Der 124. Deutsche Ärztetag hat am 5. Mai entschieden, das Verbot des ärztlich assistierten Suizids aus der (Muster-)Berufsordnung zu streichen. Hintergrund ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das im Februar 2020 das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB), zum Beispiel durch Sterbehilfevereine, für verfassungswidrig erklärt hatte. Ende April hatte sich bereits der Rheinische Ärztetag mit den Folgen des Urteils für den Umgang von Ärztinnen und Ärzten mit Suizidwilligen beschäftigt.
von Heike Korzilius
Es war eine Debatte, die den Kern des ärztlichen Selbstverständnisses berührte und die nach den Worten des Präsidenten der Bundesärztekammer (BÄK), Dr. Klaus Reinhardt, „differenziert, offen und ehrlich“ geführt wurde. Am 5. Mai beschäftigten sich die Abgeordneten des Deutschen Ärztetages, der pandemiebedingt als Videokonferenz stattfand, mit den Folgen eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Dieses hatte im Februar 2020 das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung, zum Beispiel durch Sterbehilfevereine, gekippt. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließe die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen, urteilten die Karlsruher Richter – und zwar unabhängig von Alter oder Krankheit. Eine Verpflichtung, Suizidhilfe zu leisten, gebe es nicht. Das Gericht räumte dem Gesetzgeber zudem Handlungsspielraum ein, um zu verhindern, dass sich der assistierte Suizid „in der Gesellschaft als normale Form der Lebensbeendigung durchsetzt“ oder sozialer Druck auf Menschen in besonders schwierigen Lebenslagen entsteht, sich zum Beispiel aus Nützlichkeitserwägungen das Leben zu nehmen. Über mögliche gesetzliche Neuregelungen hatte der Deutsche Bundestag am 21. April eine erste Orientierungsdebatte geführt.
Der 124. Deutsche Ärztetag nahm sich für seine eigene Debatte über das vielschichtige Thema einen Nachmittag lang Zeit. Am Ende stimmten 200 Abgeordnete dafür, das Verbot des ärztlich assistierten Suizids aus der (Muster-)Berufsordnung (MBO-Ä) zu streichen, acht stimmten dagegen, acht enthielten sich. Es entspreche ganz überwiegender Auffassung, dass das in § 16, Satz 3 der M-BO verankerte Verbot der Hilfe zur Selbsttötung aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht aufrechterhalten werden könne, heißt es in der Begründung des Ärztetagsbeschlusses.
Ärzte sind dem Leben verpflichtet
„Wir können nicht regeln, was das Bundesverfassungsgericht dem Staat untersagt“, fasste BÄK-Präsident Reinhardt die Auffassung der Mehrheit der Abgeordneten zusammen. Gleichzeitig betonte er: „Die Patienten müssen sich darauf verlassen können, dass wir dem Leben verpflichtet sind.“ Die M-BO formuliere klar, dass es Aufgabe der Ärztinnen und Ärzte sei, das Leben zu erhalten, die Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen, Leiden zu lindern und Sterbenden Beistand zu leisten. „Als sehr deutliches Signal“ wertete Reinhardt in diesem Zusammenhang die Annahme eines Antrags, der eine Verpflichtung von Ärztinnen und Ärzten zur Mitwirkung beim assistierten Suizid ablehnt und die Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung der BÄK bestätigt. „Diese stellen eindeutig klar, dass die Mitwirkung von Ärztinnen und Ärzten bei der Selbsttötung keine ärztliche Aufgabe ist“, heißt es dort. Es ist jetzt Sache der Ärztekammern in den Ländern, die Änderung der M-BO in geltendes Berufsrecht umzusetzen. Die Ärztekammer Nordrhein hatte das Verbot des assistierten Suizids im Gegensatz zu anderen Kammern wortgleich in ihre Berufsordnung aufgenommen.
Mit der Änderung der MBO-Ä hat der Deutsche Ärztetag aber noch keine Entscheidung darüber getroffen, wie die Ärztinnen und Ärzte ihre künftige Rolle im Umgang mit der Suizidhilfe definieren wollen. Das betrifft auch die Suizidassistenz für lebensmüde Menschen, die nicht an einer schweren, zum Tode führenden Krankheit leiden. In der Debatte auf dem Deutschen Ärztetag gingen die Auffassungen dazu zum Teil deutlich auseinander. So bezeichnete Dr. Susanne Johna, Hessen, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts als „Paukenschlag“, das klargestellt habe, dass „jeder Mann und jede Frau in jeder Lebensphase das Recht hat, das eigene Leben zu beenden“. Überspitzt formuliert sei Pflegebedürftigkeit damit kein Schicksal mehr, sondern die eigene Wahl womöglich zulasten Dritter. Das erfordere eine gesamtgesellschaftliche Diskussion, erklärte Johna, die auch dem BÄK-Vorstand angehört. Ihr sei es wichtig herauszustellen, dass der assistierte Suizid keine ärztliche Aufgabe sei.
Suizid muss die Ausnahme bleiben
Das andere Ende des Meinungsspektrums vertrat Johannes Neimann, Niedersachsen. Zwar betonte auch der Gynäkologe, dass Suizid die absolute Ausnahme bleiben müsse. Präventive Angebote seien deshalb wichtig und richtig. Er habe aber Probleme mit der Aussage, die Ärzte seien zwar Gesprächspartner, aber keine Begleiter, wenn Menschen sich nach reiflicher Überlegung selbstbestimmt für den Suizid entschieden. Wer, wenn nicht der Arzt, könne hier vermitteln, andere Wege aufzeigen oder als gewohnt verlässlicher Partner Hilfe leisten? Es dürfe nicht sein, dass Ärzte, die dem Wunsch Sterbewilliger nach Hilfe nachkämen, zum Bittsteller bei der Ärztekammer oder zu Beschuldigten in einem Strafverfahren würden. „Ich werbe dafür, dass nach Beendigung des Gesetzgebungsverfahrens klare und transparente Regelungen gefunden werden, inklusive Regelungen zur Qualitätssicherung und Abrechnung, ohne Beschränkung auf Erkrankte“, sagte Neimann.
Präventionsangebote ausbauen
Die Debatte über die Rolle der Ärzte in der Suizidbeihilfe habe gerade erst begonnen, erklärte BÄK-Präsident Reinhardt. Spätestens beim Deutschen Ärztetag im nächsten Jahr werde man das Thema wieder auf die Tagesordnung setzen. Darüber hinaus gelte es, die Suizidprävention auszubauen und die Suizidforschung voranzutreiben. Einem entsprechenden Antrag stimmten die Delegierten mit großer Mehrheit zu. Sämtliche Beschlüsse des 124. Deutschen Ärztetages sind abrufbar unter https://www.bundesaerztekammer.de/aerztetag/124-deutscher-aerztetag-2021-als-online-veranstaltung/beschlussprotokoll/.
Mit einer Entscheidung des Deutschen Bundestages zum Umgang mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist in den wenigen verbleibenden Sitzungswochen bis zur Bundestagswahl im September nicht mehr zu rechnen. Diese Einschätzung hatte der Präsident der Ärztekammer Nordrhein, Rudolf Henke, beim Rheinischen Ärztetag geäußert, der im Vorfeld des Deutschen Ärztetages am 29. April ebenfalls online stattfand. „Deswegen haben wir aus meiner Sicht alle Zeit der Welt, darüber nachzudenken, ob und wenn ja welche Rolle Ärztinnen und Ärzte beim assistierten Suizid spielen wollen und ob wir unsere Berufsordnung ändern müssen“, hatte Henke dort gesagt – eine Position, die er auch beim Deutschen Ärztetag vertrat.
Suizidwünsche sind volatil
Henke erinnerte beim Rheinischen Ärztetag daran, dass sich die deutsche Ärzteschaft 2015 geschlossen hinter das vom Bundestag eingeführte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung gestellt hatte. Für die Ärztinnen und Ärzte gelte es jetzt, grundsätzlich ihre Rolle zu definieren auch mit Blick auf die Suizidprävention, die verhindere, dass Suizidwillige künftig mit staatlicher Hilfe zum Erfolg geleitet würden. Denn noch sei es so, dass 90 Prozent der Menschen, die vergeblich versucht hätten, sich das Leben zu nehmen, keinen zweiten Versuch unternähmen.
Einer kritischen Würdigung unterzog beim Rheinischen Ärztetag Prof. Dr. iur. Wolfram Höfling, ehemaliger Direktor des Instituts für Staatsrecht der Universität zu Köln und ehemaliges Mitglied des Deutschen Ethikrates, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Er war einer von drei Referenten, die aus rechtlicher, ethischer und medizinisch-psychologischer Sicht Impulse für die Debatte liefern sollten. Die Grundsatzentscheidung des Gerichts habe der Debatte um Sterbehilfe eine neue Dynamik verliehen, sagte der Jurist. Denn nunmehr werde auch bereits verstärkt darüber diskutiert, ob § 216 StGB (Tötung auf Verlangen) verfassungsrechtlich noch zu halten sei. Dem Gesetzgeber riet Höfling, „auf jede Art von Reparaturgesetz“ zu verzichten. Das Urteil habe dafür gesorgt, dass Suizidwillige ihr Grundrecht auf einen selbstbestimmten Tod verwirklichen könnten, indem sie auf freiwillige Unterstützungsangebote zurückgreifen. Ein striktes Verbot des ärztlich assistierten Suizids in der ärztlichen Berufsordnung hielt Höfling für verfassungsrechtlich zweifelhaft.
Es gebe in einer pluralistischen Gesellschaft keine Pflicht zum Leben, und deshalb dürfe man einen Suizid, der aus freiem Willen ausgeübt werden solle, nicht durch Zwang verhindern, erklärte Prof. Dr. iur. Helmut Frister, Direktor des Instituts für Rechtsfragen in der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Mitglied des Deutschen Ethikrates. Auch gebe es in einer pluralistischen Gesellschaft weder ein Gebot noch ein Verbot, beim Suizid zu assistieren. Frister zufolge gibt es gleichwohl eine individuelle, gesellschaftliche und staatliche Verantwortung, Suizidgründe zu vermeiden oder zu beseitigen. Dazu gehöre beispielsweise die flächendeckende Verfügbarkeit einer psychologischen und psychiatrischen sowie einer Palliativversorgung.
Prof. Dr. Barbara Schneider, Chefärztin der Abteilung Abhängigkeitserkrankungen an der LVR-Klinik in Köln und Vorsitzende des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland, wies auf die Schwierigkeit hin, die Beständigkeit und die Selbstbestimmtheit von Suizidwünschen einzuschätzen. Es sei ein grundlegendes Merkmal von Suizidalität, dass die Betroffenen hin und her gerissen seien zwischen dem Wunsch zu leben oder zu sterben. Zahlen aus Ländern, in denen der assistierte Suizid und/oder die Tötung auf Verlangen erlaubt seien, belegten, dass die absoluten Zahlen der Suizide dort anstiegen, gab Schneider zu bedenken. „Das Angebot spricht neue Gruppen an“, erklärte die Psychiaterin. Für Deutschland bedeute dies, dass sich die Zahl der Suizide auf rund 20.000 verdoppeln könne. Schneider kritisierte, dass hierzulande die Möglichkeiten der Suizidprävention bei Weitem noch nicht ausgeschöpft seien.
Mit dem Rheinischen Ärztetag habe man der nordrheinischen Ärzteschaft eine erste Orientierung bieten wollen, um sich der schwierigen Frage des ärztlich assistierten Suizids in einem ersten gemeinsamen Austausch anzunehmen, erklärte Bernd Zimmer, Vizepräsident der Ärztekammer Nordrhein, der den Rheinischen Ärztetag aus dem Haus der Ärzteschaft in Düsseldorf moderierte. Man habe den Ärztinnen und Ärzten die Möglichkeit geben wollen, „einen eigenen Standpunkt formulieren zu können und die eigene Haltung auf den Prüfstand zu stellen“.