Eine psychisch kranke Frau überlebt schwer polytraumatisiert einen Suizidversuch. Sie liegt auf der Intensivstation und ist nicht ansprechbar. Behandlungsteam und Angehörige sind sich uneinig über die weitere Therapie. In der medizinethischen Beratung wird die Frage erörtert, wie der von den Angehörigen geltend gemachte Wille der Patientin im Rahmen des Suizidversuchs zu bewerten ist.
von Sonja Vonderhagen und Hans-Jörg Stets
Frau A. ist seit Langem psychisch erkrankt. In suizidaler Absicht wirft sich die 51-Jährige vor einen fahrenden Zug und wird dabei schwer polytraumatisiert. Aufgrund kurzer Versorgungs- und Transportzeiten in ein Traumazentrum der Maximalversorgung gelingt es, das Leben von Frau A. zu retten und eine primäre Stabilisierung auf der Intensivstation zu erreichen. Die Patientin wird beatmet und ist nicht ansprechbar. Ein Überleben scheint möglich, aber der neurologische Status nach Schädel-Hirn-Trauma ist initial unklar und es stehen bis dato noch mehrere operative Eingriffe zur Versorgung aller erlittenen Verletzungen an. Im Falle des Überlebens wird Frau A. langfristig an einen Rollstuhl gebunden und hochgradig pflegebedürftig sein. Die Angehörigen fordern, jedwede Therapie umgehend abzubrechen. Sie machen geltend, dass Frau A. eine psychisch hochbelastete Vergangenheit habe und der Suizidversuch als Ausdruck ihres freien Willens zu verstehen sei.
Medizinische Epikrise
Frau A. leidet seit vielen Jahren an einer posttraumatischen Belastungsstörung, die mit Schlaflosigkeit und Panikattacken einhergeht. Psychologische Hilfe lehnte sie immer wieder ab und versuchte stattdessen, mittels medikamentöser Therapie ihre Probleme zu bekämpfen. Dies führte zusätzlich zu einer Benzodiazepinabhängigkeit. Nach Aussage der Angehörigen hatte Frau A. zuvor noch keinen Suizidversuch unternommen. Ihr Sturz vor die Bahn war nachweislich ohne Fremdverschulden erfolgt.
Infolge des nur knapp überlebten Suizidversuchs mussten Frau A. beide Beine amputiert werden. Weitere schwerste Verletzungen einschließlich eines Schädel-Hirn-Traumas zeichneten einen langen intensivmedizinischen Weg vor. Internistische Vorerkrankungen bestehen nicht.
Soziale Vorgeschichte
Frau A. wuchs mit ihren Eltern und ihrer Schwester in der ehemaligen DDR auf. Sie hat einen Realschulabschluss, ist gelernte Schreibkraft und arbeitete zunächst als Sekretärin. Nach mehreren Jobs als Hilfsarbeiterin ging sie zuletzt keinem Beruf mehr nach und lebte von ihren Ersparnissen.
Bei einem missglückten Fluchtversuch aus der DDR als junge Erwachsene erfuhr Frau A. schwere physische und psychische Gewalt. Die Erlebnisse aus dieser Zeit wurden nie aufgearbeitet. Frau A. ist ledig und hat keine Kinder. Sie lebt seit Jahren mit ihrer Schwester zusammen, zu der sie eine innige Bindung pflegt. Desweiteren besteht noch eine enge Bindung zu den Eltern. Ansonsten lebt sie sozial sehr zurückgezogen. Patientenverfügungen oder Vorsorgevollmachten liegen nicht vor.
Ethischer Konflikt
Zum Zeitpunkt der Anfrage an das Ethikkomitee der Klinik befindet sich Frau A. immer noch auf der Intensivstation. Sie ist weiterhin nicht ansprechbar. Nach initialer Stabilisierung scheint ein Überleben mittlerweile möglich, dies allerdings verbunden mit erheblichen funktionalen Defiziten.
Die Beziehung des Behandlungsteams zu den Angehörigen von Frau A. ist von Beginn an angespannt. Die Eltern und die Schwester fordern die umgehende Einstellung der Behandlung und berufen sich dabei auf den Patientenwillen. Dabei zeigt die Familie eine auffällige Dissoziation: Einerseits äußern sie den Wunsch: „Lasst sie doch bitte sterben, das hat sie so gewollt!“ Andererseits verneinen sie jegliche psychologischen oder psychiatrischen Probleme der Patientin in der Vergangenheit. Objektive Vorbefunde existieren nicht, da Frau A. nie psychologische Hilfe in Anspruch genommen hat.
Der genaue psychische Zustand von Frau A. war zu diesem Zeitpunkt nicht klar einschätzbar, fremdanamnestisch durch die Erzählungen der Schwester erhoben wirkte er hoch ambivalent.
Es stellt sich die Frage: Ist die weitere Behandlung der Patientin medizinisch indiziert und entspricht sie dem Patientenwillen? Da der Suizidversuch von Frau A. vom Behandlungsteam und den Angehörigen unterschiedlich bewertet wird, muss zudem die Frage beantwortet werden, was ethisch geboten ist.
Nach primär hochlebensbedrohlicher Situation stellt sich bereits nach wenigen Tagen unter intensivmedizinischer Komplextherapie ein durchaus überlebbarer Zustand ein. Die Patientin zeigt trotz Schädel-Hirn-Trauma Wachheitszeichen. Zur Behandlung erlittener Bauch- und Beckenverletzungen sind noch komplikationsbehaftete weitere Eingriffe notwendig. Im Falle einer Rekonvaleszenz ist noch nicht abzusehen, ob nach traumatischer, hoher Amputation der Beine eine Mobilisation in den Sitz möglich ist. Auch die abdominellen offenen Wunden würden eine monatelange pflegerische Versorgung benötigen. Im Behandlungsteam besteht Konsens darüber, die Therapie vorerst vollumfänglich weiterzuführen, gleichzeitig gibt die letztliche Lebensqualität mit langfristiger Pflegebedürftigkeit innerhalb des Teams viel Anlass zur Diskussion.
Der Patientenwille bleibt zunächst unklar. Einerseits muss der durchaus „harte Suizidversuch“ als eine Ablehnung des Weiterlebens gewertet werden. Andererseits ist die psychische Verfassung im Vorfeld der Tat ebenso unbekannt wie psychiatrische Vordiagnosen.
Es zeigt sich ein Konflikt zwischen den Angehörigen und dem Behandlungsteam. Unter Beachtung der vier medizinethischen Prinzipien von Beauchamps und Childress steht hier die Autonomie der Patientin gegenüber dem Prinzip der Fürsorge. Die Angehörigen und das Behandlungsteam folgen in ihrer Argumentation unterschiedlichen ethischen Prinzipien. Man könnte unter mehrdimensionaler Betrachtung von einem ethischen Dissens sprechen.
Begründete Empfehlung der Ethikberatung
Auch wenn die Angehörigen primär eine Einstellung der Therapie auf der Grundlage des Suizidversuchs fordern, besteht kein Zweifel an der rechtlichen und berufsethischen primären Hilfeleistungspflicht des präklinischen und klinischen Behandlungsteams.
Angesichts einer ärztlich prognostizierten möglichen zeitnahen Ansprechbarkeit von Frau A. wird im Konsens die Indikation zur weiteren vollumfänglichen Therapie mit eventuell erneuter Fallbesprechung in einem festgelegten Intervall statuiert. So wird zunächst beiden ethischen Prinzipien Rechnung getragen in der Hoffnung, zeitnah mit Frau A. selbst sprechen zu können. Natürlich impliziert dies auch eine psychiatrische Begutachtung, ob die Patientin entscheidungsfähig ist.
Weiterer Verlauf
Innerhalb von zwei Wochen erwacht Frau A.. Sie ist letztlich neurologisch unbeschadet, wenn auch psychisch hoch verhaltensauffällig mit deutlicher Ambivalenz zwischen Verweigerung jedweder Behandlung und Zeichen von Lebensmut. Es folgen mehrere psychiatrische Begutachtungen, bei denen der Patientin eine langjährige posttraumatische Belastungsstörung mit Entwicklung einer schweren Depression und eine Benzodiazepinabhängigkeit attestiert werden. Aufgrund des chronischen unbehandelten Verlaufs sei auch eine schwere Persönlichkeitsstörung nicht auszuschließen.
Trotzdem zeigt Frau A. mit zunehmender Rekonvaleszenz weiteren Lebensmut, der letztlich nach erheblichen Kontroversen mit den Angehörigen auch von diesen mitgetragen wird.
Frau A. kann mithilfe eines speziell angefertigten Rollstuhls in den Sitz mobilisiert werden und wird nach dreimonatiger stationärer Behandlung mit häuslicher Pflege und Hilfmitteln in das barrierefrei umgebaute Elternhaus entlassen.
Kommentar zur Fallvignette
Der vorliegende Fall zeigt exemplarisch die Komplexität ethischer Problemlagen auf. In der ersten Phase unmittelbar nach der akuten Notfallbehandlung erfolgt eine Beurteilung anhand der Prinzipien „Patientenwillen“ und „Fürsorge“. Nachdem die Patientin stabilisiert ist und Zeit für eine gründliche (soziale) Anamnese zur Verfügung steht, tauchen allerdings neue Fragen auf. Die Beurteilung des Patientenwillens erhält für die weitere Vorgehensweise zentrale Bedeutung:
Handelt es sich in diesem Fall um den freien Willen einer einwilligungsfähigen Patientin, die die Zustimmung zu einer lebenserhaltenden Maßnahme verweigert? Dann wäre diesem Willen beziehungsweise der fehlenden Zustimmung zur weiteren Behandlung zu folgen und die lebenserhaltenden Maßnahmen müssten unterlassen werden.
Oder handelt es sich im Fallbeispiel bei der Entscheidung zum Suizid(versuch) um ein Symptom einer psychischen Erkrankung beziehungsweise um die Begleiterscheinungen einer akuten Krise? Dann wäre es die Pflicht der Behandler, die Patientin zu schützen und nach einer somatischen Behandlung psychiatrische und psychotherapeutische Hilfen anzubieten, um den Tunnelblick zu weiten und die Entwicklung neuer Lebensperspektiven zu fördern.
In dem vorliegenden Fallbeispiel konnte trotz der Forderungen der Angehörigen kein klarer Wille einer einwilligungsfähigen Patientin erkannt werden. Und so erfolgte die Entscheidung für eine Weiterbehandlung folgerichtig unter Abwägung der medizinethischen Prinzipien von „Fürsorge“ und „Nicht-Schaden“. Die ethische Gewichtung wurde Teil der ärztlichen Indikationsstellung. Der weitere Behandlungsverlauf zeigte, dass die getroffene Entscheidung angemessen war.
Wie würde ein ethischer Diskurs in vergleichbaren Fällen verlaufen, in denen ein eindeutig geäußerter Wille eines Patienten vorliegt? In einer Unfallchirurgie haben es Behandlungsteams oft mit Patienten nach einem wiederholt gescheiterten Suizidversuch zu tun. Welche Bedeutung hat es, wenn sich ein Patient trotz jahrelanger psychiatrischer Behandlung wiederholt und bewusst zu einem Suizidversuch entscheidet und dies zum Beispiel in den wachen Zeiten zwischen psychotischen Schüben oder bipolaren Phasen äußert:Ich bin seit mehr als 20 Jahren krank und weiß um das Leid, das ich meinen Lieben in meinen depressiven Phasen und genauso in den schrecklichen manischen Zeiten zufüge. Ich nehme schon jahrelang Medikamente mit vielen Nebenwirkungen ein, die mein Problem aber nicht grundsätzlich lösen. Ich bin es satt und müde. Ich will nicht mehr gerettet werden. Unterlasst bei meinem nächsten Suizidversuch alle Rettungsmaßnahmen!“
Dürfen oder müssen solche Äußerungen als autonomer Wille gewertet und beachtet werden? Kann, will oder muss unsere Gesellschaft solche Bilanz-Entscheidungen von chronisch schwer erkrankten Psychiatriepatienten akzeptieren und, vergleichbar zur somatischen Medizin, bei fehlender Zustimmung eines Patienten Rettungsmaßnahmen nach einem Suizid unterlassen?
Dr. Sonja Vonderhagen ist Oberärztin der Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie am Universitätsklinikum Essen, Mitglied des Klinischen Ethik-Komitees des Universitätsklinikum Essen und Mitglied des Gründungsausschusses für das Komitee für medizinethische Beratung der Ärztekammer Nordrhein.
Hans-Jörg Stets ist Vorsitzender des Klinischen Ethik-Komitees des Universitätsklinikum Essen, Trainer für Ethikberatung im Gesundheitswesen (AEM) und Supervisor (DGSv).