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Interview

Angst und Einsamkeit haben deutlich zugenommen

21.05.2021 Seite 25
RAE Ausgabe 6/2021

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 6/2021

Seite 25

Internist Dr. Ivo Grebe praktiziert seit über 30 Jahren in Aachen. Dort ist er auch Vorsitzender der Kreisstelle der Ärztekammer Nordrhein. © privat
Die Corona-Pandemie hat bislang in Deutschland mehr als 80.000 Todesopfer gefordert. Doch auch die indirekten Folgen wiegen schwer. Soziale Distanzierung und der Stillstand des gesellschaftlichen Lebens hinterlassen ihre Spuren in der Psyche der Menschen. Hausarzt Dr. Ivo Grebe spricht über Existenzängste und Einsamkeit von Patienten, die Auswirkungen der Pandemie auf den eigenen Arbeitsalltag und seine Zuversicht, sich im Spätsommer wieder frei bewegen zu können. 

RÄ: Herr Dr. Grebe, Sie sind seit mehr als 30 Jahren als Hausarzt tätig, zunächst in eigener Praxis und seit 2019 im MVZ Aachen-Zentrum. Wie hat die Pandemie Ihre Arbeit verändert?
Grebe: Am Anfang haben wir viel improvisieren und viele logistische und organisatorische Herausforderungen überwinden müssen, angefangen beim Infektionsschutz und dem Aufbau von Barrieren und Schutzscheiben an der Anmeldung bis hin zur Patientensteuerung, damit nicht alle gleichzeitig vor dem Tresen stehen. Das hat viel Kraft gekostet, wobei insbesondere unsere Medizinischen Fachangestellten Enormes geleistet haben und immer noch leisten.
 
In den ersten Monaten der Pandemie haben wir uns auch wirtschaftlich Sorgen gemacht. Denn wir hatten einen deutlichen Rückgang der Konsultationen zu verzeichnen. Das gab es zuvor noch nie. Es verging einige Zeit, bis klar war, dass für die Praxen Ausgleichzahlungen geleistet werden. Inzwischen trauen sich die Patientinnen und Patienten wieder zum Arzt. 

RÄ: Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen arbeiten in der Pandemie an vorderster Front. Gab es in Ihrem Praxisteam Infektionen mit SARS-CoV-2?
Grebe: Gott sei Dank hat sich bislang niemand infiziert. Wir haben von Anfang an großen Wert darauf gelegt, Schutzmaßnahmen konsequent umzusetzen, Abstände einzuhalten und Mundschutz einzufordern. Beruhigend ist, dass wir inzwischen alle geimpft sind. 

RÄ: Wie gehen Ihre Patienten mit der Angst vor dem Virus und den Corona-Beschränkungen um? Was belastet die Menschen am meisten?
Grebe: Unsere Praxis liegt mitten in der Stadt. Unsere Patienten entstammen überwiegend der Mittelschicht, über die Hälfte ist älter als 65 Jahre, viele sind Geschäftsleute, die um die Ecke ihren Laden, ihr Restaurant oder ihre Kneipe betreiben. Bei denen spüren wir deutlich die existenzielle Besorgnis. Wir haben als Praxisteam selbst einen Gastronomen in der Nachbarschaft mit einer Spende unterstützt, damit seine Eckkneipe überlebt. Die ist ein zentraler Treffpunkt für die Menschen hier vor Ort.

Mit Blick auf die Corona-Maßnahmen erleben wir in der Praxis das ganze Spektrum, von Verständnis bis Ablehnung. Viele Menschen reagieren vernünftig und abwägend. Aber ich hatte auch schon Corona-Leugner vor mir sitzen, die glaubten, dass Bill Gates die Weltherrschaft übernehmen will. 

RÄ: Sind viele Ihrer Patienten an COVID-19 erkrankt?
Grebe: Wir hatten einige Patienten, die zu Beginn der Pandemie erkrankt und verstorben sind. Das waren ausnahmslos ältere Patienten mit multiplen Vorerkrankungen. Wir haben eine Reihe von Patienten, die relativ symptomarm erkrankt sind und keine wesentlichen Komplikationen davongetragen haben. Bei einem Patienten wissen wir noch nicht genau, ob er an einem Long-COVID-Syndrom leidet. Das ist schwer einzuordnen. Dazu kommt, dass von unseren nachweislich positiven Patienten nur eine Hälfte Antikörper aufweist. Es verunsichert mich, dass ich zurzeit noch nichts zu deren Immunität sagen kann. 

RÄ: Haben die psychischen Belastungen Ihrer Patienten im Laufe der Pandemie zugenommen? 
Grebe: Zur Zunahme psychiatrischer Erkrankungen, die man beispielsweise an der Zahl stationärer Einweisungen oder Suizide ablesen kann, kann ich nichts sagen. Dazu müsste man eine Longitudinal-Studie machen. Was wir aber in der Praxis beobachten, ist eine deutliche Zunahme von Befindlichkeitsstörungen. Generalisierte Angststörungen, depressive Verstimmungen, somatoforme Störungen wie Schmerzen oder Schlafstörungen sowie Beziehungskonflikte treten wesentlich häufiger auf.

Das generell dominierende Thema „Angst“ ist überall spürbar. Meine Beobachtung ist, dass viele Menschen im Umgang mit der Pandemie eher übervorsichtig sind. Sie haben diese ganzen Corona-Maßnahmen wie Abstandhalten und Kontaktbeschränkungen quasi schon vorweggenommen und sich eingeigelt. 

RÄ: Sie betreuen ja viele ältere Patienten, die womöglich bereits vor der Pandemie nicht mehr viele Sozialkontakte hatten. Wie geht es denen?
Grebe: Einsamkeit ist für diese Menschen ein Riesenthema. Die Vereinsamung hat deutlich zugenommen. Ich hatte heute eine 80-jährige, alleinstehende Patientin in der Sprechstunde, die ohnehin eine leicht depressive Tendenz hat. Aber sie hat bisher immer versucht, aus ihrem Leben das Beste zu machen. Sie ist kulturell interessiert, war gelegentlich als Stadtführerin tätig und ist gerne gereist. Mit Corona ist das alles weggebrochen. Die Frau fühlt sich furchtbar einsam, ist aus dem Grübeln nicht mehr herausgekommen und hat angefangen, Alkohol zu trinken. Sie ist dann zu Hause gestürzt und war jetzt bei mir, weil sie immer noch extreme Schmerzen hat. Auch das ist eine Folge der Corona-Pandemie. Einsamkeit kann Menschen in tiefe Lebenskrisen stürzen. 

RÄ: Wie können Menschen im Umgang mit der Pandemie ihre Resilienz stärken?
Grebe: Das ist eine gute und zugleich schwierige Frage. Wir müssen versuchen, unseren Patienten ein bisschen Optimismus zurückzugeben, ihren Blick auf das halbvolle, nicht das halbleere Glas lenken. Das ist nicht einfach. Inzwischen können wir auf die Impfung verweisen und damit Hoffnung verbreiten. Wir können ganz praktische Ratschläge geben: Sport treiben, Spaziergänge an der frischen Luft machen, Kontakte nicht einschlafen lassen und sich mit einem Freund oder einer Freundin auch einmal draußen mit dem nötigen Abstand verabreden.

Man muss versuchen, eine schwierige Situation ins Positive zu drehen. Manchmal gelingt das, manchmal verharren die Patienten aber auch in einer Abwehr- oder Verweigerungshaltung.

Ich vermisse ja selbst den persönlichen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen. Präsenz-Fortbildungen, Qualitätszirkel, Kollegenstammtische – diese Orte der Begegnung fallen zurzeit alle weg. 

RÄ: Die Corona-Beschränkungen gelten jetzt seit über einem Jahr. Wie ist Ihre Perspektive?
Grebe: Ich bin grundsätzlich ein Optimist. Ich bin zuversichtlich, dass wir uns Dank der Fortschritte beim Impfen spätestens im August wieder frei bewegen können. Aber wir werden es nicht schaffen, das Virus vollständig zu eliminieren. Wenn jedoch bis zum Sommer 70 Prozent der Bevölkerung geimpft sind und damit eine gewisse Herdenimmunität besteht, kann man die Beschränkungen aufheben. Dann können wir mit dem Restrisiko leben.

Das Interview führte Heike Korzilius.