Ein Jahr Corona-Pandemie hat Spuren im Gesundheitswesen hinterlassen. Welche Erfahrungen haben Ärztinnen und Ärzte in den Praxen, Krankenhäusern und Reha-Kliniken sowie im Öffentlichen Gesundheitsdienst gemacht? Und welche Lehren müssen daraus gezogen werden? Mit diesen Fragen beschäftigte sich eine Online-Veranstaltung der Ärztekammern Nordrhein und Westfalen-Lippe Mitte April.
von Jocelyne Naujoks
„Wir haben heute Impfungen, Schnelltests und Apps sowie Hygienemaßnahmen und Kontaktbeschränkungen – und trotzdem: Wir müssen auch weiterhin Einschränkungen akzeptieren, vor allem angesichts der britischen Mutante, um mit der Impfwelle vor die Infektionswelle zu kommen.“ Mit diesen Worten begrüßte der Präsident der Ärztekammer Nordrhein, Rudolf Henke, Mitte April die knapp 1.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der gemeinsam von den Ärztekammern Nordrhein und Westfalen-Lippe organisierten Online-Veranstaltung zum Thema „Ein Jahr Corona-Pandemie: Erfahrungen, Standpunkte und Perspektiven“. Mit dem Fortschritt der Impfungen sehe man nun langsam „Licht am Ende des Tunnels“, sagte Henke. Es brauche zudem dringend wirksame Medikamente, um die Erkrankung zu beherrschen, wenn sie ausbricht, fügte Dr. Hans-Albert Gehle, Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, hinzu. „Auch hier fehlte es in den vergangenen Jahren an Forschung“, beklagte Gehle.
„Wir brauchen Übung“
„Wir brauchen Pandemiepläne, die regelmäßig revidiert werden. Und wir brauchen Übung, damit wir diese Pläne auch in die Tat umsetzen können. Und die entsprechenden finanziellen Mittel.“ Dieses Resümee zog Bernd Zimmer, Vizepräsident der Ärztekammer Nordrhein, nach einem Jahr Corona-Pandemie. Mit den Impfungen seien die Todesfälle in den Heimen dramatisch zurückgegangen, so der Allgemeinmediziner und Geriater. Momentan mache den Praxen vor allem der hohe bürokratische Aufwand für die Corona-Impfungen zu schaffen. „Wir brauchen länger für das Organisieren einer Impfperson als für die Impfung inklusive Aufklärung“, beklagte Zimmer. Dieser Bürokratismus sei für ihn in der derzeitigen Impfsituation nicht nachvollziehbar.
Als besonders hilfreich habe er die enge Zusammenarbeit mit den Klinikchefs empfunden, sagte Zimmer. Nur so sei es möglich gewesen, viele, auch schwerer Erkrankte ambulant zu versorgen. „Wir konnten immer auf abgestimmte Übernahme vertrauen, rein wie raus.“
Personal spielte Schlüsselrolle
Der regelmäßige Austausch zwischen Vertretern der niedergelassenen Ärzte, den Krankenhäusern und dem Gesundheitsamt sei ein Schlüsselelement in der Bewältigung der Pandemie gewesen, bestätigte Dr. Christoph Haurand, Chefarzt der Klinik für Kardiologie und Intensivmedizin und Ärztlicher Direktor am Bergmannsheil und Kinderklinik Buer in Gelsenkirchen. „Hieran müssen wir festhalten“, so Haurand.
Die Schlüsselrolle in der Pandemie spielte nach Ansicht des Kardiologen das Personal. In der ersten Corona-Welle fehlten vor allem Pflegerinnen und Pfleger auf den COVID-19-Intensivstationen. Damals habe man für 1,5 Patienten eine Pflegekraft gebraucht, da die Erfahrung im Umgang mit COVID-19-Patienten fehlte, so der Leiter des Corona-Krisenstabes der Klinik.
Im Hinblick auf die Krankenhausplanung in NRW hält Haurand den Aufbau von Infektionsabteilungen oder -kliniken für einen Weg, um künftig auf ähnliche Situationen besser reagieren zu können. „Die Behandlung von infektiologischen Erkrankungen muss in ein dynamisches Konzept der Katastrophen- und Pandemiemedizin eingehen.“ Schon die Lehren aus der ersten Welle seien nicht auf die zweite übertragbar gewesen.
Der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) müsse vom lokalen politischen Diskurs entkoppelt werden, forderte Anne Bunte, Leiterin des Gesundheitsamts Kreis Gütersloh. Das föderale System des ÖGD müsse zugunsten einer einheitlichen Vorgehensweise eingeschränkt werden, so die Fachärztin für Öffentliches Gesundheitswesen. „Wir brauchen eine institutionell verankerte Zusammenarbeit zwischen Ärztekammern, Kassenärztlichen Vereinigungen und dem ÖGD auf Landesebene.“
„Das Gesetz für den ÖGD im Jahr 2000 ging davon aus, dass wir Pandemien und Infektionskrankheiten im Griff haben“, sagte Bunte. Das zeige sich auch in der Personalausstattung der Gesundheitsämter. „Wir sind mit 7,5 Stellen in die Pandemie gestartet. Im vergangenen Jahr haben wir hunderte Menschen immer wieder neu eingearbeitet, teilweise 30 bis 40 auf einmal.“ Mit dem Pakt für den ÖGD, der im September 2020 beschlossen wurde, versuche der Bund nun, mithilfe der Digitalisierung die Personalprobleme des ÖGD zu lösen. Grundsätzlich sei die Digitalisierung der Gesundheitsämter gut, meinte Bunte. Doch neben Fragen zum Datenschutz zeigten die Programme einige Schwächen: „Manche Software ist nicht ausgereift und wird parallel zur Pandemie weiterentwickelt. Daher erschwert sie die Arbeit aktuell mehr als dass sie uns hilft.“
Mehr Forschung zu Long-COVID
Auch wenn der Pakt Geld für neue Stellen zur Verfügung stelle, sei es nicht einfach, ärztliche Kolleginnen und Kollegen für den ÖGD zu gewinnen. „Wir müssen endlich über die Attraktivität des ÖGD und die schlechte Tarifierung sprechen“, sagte Bunte. Dr. Ute Teichert, Direktorin der Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen in Düsseldorf, fügte hinzu: „Aus dem Pakt für den ÖGD ist bisher in der Fläche noch sehr wenig angekommen.“ Die amtsärztliche Perspektive müsse zudem besser in politische Entscheidungen einbezogen werden, forderte Teichert. Der von der Bundesärztekammer initiierte Pandemierat könne eine solche Funktion übernehmen.
Der Ärztliche Direktor und Chefarzt der Fachklinik für Neurologie an der Mediclin Fachklinik Rhein/Ruhr, Professor Dr. Mario Siebler, forderte den Aufbau einer interdisziplinären Post-COVID-Rehabilitation und entsprechende Reha-Forschung auf diesem Gebiet. Patientinnen und Patienten mit Long-COVID-Symptomen wie Fatigue, Kopfschmerzen oder Aufmerksamkeitsdefiziten fühlten sich häufig nicht ernst genommen. Siebler riet zudem, Rehakliniken frühzeitig in die Pandemiepläne einzubinden.