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Wissenschaft und Fortbildung – Aus der Arbeit der Gutachterkommission – Folge 126

Fehler und Gefahren bei der Applikation potenziell gewebeschädigender Substanzen

25.06.2021 Seite 26
RAE Ausgabe 7/2021

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 7/2021

Seite 26

Im Rahmen von intravenösen Medikamentengaben können trotz Einhaltung aller Vorsichtsmaßnahmen unterschiedlich ausgeprägte Paravasate auftreten. Diese stellen besonders bei potenziell nekrotisierenden Substanzen eine klinische Notfallsituation dar, da schwerste Gewebeschädigungen eintreten können.

von Wolf-Dieter Schoppe, Norbert Niederle, Peter Lange und Beate Weber

Die intravenöse Gabe potenziell nekrotisierender Medikamente kann Patientinnen und Patienten erheblich gefährden. Deshalb müssen Kliniken und Praxen strukturierte Vorgaben zur Indikation und Anwendung der Substanzen und ihrer Trägerlösungen vorhalten. Ferner sollten schriftliche Verfahrensanweisungen zum Punktionsort, zum Punktionsablauf  inklusive der zu verwendenden Nadeln und Kanülen sowie – abhängig von der Mobilität der Patienten – zur Überwachung während und nach der Applikation eingehalten werden. In einem persönlich geführten Aufklärungsgespräch ist der Patient über die Risiken einschließlich der Art, der Schwere und der Folgen potenzieller Schädigungen zu unterrichten. Eine Dokumentation hierzu ist anzuraten. Vor jedem neuen Behandlungszyklus ist es geboten, den Patienten für die typischen Anzeichen einer Paravasation zu sensibilisieren. Die häufigsten Zeichen sind dabei brennende Schmerzen sowie eine unterschiedlich ausgeprägte Rötung und Schwellung im Bereich des Punktionsortes, wobei diese Veränderungen noch mit erheblicher zeitlicher Verzögerung auftreten können.
 
Neben angemessenen organisatorischen Voraussetzungen (zum Beispiel Vorhandensein eines Notfallsets) müssen alle an der Behandlung beteiligten ärztlichen und nichtärztlichen Mitarbeiter regelmäßig geschult werden. Außerdem müssen klinikintern Gegenmaßnahmen festgelegt werden, die beim Eintritt eines Paravasats zeitnah ergriffen werden. Dazu gehören neben der schriftlichen Aufzeichnung der einzuleitenden Sofortmaßnahmen die Dokumentation ihres Ergebnisses unter Angabe von Ort, Datum und Uhrzeit sowie zeitlich festgelegte Verlaufsbeobachtungen und Nachkontrollen mit Dokumentation der betroffenen Gewebebereiche (Fotodokumentation). Geboten ist darüber hinaus die Hinzuziehung von Konsiliarärzten (Chirurg, plastischer Chirurg) sowie die umfassende Information der nachbehandelnden Ärzte und Pflegekräfte. Schließlich müssen die Patienten – gegebenenfalls unter Einbeziehung ihrer Bezugspersonen – die erforderlichen therapeutischen Hinweise zur Weiterbehandlung und Sicherung des Behandlungserfolges erhalten.

Paravasate


Paravasate entstehen durch Austritt von infundierten Flüssigkeiten aus einer Vene oder einem venösen Zugangssystem (ZVK, Port) in das umgebende Gewebe. 
Ursachen sind:

  • Fehl- oder Mehrfachpunktionen eines Gefäßes oder Ports
  • nicht geeignete Gefäße oder ungeeignete anatomische Regionen (zum Beispiel Ellenbogengelenk)
  • fragile oder vorgeschädigte Gefäße
  • inadäquate Nadeln: Bei peripherem Zugang sollte immer eine Kunststoffnadel verwendet werden. Bei Portpunktionen muss die Nadel ausreichend lang sein (Cave adipöse und mobile Patienten)
  • Zeitdruck
  • Dislokation der primär korrekt gelegten Nadel bei Bewegungen während der Infusion 
  • fehlende Kontrollen während des Infusionsvorgangs insbesondere bei unruhigen Patienten
  • Diskonnektion des Infusionssystems – cave keine Perfusoren (siehe Leitlinien)
  • Vertauschen von Medikamenten beim Wechsel von Infusionen 
  • vermindertes Schmerzempfinden oder eingeschränkte Kommunikationfähigkeit des Erkrankten


Außerdem können lokale Schädigungen der Venenwand durch die infundierte Substanz selbst oder durch hochkonzentrierte Lösungen wie Kaliumchlorid oder Glukose verursacht werden. Weiterhin können Medikamente wie beispielsweise Tris-Puffer, Phenytoin oder Tetracycline zu schweren Schädigungen des umliegenden Gewebes führen.
Paravasate im Rahmen einer zytostatischen Chemotherapie werden in der Literatur mit einer Häufigkeit von 1 – 6,5% angegeben [2, 3, 5] und können substanzspezifisch zu schwerwiegenden Komplikationen führen, besonders bei Austritt nekrotisierender Medikamente [2, 5]. Zu diesen gehören insbesondere: 
Anthrazykline (Doxorubicin, Epirubicin, Idarubicin), Mitoxantron, Vincaalkaloide (Vincristin, Vinblastin, Vinorelbin), Paclitaxel, Oxaliplatin, Cis-Platin, Carmustin, Mitomycin und Amsacrin.

Daten der Gutachterkommission


Die Gutachterkommission hatte bereits in Heft 8/2007 des Rheinischen Ärzteblattes („Paravasate sind immer Notfälle“) über die Fehler und Gefahren bei der intravenösen Anwendung potenziell gewebeschädigender Arzneimittel der Abschlussjahre 2000 bis 2005 berichtet. Die damaligen detaillierten Ausführungen zu den Anforderungen haben noch immer Gültigkeit. In den Folgejahren wurden Behandlungsfehlervorwürfe gegen Ärzte wegen Paravasationen während der Anwendung von Anthrazyklinen bei der Gutachterkommission Nordrhein seltener und zuletzt kaum noch erhoben (Tabelle 1).
Die Feststellung von Behandlungsfehlern bei der Paravasation anderer Substanzen betraf  aktuell zwei Fälle, in denen bei total intravenöser Anästhesie eine Awareness auftrat, als deren Ursache jeweils eine zu spät bemerkte Paravasation an der Punktionsstelle des Venenzugangs festgestellt wurde, die für den Anästhesisten fehlerhaft nicht einsehbar war.
Unter den von der Kommission festgestellten Behandlungsfehlern im Rahmen von Paravasationen fanden sich am häufigsten Fehler bei der Wahl des Zugangs, der Punktion des Gefäßes/des Ports und der Dislokation der Portnadel sowie eine unzureichende Überwachung während des Infusionsvorganges (siehe Tabelle 2). Festgestellt wurden auch Dokumentationsdefizite während des Applikationsvorgangs und der Befunderhebung nach Eintritt der Paravasation.

Fälle mit Zytostatika-Paravasat


In den letzten fünf Abschlussjahren wurden nur sieben Behandlungsfehlervorwürfe zur Paravasation bei der Zytostatikagabe erhoben, die in vier Fällen von der Kommission als begründet erachtet wurden. Bei vier von sieben Patienten erfolgte die Zytostatikagabe über periphere Venen. In einem dieser Fälle wurde bei einem Doxorubicin-Paravasat insgesamt sachgerecht – auch mittels Dexrazoxanverabreichung (Savene®) – vorgegangen. Für die von der Patientin geltend gemachte anhaltende Funktionsstörung des Arms fanden sich keine Anhaltspunkte, sodass auch ein durch die (sachgerechte) Behandlung verursachter Gesundheitsschaden nicht feststellbar war.
 
In drei Fällen trat eine Paravasation im Portbereich auf. Fehlerhaft wurde in einem dieser Fälle ein Anthrazyklin verabreicht, obwohl eine vorherige Blutaspiration aus dem am Vortag gelegten und bisher ungenutzten Port nicht möglich war. Es hätte stattdessen dem Standard entsprochen, vor der Verwendung von potenziell nekrotisierenden Medikamenten eine mögliche Portdislokation durch einen erneuten Aspirationsversuch von Blut oder durch eine Röntgenkontrolle auszuschließen. Die Unterlassung dieser Maßnahmen stellt einen Befunderhebungsfehler dar. Bei disloziertem Port ist dessen weitere Benutzung, insbesondere die Gabe von Anthrazyklinen, als grob fehlerhaft zu bewerten. In diesem Fall zeigte sich auch, dass der Port fehlerhaft und nicht dem Standard entsprechend gelegt worden war.

Über die Ursachen von Paravasationen durch Zytostatika und deren Bewertungen durch die Gutachterkommission geben folgende Fallbeispiele Aufschluss:

Fall 1 


Bei einem knapp 80-jährigen Patienten wurde ein Leiomyosarkom Malignitätsgrad II im linken Bein festgestellt. Vier Monate später wurde wegen des Nachweises von retroperitonealen und pulmonalen Metastasen eine Kombinationstherapie mit dem Anthrazyklin Doxorubicin und dem monoklonalen Antikörper Olaratumab (Lartruvo®) über einen zentralvenösen Port empfohlen, den der Patient aber wegen der damit verbundenen Therapieverzögerung ablehnte. Die stattdessen über eine periphere Vene durchgeführte erste Anthrazyklin- und Antikörpergabe erfolgte komplikationslos. Eine Portanlage wurde nach dem zweiten Therapiekurs geplant. Die zweite Chemotherapie erfolgte deshalb nach Normalisierung der Leukozyten weiterhin über einen peripheren Venenzugang in der linken Ellenbeuge. Der Patient berichtete, dass er während der Anthrazyklininfusion mehrfach eingeschlafen sei. Gegen Ende der nachfolgenden Olaratumabgabe verspürte er ein Brennen im Zugangsbereich. Zu diesem Zeitpunkt war der periphere Zugang nicht mehr durchgängig. Unter Annahme eines Olaratumab-Paravasats wurde nach therapeutischen Hinweisen (früher sogenannte Sicherungsaufklärung) auf die Gabe des Anthrazyklin-Antidots Dexrazoxan (Savene®) oder auf die Gabe von Dimethylsulfoxid (DMSO) explizit verzichtet. In den nachfolgenden Tagen konnte – ausweislich der vorgelegten Foto- und Behandlungsdokumentation –  eine Verschlechterung des Lokalbefundes nicht sicher festgestellt werden. Neun Tage später stellte sich der Patient mit einer schmerzhaften Nekrotisierung in der Ellenbeuge vor. Im Rahmen der Nekroseabtragung wurde auch ein Port für die weitere Tumorbehandlung gelegt.

Gutachterliche Bewertung


Nekrotisierende Substanzen sollten stets – von Ausnahmefällen abgesehen – über zentrale Zugangswege (ZVK, Port) appliziert werden. Im vorliegenden Fall wünschte der Patient explizit einen sofortigen Therapiebeginn, sodass nach Aufklärung über das Nekroserisiko die Applikation über einen peripheren Zugang unter entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen hier nicht als fehlerhaft zu bewerten war. Allerdings hätte es vor dem zweiten Chemotherapiekurs ausreichend Zeit gegeben, ein Portsystem für die weitere Applikation zu legen, was hier behandlungsfehlerhaft nicht erfolgte. Weiterhin konnten die Ärzte nicht sicher ausschließen, dass eine Paravasation durch das zuerst applizierte Doxorubicin eingetreten war, sodass sie behandlungsfehlerhaft weder die Gabe des Anthrazyklin-Antidots Dexrazoxan (Savene®) noch eine topische Applikation von Dimethylsulfoxid (DMSO) zur Eindämmung der Schädigung veranlassten, was sich als Fehleinschätzung herausstellte. Ferner war als Behandlungsfehler zu werten, dass der Patient während der Infusionstherapie nicht ausreichend überwacht wurde. Als durch den Behandlungsfehler verursachte Gesundheitsschäden sind die durch die Paravasation verursachten Schmerzen und die chirurgischen Maßnahmen der Spalthautdeckung des Oberarms zum sekundären Wundverschluss zu werten. 

Fall 2 


Eine Ende 50-jährige Patientin mit Multipler Sklerose wurde seit 2015 alle drei Monate mit Mitoxantron-Infusionen behandelt. Bei der beanstandeten 13. Mitoxantrongabe über einen bei der Aufnahme gelegten, örtlich nicht beschriebenen intravenösen Zugang war nach Aussage der belasteten Ärzte das Pflegepersonal zur Patientin gerufen worden, weil die Infusion „nicht korrekt gelaufen“ sei. Daraufhin sei die Infusion gestoppt und der Venenzugang sofort entfernt worden. Die Fortführung der Mitoxantrongabe sei nachfolgend über einen neuen Zugang problemlos möglich gewesen. Zu keinem Zeitpunkt habe es an der primären Zugangsstelle Auffälligkeiten gegeben oder habe die Patientin über Beschwerden geklagt, auch nicht bei den ambulanten Wiedervorstellungen in der Sprechstunde und bei der neuerlichen Fortführung der Mitoxantrontherapie, sodass der Vorwurf eines nicht erkannten und fehlbehandelten Paravasats nach Auffassung der Ärzte substanzlos ist. Allerdings wird im Entlassbrief nach der letztmaligen Mitoxantrongabe ausgeführt, dass eine Paravasation von Mitoxantron chirurgisch habe versorgt werden müssen. Ein Jahr nach der beanstandeten Mitoxantroninfusion wird in einem Bericht aus der handchirurgischen Abteilung der belasteten Klinik ausgeführt, dass „nach dem Paravasat am rechten Handgelenk“ anhaltende belastungs- und bewegungsabhängige Schmerzen bestünden, die einer konservativen Therapie nicht zugänglich gewesen seien.

Gutachterliche Bewertung


Zweifellos entsprach die Indikation zur Mitoxantrongabe den einschlägigen Leitlinien. Die Verwendung eines zentralen Zugangs wird von Neurologen nicht  zwingend gefordert. Nach dem weiteren klinischen Verlauf und einer MRT-Untersuchung musste bei der Patientin mit ausreichender Sicherheit von einer Paravasation von Mitoxantron ausgegangen werden, da sich hierfür typische Befunde zeigten (Anscheinsbeweis). Eine weitere Beobachtung und Betreuung der Patientin wurde versäumt und sie wurde ohne Hinweis 
auf die Notwendigkeit von Handlungsempfehlungen entlassen (Verletzung der therapeutischen Hinweispflicht). Die spärliche Dokumentation geht dabei zulasten der Ärzte. 

 

So gehen Sie richtig bei der Gabe von nekrotisierenden Medikamenten vor:

  1. Indikation prüfen und mündlich geführtes Aufklärungsgespräch dokumentieren
  2. vor jeder Therapiemaßnahme die Patientinnen und Patienten auf die zu erachtenden Verhaltensmaßnahmen mündlich erneut hinweisen
  3. Prävention von Paravasaten durch:

    -Neuanlage eines peripheren Zugangs, besser: ZVK oder Portsystem
    -keine Mehrfachpunktionen von peripheren Venen oder Portsystemen
    -möglichst Infusionen nekrotisierender Substanzen außerhalb der Regeldienstzeiten bei fehlenden Kontrollmöglichkeiten vermeiden
  4. Blutaspiration oder Blutrücklauf aus dem System prüfen
  5. ungehinderten Einlauf von neutraler Flüssigkeit prüfen
  6. im Zweifelsfall radiologische Dokumentation veranlassen
  7. festgelegte Kontrollintervalle während der Applikation einhalten
  8. Organisationsabläufe in den Verfahrensanweisungen beachten und an den Pflichtschulungen teilnehmen
  9. nur qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Arbeitsbereichen einsetzen

So verhalten Sie sich richtig bei Verdacht auf eine eingetretene Paravasation:

Erstmaßnahmen:

  • Infusion stoppen und aus der Nadel aspirieren
  • Paravasatset nach Verfahrensanweisung/SOP einsetzen
  • Extremität unter Hochlagerung ruhigstellen
  • Schmerztherapie
  • Patienten/Angehörige informieren (therapeutische Aufklärung)


Dokumentation:

  • Datum und Uhrzeit der Paravasation
  • Verabreichte(s) Medikament(e) mit Dosisangabe
  • Position des Zugangs und des Verlaufs an der Punktionsstelle (Fotodokumentation)
  • Nachkontrollen mit Befundbeschreibung

 
Handlungsanweisungen für:

  • Patienten/Angehörige mit Kontrollterminen
  • Weiterbetreuende Ärzte/Pflegekräfte
 

Fall 3 


Einer Anfang 70-jährigen Patientin wurde im Dezember 2017 ein Kolonkarzinom durch lokale R0-Resektion entfernt. Nach Behandlung der postoperativ aufgetretenen Komplikationen (unter anderem Langzeitbeatmung bei Sepsis) konnte erst im Februar 2019 mit einer palliativen onkologischen Therapie bei primär vorhandenen Lebermetastasen mit Bevacicumab (Avastin®), Oxaliplatin und 5-FU+Ca-Folinat begonnen werden. Beim vierten Therapiekurs trat entweder eine primäre Fehlpunktion des seit sieben Wochen in der Vena subclavia liegenden Portsystems auf oder mit höherer Wahrscheinlichkeit eine Dislokation der Portnadel beim Umstecken der Infusionen mit der Folge einer Paravasation von Oxaliplatin. Die bei der Chemotherapieapplikation anwesende Tochter gab an, der Assistenzarzt habe den Port mehrfach punktieren müssen. In der Stellungnahme des Chefarztes wird ausgeführt, dass der Assistenzarzt die Portnadel habe korrigieren müssen. Auf die Prüfung des Rückflusses von Blut sei dann entgegen der Verfahrensordnung/SOP verzichtet worden. Hierzu erfolgte kein Akteneintrag. Berichtet wird ein ungehindertes Einlaufen von physiologischer Kochsalzlösung, der antiemetischen Medikation und von Dexamethason. Nach dem Wechsel auf die Infusion mit Oxaliplatin, den eine zertifizierte Pflegkraft vorgenommen habe, sei es zum Austritt von Oxaliplatin gekommen. Am Folgetag wurde in den Unterlagen eine Rötung beschrieben und ein chirurgisches Konsil angefragt, welches erst zwei Tage später ausgeführt wurde und „reizlose Verhältnisse und eine diskrete Schwellung der Portkammer ohne Notwendigkeit einer chirurgischen Intervention“ beschreibt. Deutlich verzögert kam es zu einer ausgedehnten Thoraxwandnekrose inklusive der Brustdrüse rechts, die mehrfach durch Wunddebridement und eine plastisch-chirurgische Deckung behandelt werden musste. Dies hatte das Aussetzen der onkologischen Therapie über mehrere Monate zur Folge. Nach initialer Rückbildung der Tumormarker und der Lebermetastasen kam es in dieser Zeit zu einer Progredienz der Erkrankung, an der die Patientin im Dezember 2019 verstarb.

Gutachterliche Bewertung


In einem zertifizierten Onkologischen Zentrum wurden –  der für die Beurteilung der Kommission maßgeblichen Behandlungsdokumentation folgend – die vorhandenen Verfahrensanweisungen /SOP nicht ausreichend beachtet. Insbesondere wurde der Kommission eine Dokumentation der Abläufe und gebotenen Kontrollen nach Maßgabe der hauseigenen Vorgaben mit Kontrollvermerken und Handzeichen der ausführenden Fachkraft bis zum Abschluss des Verfahrens nicht vorgelegt. Damit wurde gegen die gesetzliche Verpflichtung verstoßen, die für die Behandlung aus fachlicher Sicht wesentlichen Maßnahmen aufzuzeichnen (vgl. § 630 f Abs. 2 BGB). Aufgrund dieser Dokumentationsmängel ist zu vermuten, dass medizinisch gebotene Maßnahmen nicht oder nur unzureichend ergriffen wurden und die Applikation von Oxaliplatin sowie deren Überwachung auch nach Eintritt der Paravasation nicht standardgerecht erfolgten, sodass von der Verursachung einer schweren, schmerzhaften Thoraxwandnekrose in Verbindung mit dem mehrmonatigen Aussetzen der onkologischen Therapie und deren Folgen auszugehen war. Es fehlen nach Aktenlage ärztliche Anweisungen nach Eintritt der Paravasation. Im Entlassbrief wird die Paravasation nicht erwähnt, sodass damit auch keine klaren Empfehlungen für die weiterbetreuenden Ärzte sowie für die Patientin und deren Angehörige erteilt wurden. 


Professor Dr. med. Wolf-Dieter Schoppe und Professor Dr. med. Nobert Niederle gehörten der Gutachterkommission bis zum Ende der 11. Amtperiode am 30.11.2020 an, Dr. jur. Peter Lange ist stellvertretender Vorsitzender und Dr. med. Beate Weber ist die für die Dokumentation und Auswertung der Begutachtungen zuständige Referentin der Gutachterkommission.


Literatur

1.    Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF): Supportive Therapie bei onkologischen Patientinnen – Langversion 1.1, AWMF Registiernummer 032/0540L (https://Leitlinienprogramm-Onkologie.de) 
2.    Jordan K. (2006) Prävention und Therapie von Paravasaten, In: Schmoll HJ, Höffken K, Possinger K (Hrsg) Kompendium Internistischen Onkologie
3.    Heyn, G. Akuter Notfall in der Onkologie. Pharmazeutische Zeitung: 36 (2017): S. 1–15
4.    R. Mader, Wien: Arbeitsgruppe Paravasate in: Paravasation von Zytostatika (2006) Springer Verlag, in  Mader I, Fürst-Weger, PR, Mader, RM, Nogler-Semenitz, E, Wassertheurer, S. www.dgop.org/download/paravasation_von_zytostatika.pdf
5.    Oechsle K, Bokemeyer C. Zytostatika-Paravasate: Gefürchtet aber vermeidbar. Hamburg Arbeitskreis supportive Maßnahmen in der Onkologie (ASO) innerhalb der DKG und MASCC.