Gruppen später zunehmend ausweitet. Mit manchen „Orphan Drugs“ erzielten Unternehmen Blockbuster-Umsätze von mehreren Milliarden Euro, lautet die Kritik. Förderungswürdig sei daran nichts mehr.
Mehr beschleunigte Zulassungen
Neben der deutlichen Zunahme von Orphanpräparaten im Arzneimittelmarkt hat Ludwig einen weiteren Trend ausgemacht. Die dominierende Indikation bei den neu von der EMA zugelassenen Arzneimitteln war im Jahr 2019 die Onkologie. Von 30 Neuzulassungen waren zwölf Krebstherapeutika und sieben Orphan-Arzneimittel. Dabei werden gerade in der Onkologie immer mehr Therapeutika in beschleunigten Verfahren oder unter Auflagen zugelassen. Das sei eine große Herausforderung für den AMNOG-Prozess, sagte der G-BA-Vorsitzende Hecken. Denn die Datenbasis für diese Medikamente sei bei ihrem Markteintritt in der Regel dünn. Zwischen 2012 und 2019 traf das Hecken zufolge im Schnitt auf 26 Prozent der neuen Arzneimittel zu. „Für die Wissensgenerierung haben wir hier inzwischen das Instrument der anwendungsbegleitenden Datenerhebung. Der Einsatz des Arzneimittels wird möglichst durch qualitätssichernde Vorgaben flankiert“, sagte der G-BA-Vorsitzende. Nach Ansicht der Experten ist hier aber auch das AMNOG als „lernendes System“ gefragt. Denn im Rahmen des Verfahrens müssten die Möglichkeiten der Evidenzgenerierung erweitert werden, indem zum Beispiel verstärkt Daten aus Registerstudien herangezogen würden.
Auf eine Schattenseite des AMNOG wies schließlich Han Steutel, Präsident des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller, hin. Das Verfahren funktioniere weniger gut bei Medikamenten, die gegen die sogenannten Volkskrankheiten wie Diabetes oder Bluthochdruck entwickelt würden. Da gehe es häufig um ein „Add on“, einen weiteren therapeutischen Ansatz, und es sei häufig schwierig, eine Vergleichstherapie zur Nutzenbewertung heranzuziehen. „Hier sind viele Unternehmen aus der Forschung ausgestiegen“, sagte Steutel. Ansonsten habe sich das AMNOG auch aus Sicht der Industrie „eingespielt“.
Das AMNOG-Verfahren
Das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz, das am 1. Januar 2011 in Kraft trat, hat die Preisbildung für neu zugelassene Arzneimittel neu geregelt. Seither rechtfertigt nur ein Zusatznutzen gegenüber einer zweckmäßigen Vergleichstherapie einen Preis, der über dem von Nachahmer-Präparaten liegt.
Den Zusatznutzen bewertet der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) innerhalb von sechs Monaten nach Markteintritt in den Kategorien erheblich, beträchtlich, gering, nicht quantifizierbar, nicht belegt. Seit 2011 hat der G-BA 474 Nutzenbewertungen vorgenommen. Bei mehr als der Hälfte (57 Prozent) stellte er einen Zusatznutzen fest. Für Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen (Orphan Drugs) gilt der Zusatznutzen bis zu einer Umsatzgrenze von 50 Millionen Euro im Jahr als belegt. Wird kein Zusatznutzen festgestellt, wird das neue Arzneimittel einer Festbetragsgruppe mit pharmakologisch-therapeutisch vergleichbaren Präparaten zugeordnet. Liegen belastbare Daten zum Zusatznutzen zum Zeitpunkt der Markteinführung noch nicht vor, kann der G-BA eine anwendungsbegleitende Datenerhebung fordern.
An eine positive Nutzenbewertung schließen sich Preisverhandlungen zwischen dem Pharmaunternehmen und dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen an, die innerhalb von sechs Monaten zum Abschluss kommen müssen. Für die Arzneimittelhersteller bedeutet das, dass sie den Preis für ihr neues Medikament im ersten Jahr frei bestimmen können.