Spielsucht, Drogenkonsum, Alkoholabhängigkeit: Laut Bundesministerium für Gesundheit und Soziales gibt es in Deutschland aktuell knapp 17 Millionen Menschen, die an einer Suchterkrankung leiden. Unter ihnen sind auch Ärztinnen und Ärzte, denn der Beruf bringt oft eine überdurchschnittliche Arbeitsbelastung und enormen Druck durch große Verantwortung mit sich.
von Vassiliki Latrovali
„Entgegen vieler Behauptungen ist Sucht kein Problem am Rand der Gesellschaft“, sagt Dr. Stefan Spittler, Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. Suchterkrankungen beträfen Angehörige sämtlicher sozialer Schichten. Sie gingen häufig mit dramatischen persönlichen Schicksalen einher und machten Familienangehörige, Lebenspartner, Freunde oder Kolleginnen und Kollegen zu Mitbetroffenen. „Abhängigkeitserkrankungen sind schwere chronische Krankheiten, die zu erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und vorzeitiger Sterblichkeit führen können“, erklärt Spittler.
Für suchtkranke Ärztinnen und Ärzte haben die Ärztekammern in den Ländern in den vergangenen Jahren strukturierte Behandlungs- und Betreuungsprogramme aufgebaut. Damit soll sichergestellt werden, dass Betroffene mit ihrer Erkrankung nicht alleine gelassen werden und die Sicherheit der Patienten gewährleistet ist. Die Ärztekammer Nordrhein bietet das „Interventionsprogramm für abhängigkeitskranke Ärzte“ an. „Es ist darauf ausgerichtet, bei der Überwindung des Suchtproblems zu unterstützen und bietet betroffenen Kolleginnen und Kollegen Hilfe auf streng vertraulicher und kollegialer Basis an“, erläutert Spittler, der als Leiter des nordrheinischen Programms fungiert.
Viele Ärztinnen und Ärzte hätten Angst vor Stigmatisierung. „Wir können deshalb von einer hohen Dunkelziffer ausgehen“, sagt Spittler. Dazu kämen die ohnehin bei Suchterkrankten bestehenden Täuschungs- und Bagatellisierungstendenzen. Das verleite viele suchtkranke Ärztinnen und Ärzte dazu, eine gesteigerte „Vertuschungsstrategie“ anzuwenden, da ihnen bei Bekanntwerden der Suchterkrankung erhebliche negative berufliche Konsequenzen drohten. In den meisten Fällen stellten sich abhängigkeitskranke Ärztinnen und Ärzte nicht einfach so bei einem Therapeuten vor, um sich behandeln zu lassen.
Ein mutiger Schritt
Ziel des Interventionsprogramms sei es, auffällig gewordene oder gemeldete Kolleginnen und Kollegen nicht umgehend mit einer Ruhelegung der Approbation zu bestrafen, sondern zunächst einmal abzuklären, inwieweit der gemeldete Vorfall tatsächlich auf eine Abhängigkeitserkrankung zurückgehe und wenn ja, inwieweit Behandlungsbereitschaft besteht. „Der Schutz von Patientinnen und Patienten und die therapeutische Hilfe für die Betroffenen erhalten somit einen quasi gleichrangigen Charakter. Es zählt das Prinzip: Hilfe statt Strafe,“ sagt Spittler. In einem ersten Gespräch, das meist eine Stunde in Anspruch nimmt, versucht der Neurologe einen Einblick in die Lage der betroffenen Kolleginnen und Kollegen zu erhalten. Dabei basiert das Programm bei der Ärztekammer Nordrhein auf drei Säulen:
- Die Betroffenen müssen sich einer regelmäßigen qualifizierten suchttherapeutischen Behandlung unterziehen.
- Sie müssen ein- bis zweimal die Woche an einer suchtspezifischen ambulanten Gruppensitzung teilnehmen (therapeutisch geleitet oder im Rahmen einer Selbsthilfevereinigung).
- Sie müssen sich regelmäßigen Substanzkontrollen unterziehen, wobei die Abstände der Kontrollen wöchentlich, vierwöchentlich oder dreimonatlich gestaffelt sind. Sie richten sich nach der zu überprüfenden Substanz (bei leichtflüchtigen Substanzen also häufigere Frequenzen) und Untersuchungsmethode (Haarprobe zum Beispiel alle drei Monate).
Die Teilnahme am Interventionsprogramm der Ärztekammer Nordrhein dauert mindestens zwei Jahre. Im Durchschnitt, so Spittler, bleiben die Ärztinnen und Ärzte dreieinhalb bis vier Jahre im Programm. „Viele sind tatsächlich freiwillig länger dabei, als es nötig wäre. Der Großteil der betroffenen Kolleginnen und Kollegen empfindet es als zusätzliche Stütze, als Anker, um auch langfristig abstinent zu bleiben“, sagt der Neurologe.
Anfängliches Misstrauen entwickle sich in der Regel rasch zu einer echten Vertrauensbasis. „Ich werde anfangs oft als verlängerter Arm der Kammer angesehen, der berufsrechtlichen Aufsichtsbehörde, was faktisch nicht stimmt. Es geht uns in erster Linie darum, den Betroffenen dabei zu helfen, weiter ihrer ärztlichen Tätigkeit nachzugehen“, bekräftigt Spittler. Erst bei einem Verstoß gegen die Regeln des Interventionsprogramms geht eine formale Meldung an die Ärztekammer. „Ich habe nicht die Befugnis, über die Einleitung approbationsrechtlicher Maßnahmen oder gar über den Entzug der Approbation zu entscheiden. Nach der Meldung an die Ärztekammer über das Scheitern des Programms, zum Beispiel bei Nichteinhalten der Screening-Abstände, bestimmt allein die Kammer über das weitere Vorgehen.“ (siehe Kasten)
Als Leiter des Interventionsprogramms kontrolliert Spittler die Ergebnisse der regelmäßigen Substanzscreenings. Er tauscht sich mit den externen Behandlern der Betroffenen über deren Compliance und die Fortschritte der Therapie aus und lässt sich regelhaft Nachweise vorlegen über die Teilnahme an den Therapiegruppen. „Prinzipiell unterscheidet sich das nicht wesentlich vom Vorgehen im Rahmen der Medizinisch-Psychologischen Untersuchung zur Wiedererlangung des Führerscheins nach Fahren unter Alkoholeinfluss“, meint Spittler. Gehandelt werde immer auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse. Der Ärztekammer gegenüber ist der Neurologe als Leiter des Interventionsprogramms unabhängig und seine Leistungen sind für die Betroffenen kostenfrei. Für die Kosten des Screeningverfahrens, das bis zu sechs Mal im Jahr unangekündigt durchgeführt werden kann, die ambulante Therapie und eventuelle Gruppensitzungen müssen die Betroffenen selbst aufkommen.
Meldung rettet Leben
Spittler ist es wichtig, eine Meldung Dritter an das Interventionsprogramm nicht als Denunziantentum misszuverstehen, sondern als Hilfe für die Betroffenen, einen therapeutischen Weg einzuschlagen, welcher zu Abstinenz führen und den Erhalt der ärztlichen Berufsausübung sichern kann. „Natürlich haben Vorgesetzte oder Kollegen Skrupel, wenn sie einen Verdachtsfall melden. Sie befürchten, dass sie eine Mitschuld tragen, wenn beispielsweise am Ende eines gescheiterten Therapieversuchs ein Berufsverbot erteilt wird“, erklärt Spittler und rät dazu, sich über diese Bedenken hinwegzusetzen. Denn mit der Meldung könne im besten Fall eine frühzeitige Therapie erfolgen, die auch im Sinne der Patientensicherheit sei.
Ein Fallbeispiel: Eine Apothekerin aus einer nordrheinischen Kleinstadt meldet der Ärztekammer einen Arzt, der bei ihr über einen Zeitraum von drei Monaten wöchentlich ein bis zwei Großpackungen Opioidanalgetika unter Vorlage seines Arztausweises gekauft hatte. Der Arzt habe dabei teils sehr fahrig und unkonzentriert gewirkt. Die Apothekerin vermutet eine Opioidabhängigkeit. Die Ärztekammer leitet diese Information an das Interventionsprogramm weiter und lädt den unter Suchtverdacht stehenden Arzt zu einer Erstvorstellung im Programm ein. Der Kollege reagiert zunächst ablehnend und lässt seinen Anwalt mitteilen, dass man die Offenlegung der Informationen der Apothekerin verlangt. Spittler als Leiter des Programms ruft daraufhin den Anwalt des Arztes an und schildert diesem Sinn und Zweck des Interventionsprogramms sowie die Dringlichkeit einer Behandlung seines Mandanten. Eine Woche später bestätigt der betroffene Arzt den Einladungstermin. „Bei der Erstvorstellung wirkte der Kollege überaus misstrauisch und sehr ablehnend“, erinnert sich Spittler. „Er bezeichnete mich mehrmals als verlängerten Arm der Ärztekammer und gab an, dass er ja höchstens zweimal in der Apotheke gewesen sei.“ Entscheidend sei es bei diesem ersten Zusammentreffen, in aller Ruhe das Programm zu erläutern und Unterstützung anzubieten. Am Ende entscheidet sich der Arzt sowohl für die einzeltherapeutischen Sitzungen als auch für das regelmäßige Screeningverfahren mittels Haarproben. „Im Laufe der nächsten zwei Monate suchte er sich eine Selbsthilfegruppe, kam zweimal in der Woche zur Kontrolle und viermal wöchentlich zu einzeltherapeutischen Sitzungen“, so Spittler. Nach einem nachgewiesenen Rückfall habe sich der Arzt dann für vier Monate in ein Langzeit-Reha-Programm begeben, um anschließend wieder in das Interventionsprogramm der Kammer zurückzukehren. „Nach knapp eineinhalb Jahren äußerte er erstmals, dass er froh sei, aufgefallen zu sein. Dadurch habe er eine reelle Chance bekommen, abstinent zu werden“, sagt der Neurologe. Nach drei Jahren bespricht Spittler das Auslaufen des Programms. Der betroffene Kollege will jedoch freiwillig im Programm bleiben, obwohl ihm bewusst ist, dass bei einem Rückfall automatisch eine Meldung an die Ärztekammer erfolgen wird. Dazu Spittler: „Er sagte mir, in den vergangenen drei Jahren sei das Interventionsprogramm neben vielen anderen Sicherheitsankern eine unverzichtbare Stütze für seine dauerhafte Abstinenz gewesen.“
Abhängigkeitserkrankung und Berufsrecht
Die meisten Meldungen über eine mögliche Abhängigkeitserkrankung eines Kammermitgliedes erfolgen auf Grundlage der Mitteilung in Strafsachen (MiStra) durch die Staatsanwaltschaften. Dort ist in Nr. 26 die Meldepflicht für straffällig gewordene Angehörige von Heilberufen geregelt. Wenn die Staatsanwaltschaft zum Beispiel Anklage erhebt, weil eine Ärztin oder ein Arzt betrunken Auto gefahren ist oder unter Drogeneinfluss eine Straftat begangen hat und es deswegen zu einer Anklage kommt, ergeht automatisch auch eine Meldung an die zuständige Ärztekammer.
Vorgehen der Kammer im Rahmen der Berufsaufsicht
Die Ärztekammer Nordrhein schreibt das Kammermitglied in solchen Fällen an und verweist darauf, dass möglicherweise ein Suchtproblem besteht. Dabei wird auch die Inanspruchnahme des Interventionsprogramms nahegelegt. Alles Weitere regelt das Heilberufsgesetz NRW. Eine der Kernaufgaben der Ärztekammer ist die Durchführung der Berufsaufsicht (§ 6 Abs. 1 Ziff. 6). Sie ist ihren Mitgliedern gegenüber nicht nur zur Fürsorge verpflichtet, sondern muss gegebenenfalls auch Sanktionen verhängen, etwa wenn ein Arzt unter Drogeneinfluss Patienten behandelt. Abgestufte Sanktionsmöglichkeiten reichen von der Rüge über den Verweis, den Entzug des passiven Berufswahlrechts bis hin zu einer Geldbuße. Erst ganz am Ende der Eskalationsskala steht eine vom Berufsgericht ausgesprochene Feststellung der Unwürdigkeit, den Arztberuf weiter auszuüben.
Wenn die Ärztekammer über die Vermutung einer Suchterkrankung informiert wird, prüft sie daher auch, ob berufsrechtliche Ermittlungen einzuleiten sind. Besteht der Verdacht, dass der Arzt gesundheitlich nicht mehr geeignet ist, den Arztberuf auszuüben, ist die Kammer verpflichtet, diesen Verdacht an die Approbationsbehörde zu melden.
Approbationsbehörde
Die Bezirksregierungen Köln und Düsseldorf haben als Approbationsbehörden die Aufgabe, im Spannungsfeld zwischen dem Recht auf Berufsfreiheit einerseits und dem Patientenschutz andererseits zu entscheiden, ob es bei einer Abhängigkeitserkrankung zum Ruhen oder gar zum Entzug der Approbation kommen muss. Die Rechtsprechung hat für die ärztliche Tätigkeit eindeutig geregelt, dass bei der Arbeit die Null-Promille-Grenze gilt. Aber auch wenn die Ärztin oder der Arzt im Beruf unauffällig ist, kann die Approbation bei einer festgestellten Suchterkrankung entzogen werden, da jede Gefahr für das Wohl der Patienten vermieden werden muss.
Bei der Entscheidung der Approbationsbehörde ist allerdings nicht zuletzt das sogenannte „Nachtatverhalten“ entscheidend. Entschließt sich eine Ärztin oder ein Arzt zur Teilnahme am Interventionsprogramm oder einem vergleichbaren Programm und kann so über einen längeren Zeitraum Abstinenz nachweisen, spielt dies bei der Einschätzung der Approbationsbehörde regelmäßig eine große Rolle.
Katharina Eibl, Referentin der Rechtsabteilung der Ärztekammer Nordrhein