Zwölf von 100 Menschen leiden im Laufe ihres Lebens an einer somatoformen Störung, die zusammen mit Depressionen und Angststörungen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen in Deutschland gehört. Ein wesentliches Merkmal sind unklare körperliche Beschwerden, die zu wiederholten Arztbesuchen führen. Für viele Symptome wie Schmerzen oder vegetative Störungen bis hin zu Lähmungen finden sich auch nach eingehender Diagnostik keine hinreichend erklärenden körperlichen Befunde.
von Ulrike Schaeben
Der 2. Aachener Psychosomatik-Tag fand im März 2021 pandemiebedingt als Online-Symposium statt und richtete den Blick auf das komplexe Krankheitsbild der somatoformen Störungen beziehungsweise der funktionellen Körperbeschwerden – die aktuelle S3-Leitlinie verwendet diesen Begriff, um ein besonders breites Spektrum von Beschwerden und Schweregraden zu beschreiben.
Dr. Ivo Grebe, Vorsitzender der Kreisstelle Stadtkreis Aachen, begrüßte vier namhafte Referenten aus Wissenschaft und Praxis sowie gut 250 Teilnehmer. Das Programm wurde von der „Initiative Aachener Psychosomatik-Tage“, einem Zusammenschluss Aachener Psychiater und Psychotherapeuten, mit dem Ziel der Förderung des interdisziplinären Austausches unter der fachlichen Leitung von Dr. med. Wolfgang Hagemann und Priv.-Doz. Dr. Dr. Guido Flatten erarbeitet.
Professor Dr. Peter Henningsen, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Klinikum rechts der Isar in München, wies zu Beginn eindrücklich auf die durch funktionelle Körperbeschwerden verursachte Krankheitslast hin. Ungefähr ein Viertel der Patientinnen und Patienten in der hausärztlichen Praxis falle in diesen Bereich. Bei mehr als der Hälfte bildeten sich die Beschwerden innerhalb von Tagen bis Wochen zurück, aber bestimmte Beschwerden chronifizierten besonders oft. Mit fünf bis sechs Jahren dauere es im Schnitt immer noch sehr lange, bis Patienten mit funktionellen Körperbeschwerden aus einer primär somatischen Diagnostik eine Überweisung zu einer Psychotherapie erhielten, führte Henningsen aus.
Den meisten Patienten gehe es bei ihrem Bestehen auf weiterer Diagnostik auch immer um Legitimität: Eine somatische Ursache diene ihnen als legitime Begründung für die Einschränkungen zum Beispiel in der Arbeitsfähigkeit. Auf ärztlicher Seite verhindere häufig die Angst, einen „Kolibri“ zu übersehen oder einen potenziell gefährlichen Verlauf nicht rechtzeitig abzuwenden, die Überleitung in den psychiatrischen oder psychotherapeutischen Bereich.
Chance für die Therapie
Henningsen warf auch einen Blick auf die neue Kategorie „Somatische Belastungsstörung“, die voraussichtlich bald in die deutsche Version der ICD-11 Einzug halten wird. Zukünftig setze die Diagnose nicht mehr voraus, dass die Körperbeschwerden organisch nicht ausreichend erklärt werden könnten. Henningsen sieht darin deutliche Chancen für die Therapie. Die Positiv-Definition psycho-behavioraler Kriterien fördere den frühzeitigen Blick auf das Erleben der Patienten, auch auf therapiebedürftige Aspekte wie die Angst vor organischen Erkrankungen.
Olaf Reddemann aus Köln beleuchtete in seinem Vortrag funktionelle Körperbeschwerden aus der Perspektive des Hausarztes und zeigte Lösungsansätze für die Implementierung der von seinem Vorredner präsentierten S3-Leitlinie in der Praxis auf. Der Allgemeinmediziner illustrierte seine Ausführungen mit Fallbeispielen, die in der Primärversorgung häufig begegnen.
Seine Empfehlung lautet, stärker auf die Beziehung als auf Krankheitsbilder zu fokussieren, Intersubjektivität und Resonanz zu verstehen und ein Konzept zu finden, wie man sich für Patientinnen und Patienten ausreichend Zeit nehmen kann. Nicht alles, was der Patient präsentiere, müsse sofort gelöst werden. Als Haltung solle eingeübt werden, Gefährliches abzuwenden und Komplexes in einen Prozess longitudinal einzubetten. Es sei wichtig, sich von Anfang an für die komplexe biopsychosoziale Wirklichkeit des Patienten zu interessieren, aber es reiche, diese Themen zu streifen, machte Reddemann deutlich. Der Beitrag des Hausarztes in der psychosomatischen Grundversorgung entspringt für ihn hauptsächlich aus der erlebten Anamnese und den sich daraus ergebenden ressourcenorientierten und beziehungsfokussierten Interventionen.
Abgerundet wurde die Veranstaltung durch einen Impulsvortrag von Martin Hirsch, Professor für Künstliche Intelligenz (KI) in der Medizin an der Philipps-Universität Marburg, zu den Chancen von KI in der Psychosomatischen Medizin, und einen Vortrag des Psychotherapeuten Konrad Heiland zu den Wirkmöglichkeiten von Musik in der Psychotherapie. In eindrucksvoller Weise präsentierte Heiland musiktherapeutische Ansätze im Kontext einer psychosomatischen Medizin und schaffte es, diese Phänomene nicht zuletzt anhand musikalischer und literarischer Beispiele auch atmosphärisch zu erfassen. Die Vorträge des 2. Aachener Psychosomatik-Tages sind unter www.aekno.de abrufbar.
Dr. phil. Ulrike Schaeben ist Referentin für die Koordination der Kreisstellen der Ärztekammer Nordrhein.