Seit wenigen Monaten können Ärztinnen und Ärzte Digitale Gesundheitsanwendungen zulasten der gesetzlichen Krankenkassen verschreiben. Allerdings ist der Mehrwert aus ärztlicher Sicht fraglich.
von Ivo Grebe
Neulich in der Sprechstunde. Eine etwa 50-jährige Patientin mit einem BMI von 36 klagt über zunehmende Luftnot bei Alltagsbelastungen wie Treppensteigen oder längerem Gehen. Eingehende Untersuchungen beim Pneumologen und Kardiologen einschließlich eines Rechtsherzkatheters bleiben bis auf eine milde Hypertonie ohne richtungsweisenden Befund. Die naheliegende Empfehlung: Gewichtsabnahme – nur wie? Sie habe schon vieles versucht, und nichts habe nachhaltig geholfen. Medikamente kommen wegen fehlender Wirksamkeit oder problematischer Nebenwirkungen nicht in Betracht. Das Arzt-Patienten-Gespräch droht, mit ratlosem Schulterzucken zu enden. Da erscheint vor dem inneren Auge des Arztes der rettende Name „Zanadio“. Das ist die erste App zur „Therapieunterstützung bei Adipositas“. Ein kurzer Klick auf die Arzneimitteldatenbank, und schon hält die Patientin das Rezept in der Hand und verlässt voll freudiger Erwartung die Praxis. Die Kosten der Verordnung für drei Monate belaufen sich auf 499 Euro. Eine Extra-Vergütung für die ausführliche internistische Beratung? Fehlanzeige.
Digitale Gesundheitsanwendungen, kurz DiGA, haben Einzug in den Praxisalltag gehalten. Fast unbemerkt und mitten im schärfsten Lockdown der zweiten Corona-Pandemiewelle sind die ersten DiGA im Oktober 2020 an den Start gegangen. Nach einem kurzen Zertifizierungsverfahren durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte werden dort bisher zehn Apps gelistet, die zulasten der gesetzlichen Krankenkassen verordnet werden können. Einige wurden im „Fast-track-Verfahren“ zugelassen, andere auf Probe für zwölf oder 24 Monate. Für die internistische oder hausärztliche Praxis relevant sind die erwähnte App zur Gewichtsreduktion, „Rehappy“ zur Nachsorge bei Schlaganfall oder „Vivira“ bei Rücken- und Gelenkschmerzen. Die übrigen bisher zertifizierten Apps kommen bei Tinnitus oder depressiven und Angststörungen zum Einsatz.
Kaum wurden erste kritische Stimmen zu den Gesundheits-Apps laut, ging die Digitalisierungsoffensive des Bundesgesundheitsministeriums in die nächste Runde. Mitte Januar 2021 wurde das Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz als Kabinettsentwurf beschlossen. Darin wird unter anderem eine Sicherheitsprüfung bei den DiGA angekündigt, daneben sollen eine flexible Erprobungszeit und ein Datenaustausch mit der elektronischen Patientenakte ermöglicht werden. Außerdem wird es digitale Pflegeanwendungen, sogenannte DiPA, geben – eine genaue inhaltliche Beschreibung dazu fehlt bisher.
Welchen Mehrwert haben nun DiGA in der ambulanten Versorgung? Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) ist skeptisch. Der KBV-Vorsitzende Dr. Andreas Gassen prophezeit einen Geldabfluss von über einer Milliarde Euro, der bei eifriger DiGA-Nutzung auf die Kassen zukommen und damit im ambulanten Sektor fehlen werde. Kein Wunder, dass der GKV-Spitzenverband schärfere Regeln für die Erstattungsfähigkeit verlangt und gleichzeitig Forderungen der KBV nach einer Extra-Honorierung ärztlicher Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Verordnung von DiGA eine Absage erteilt. Der medizinische Nutzen für Patientinnen und Patienten lässt sich nach aktueller Studienlage bei den meisten DiGA nur vage erkennen. So begann für die App zur Adipositas-Behandlung erst im Januar 2021 eine randomisierte Studie in Kooperation mit der Uniklinik Leipzig, um die Wirksamkeit zu überprüfen. Insofern hat Dr. Wolfgang Krombholz, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns, recht, wenn er fordert, „Patienten dürfen nicht zu Versuchskaninchen der IT-Industrie und App-Programmierer werden“.
Daneben sind mangelnde Transparenz bei der App-Nutzung und ungenügender Datenschutz weitere Probleme, die sich rund um die DiGA auftun. Was nach dem Download auf Kassenkosten passiert, ist völlig offen. Wird die App konsequent genutzt? Tritt eine objektivierbare Besserung der Erkrankung ein? Ist eine ärztliche Kontrolluntersuchung vorgesehen? Was passiert mit den Daten, wenn im App-Store oder im Google Playstore der Download erfolgt?
Es fehlen transparente Regelungen zum Datenschutz und die zwingende fachliche Begleitung durch den behandelnden Arzt. Dem Krankenhaus- oder Vertragsarzt müsste ähnlich wie bei der Neueinführung von Medikamenten die DiGA zur Verfügung gestellt werden, damit er sich mit den Inhalten vertraut machen kann. Auch sollte es nicht allein in der Entscheidung der Krankenkasse liegen, ob ein Patient die App kostenlos nutzen kann. Gesundheits-Apps sind keine harmlosen digitalen Spielzeuge, die als eine Art ärztliche Wunschverordnung in die medizinische Versorgung gelangen.
Wichtigste Grundlage einer erfolgreichen Therapie ist und bleibt die vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung. Diese elementare Erkenntnis gilt auch für digitale Anwendungen. Die Medizin hat es in ihrer langjährigen Tradition gelernt, Fortschritt und Innovationen so umzusetzen, dass für Patienten der größtmögliche Nutzen entsteht. Diese Maxime sollte auch beim Einsatz digitaler Gesundheitsanwendungen gelten.
Dr. Ivo Grebe ist als hausärztlicher Internist in einem Klinik-MVZ tätig und Vorsitzender der Kreisstelle Stadtkreis Aachen der Ärztekammer Nordrhein.