Auch bei leitliniengerechten Therapiemaßnahmen zur Symptomlinderung am Lebensende können Unsicherheiten darüber entstehen, ob eine Therapie ethisch zulässig ist. Im vorliegenden Fall diskutierten die Teilnehmer einer medizinethischen Fallberatung die Indikation einer palliativen Sedierung bei nicht-somatischen Symptomen.
von Stefan Meier, Laura Trocan, Gisela Janßen und Thorsten Trapp
Eine palliative Sedierung kann entsprechend der S3-Leitlinie Palliativmedizin erwogen werden, wenn bei unerträglichem Leid durch andere therapeutische Maßnahmen keine zufriedenstellende Symptomlinderung erreicht werden kann. Die Leitlinie gibt auch Empfehlungen zur Indikation und Durchführung einer palliativen Sedierung. Dennoch bleiben häufig Unsicherheiten über die ethische Zulässigkeit dieser Therapie. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Indikation zur palliativen Sedierung vorwiegend auf nicht-physischen Symptomen beruht. Für diese Fälle werden in der Leitlinie „besondere Verfahrenshinweise“ benannt, zum Beispiel eine multiprofessionelle Fallkonferenz, in der Indikation und Zulässigkeit der Therapie geklärt werden sollen. Im vorliegenden Fall wurden Fragen und Bedenken zur Indikation einer palliativen Sedierung im Rahmen einer ethischen Fallbesprechung diskutiert.
Medizinische Vorgeschichte
Bei einer 16-jährigen Patientin wurde im Sommer 2017 eine akute myeloische Leukämie diagnostiziert. Neben einer konventionellen Chemotherapie erfolgte eine Hochdosistherapie mit nachfolgender allogen verwandter Stammzelltransplantation. Sechs Monate später diagnostizierte man einen Rückfall der Leukämie. Aufgrund bereits vorhandener Funktionseinschränkungen von Niere und Herz wurde – nach individueller Nutzen- und Risikoabwägung – eine Chemotherapie mit Azazitidine in Kombination mit einer Immuntherapie begonnen.
Die Patientin vertrug diese Therapie nur mäßig gut. Mehrfach musste sie mit starker Übelkeit, Erbrechen oder Angstzuständen sowie Infektionen stationär behandelt werden. Zusätzlich bestanden rezidivierende Bauch- und Knochenschmerzen, die intermittierend mit Opioiden und Metamizol behandelt wurden. Durch Azazitidine und wöchentliche Transfusionen konnte die Erkrankung vorübergehend kontrolliert, jedoch keine Remission erreicht werden, sodass die Behandlung in Absprache mit der Patientin und ihrer Familie nach 13 Monaten beendet wurde. Eine weitere Therapiemöglichkeit war nicht mehr gegeben.
Schon bald nach Diagnose des Rezidivs wurde der Familie die Unterstützung durch ein Kinderpalliativteam angeboten. Diese Begleitung wies die Familie bei dringendem Wunsch auf Heilung zunächst zurück. Zugleich lehnte die Familie Gespräche zum Vorgehen in Notfallsituationen ab. Die Patientin und ihre Mutter nahmen jedoch eine gesprächstherapeutische Unterstützung durch eine Psychologin wahr.
Bereits während der Rezidivchemotherapie war intermittierend eine anxiolytische Therapie mit Lorazepam erforderlich. 14 Monate nach Diagnose des Rückfalls wurde eine intravenöse Analgesie mit Hydromorphon gestartet. In dieser Zeit veranlasste man auch eine ausschließlich häusliche Versorgung. Der Zustand der Patientin verschlechterte sich nun rapide. Die Lorazepam- und Hydromorphondosis musste rasch und wiederholt gesteigert werden. Trotz dieser intensivierten therapeutischen Maßnahmen ergab sich im Verlauf keine ausreichende Symptomkontrolle. Die Patientin forderte daraufhin als weitere Maßnahme eine palliative Sedierung.
Soziale Vorgeschichte
Die Eltern der Patientin sind getrennt, die 16-Jährige lebt bei ihrer Mutter. Sie hat zwei gesunde, vier Jahre ältere Brüder, die beim Vater leben. Ein weiteres Geschwisterkind starb im Säuglingsalter. Das Verhältnis der Patientin zu ihrer Mutter ist sehr eng. Die Mutter bringt sich sehr in alle Fragen und Entscheidungen bezüglich der Erkrankung und Behandlung ein. Die Patientin beschreibt ihre Mutter als „ihr Sprachrohr“.
Situation und ethische Fragestellung
Zum Zeitpunkt der Anfrage an das Klinische Ethikkomitee (KEK) der Universitätsklinik Düsseldorf wurde die Prognose der Patientin als sehr begrenzt mit Tagen bis wenigen Wochen eingeschätzt. Klinisch dominierten neben Schmerzen und Dyspnoe vor allem zunehmende Angstzustände. Die Patientin beschrieb ihre Ängste einerseits als Angst vor Atemnot und andererseits als Angst vor dem Tod. Nach Einschätzung der betreuenden Psychologinnen war ein ressourcenorientiertes und angstreduzierendes gesprächstherapeutisches Arbeiten mit der Patientin nicht mehr möglich. Gesprächsangebote wurden ihnen zufolge umgangen. Das Team der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) diskutierte in dieser Situation die Indikation für eine palliative Sedierung. Die führende Fragestellung dabei war, inwieweit das führende, nicht-somatische Symptom „Angst“ in diesem Fall eine Indikation darstelle. Das SAPV-Team formulierte außerdem die Sorge, dass eine palliative Sedierung ein unzulässiges Erfüllen eines Wunsches nach beschleunigtem Versterben darstellen könne.
Diskussion in der Ethikberatung
In den Fallberatungen des KEK erfolgt zunächst eine Faktensammlung, bei der eine Bestandsaufnahme der medizinischen, pflegerischen und sozialen sowie spirituellen Situation stattfindet und Fragen zur Ermittlung des Patientenwillens geklärt werden. Unter Zugrundelegung der Prinzipien Selbstbestimmung, Wohltun, Schaden und Gerechtigkeit der biomedizinischen Prinzipienethik nach Beauchamp und Childress wird dann eine zu Beginn der Beratung festgelegte ethische Frage diskutiert. In dem hier geschilderten Fall lautete diese Frage: „Ist es ethisch gerechtfertigt, aufgrund der führenden Angstsymptomatik eine palliative Sedierung zu beginnen?“ In der Ethikberatung waren neben dem Moderator des KEK und zwei weiteren KEK-Mitgliedern der behandelnde Onkologe, die betreuende Psychologin sowie Mitglieder des SAPV-Teams anwesend. Es wurde zuvor einvernehmlich entschieden, dass weder die Patientin noch ihre Mutter an der Beratung teilnehmen sollten, da die ethische Diskussion innerhalb des Behandlungsteams im Fokus stand und weniger ein Konflikt zwischen Behandlungsteam und Patientin bestand.
Selbstbestimmung
Die ethische Fallbesprechung fand wenige Tage nach dem 18. Geburtstag der Patientin statt. Sie hatte bislang Entscheidungen zur Therapie überwiegend ihrer Mutter überlassen. Für die Fallbesprechung hatte die nun Volljährige selbstständig und handschriftlich eine Patientenverfügung verfasst, in der sie für sich eine Aufnahme auf eine Intensivstation oder eine Reanimation ausschloss. Darüber hinaus stellte sie eine Vorsorgevollmacht für ihre Mutter aus. Das SAPV-Team beschrieb das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter als „fast symbiotisch“ und betrachtete es daher als wichtig, die Mutter trotz Volljährigkeit der Patientin weiter in den Entscheidungsprozess miteinzubeziehen.
Die Patientin habe angegeben, ihre Ängste mit den bislang angebotenen Therapiemitteln nicht ertragen zu können, berichtete das SAPV-Team. Sie wünsche sich eine palliative Sedierung, weil sie keine Angst und Atemnot mehr erleben wolle. Es bestehen nach Ansicht des Teams keine Zweifel an ihrer Einwilligungsfähigkeit. Sie sei in der Lage, Umfang und Tragweite einer palliativen Sedierung zu verstehen. Mit Blick auf die Selbstbestimmung der Patientin stellten die Teilnehmer der Fallbesprechung fest, dass eine palliative Sedierung die Wünsche und Bedürfnisse der jungen Frau berücksichtigen und sie insbesondere in ihrer Angst wahrnehmen würde.
Wohltun und Schaden
Es bestand einhellig die Meinung, dass eine palliative Sedierung zu einer effektiven Anxiolyse und damit zu einer nachhaltigen Leidenslinderung führen würde. Weiter führten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Fallkonferenz an, dass die Reduktion der Symptome durch die palliative Sedierung auch für die Familienmitglieder und Mitglieder des Behandlungsteams entlastend sein könnte. Es wurde allerdings kritisch angemerkt, dass dieses Argument nicht entscheidend sein könne, da es vorrangig um die Behandlung der Ängste und des Leids der Patientin gehen müsse. Als ein denkbarer Schaden wurde die Möglichkeit angesprochen, dass die 18-Jährige mit Einsetzen der Sedierung keine aktive Teilhabe am Leben haben werde und positive Erlebnisse für sie nicht mehr erfahrbar seien. Auch könne bei einer palliativen Sedierung die Unfähigkeit, aktiv zu kommunizieren, das Abschiednehmen in der Familie erschweren. Die Familie könnte durch ihre Zustimmung zur palliativen Sedierung Schuldgefühle und Scham entwickeln, der Patientin in ihren Bedürfnissen nicht gerecht geworden zu sein. Die Diskussion zeigte deutlich, dass das nicht-physische Symptom Angst aufgrund seiner Bedeutung und Ausprägung wie ein physisches Symptom zu werten ist. Das Vorenthalten einer palliativen Sedierung würde dem Recht der Patientin auf eine adäquate Symptomlinderung entgegenstehen und so einen Schaden für sie verursachen, so die Meinung der Teilnehmer der Fallbesprechung.
Vereinbarung
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Fallberatung diskutierten erneut alle denkbaren Handlungsoptionen, zu denen eine palliative Sedierung, ein Angebot weiterer nichtmedikamentöser Therapien und eine Erweiterung der symptomkontrollierenden Medikation ohne palliative Sedierung gehörten. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass in diesem Fall eine akzeptable Symptomkontrolle nur durch die palliative Sedierung möglich ist. Die Teilnehmer der Fallbesprechung stellten fest, dass das führende Problem der Angst genauso wie ein physisches Symptom gesehen werden muss. In der Abwägung von Wohltun und Schaden überwiegen ihrer Meinung nach deutlich die Argumente für eine Sedierung. Der Patientin die palliative Sedierung vorzuenthalten, werteten sie als einen Verstoß gegen ihr Selbstbestimmungsrecht. Die Teilnehmenden der Fallbesprechung beantworteten die zu Beginn der Fallbesprechung gestellte Frage unter Würdigung der für diesen Fall bedeutsamen ethischen Prinzipien dahingehend, dass es gerechtfertigt sei, eine palliative Sedierung durchzuführen. Die Teilnehmer halten es für wichtig, der Patientin und ihrer Mutter das geplante Vorgehen in einem gemeinsamen Gespräch zu erläutern.
Am Ende der Fallberatung äußerten die Teilnehmer, sie hätten die Besprechung als hilfreich empfunden. Sie habe einerseits für mehr Sicherheit in der Beurteilung des aktuellen Falls gesorgt und andererseits auch für zukünftige, ähnliche Fälle zu einer Klärung beigetragen, weil Bedenken und unterschiedliche Standpunkte offen diskutiert werden konnten. Dies sei auch hilfreich, um möglichen Teamkonflikten vorzubeugen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer fanden es wichtig, dass die Besprechung sehr zeitnah einberufen werden konnte, da sich die Situation der Patientin schnell verschlechterte und eine rasche Entscheidung notwendig war.
Weiterer Verlauf
Die Patientin wurde nochmals im Beisein der Mutter über die palliative Sedierung aufgeklärt und willigte in die Therapie ein. Vor Beginn der Sedierung wünschte die Patientin, sich von ihrer Familie und den Großeltern zu verabschieden. Unter vorsichtiger Titration von Midazolam wurde dann die Sedierung eingeleitet. Die Patientin verstarb 36 Stunden nach Beginn der palliativen Sedierung in Anwesenheit ihrer Familie.
Literaturhinweise
Die Literatur kann angefordert werden unter presse@aekno.de.
Dr. Stefan Meier ist Oberarzt der Klinik für Anästhesiologie am Universitätsklinikum Düsseldorf und Mitglied des Klinischen Ethikkomitees des Universitätsklinikums Düsseldorf. Er ist weiter Mitglied der Sektion Ethik der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin und des Gründungsausschusses für das Komitee für medizinethische Beratung der Ärztekammer Nordrhein.
Dr. Laura Trocanist Ärztin im Kinderpalliativteam Sternenboot (SAPV) der Universitätsklinik Düsseldorf.
Dr. Gisela Janßenist Leiterin des Kinderpalliativteams Sternenboot (SAPV) der Universitätsklinik Düsseldorf. Sie ist Mitglied im Klinischen Ethikkomitee der Universitätsklinik Düsseldorf.
Dr. Thorsten Trappist Arbeitsgruppenleiter am Institut für Transplantationsdiagnostik und Zelltherapeutika der Universitätsklink Düsseldorf, stellvertretender Vorsitzender des Klinischen Ethikkomitees der Universitätsklinik Düsseldorf und Mitglied der Ethikkommission der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.