Als 1971 Ärzte und Journalisten in Paris zusammenkamen, um „Ärzte ohne Grenzen“ zu gründen, taten sie das nicht in der Hoffnung, dass daraus einmal eine große und einflussreiche Organisation erwachsen würde. Drängend waren die Probleme der Gegenwart. Zur Gründung hieß es: „Der 22. Dezember 1971 steht deshalb für die Mobilisierung entschlossener Akteure zur Beseitigung der Barrieren und Grenzen zwischen denen, die helfen und Leben retten wollen, und denen, die Hilfe benötigen.“
von Tankred Stöbe
Seit einem halben Jahrhundert versorgt „Ärzte ohne Grenzen“ (Médecins Sans Frontières, MSF) Menschen weltweit in Notsituationen. Über fünf Dekaden hat sich die Welt – und mit ihr MSF – verändert. Die Etappen lesen sich wie eine Abfolge dramatischer Ereignisse der jüngeren Weltgeschichte: Im Jahr 1976 half MSF in thailändischen Flüchtlingslagern, im gleichen Jahr begann im Libanon der erste Einsatz in einem Konfliktgebiet. Bereits 1980 leistete die Organisation heimliche medizinische Hilfe inmitten der afghanischen Berge, und ab 1984 Äthiopien: Protest gegen eine humanitäre Katastrophe, zu der die medizinische Koordinatorin Brigitte Vasset festhielt: „Solange sich nichts ändert, weiß ich nicht, was wir hier machen. Wenn es nichts zu essen gibt, macht medizinische Versorgung keinen Sinn.“
1991 folgte Somalia, 1994 in Ruanda die Ohnmacht gegenüber dem Völkermord: „Wir sagten: Diese Menschen werden vor unseren Augen ermordet. Da galt es, entgegen der humanitären Neutralität einen militärischen Einsatz gegen die Verantwortlichen des Völkermords zu fordern.“ So schilderte MSF-Projektkoordinator Jean-Hervé Bradol die Lage vor Ort. Auch Europa hatte seine Krisen, 1995 beschäftigte uns das Morden in Srebrenica, später auch im Kosovo. Ab 1995 engagierten wir uns weltweit im Kampf für den Zugang zu HIV-Therapien. Nothilfe für sudanesische Vertriebene leisteten wir ab 2003 in Darfur. Bei den nächsten Einsätzen war ich – bis auf Haiti – meistens dabei: Im Jahr 2004 halfen wir nach dem Tsunami in Südostasien, 2010 folgte in Haiti einer der größten und extremsten Nothilfeeinsätze der Organisation. Ab 2011 folgten Einsätze in Syrien, wo wir versteckte Krankenhäuser in Höhlen einrichteten, und dann der Kampf gegen Ebola in Westafrika im Jahr 2014, wo wir mit die ersten waren, die mithalfen. Es folgten 2015 erstmals Seenotrettungsaktionen im Mittelmeer sowie 2017 die medizinische Versorgung nahe der Front im Irak. Im gleichen Jahr kämpften die Rohingya in Bangladesch ums Überleben und seit 2020 hält uns die Covid-19-Pandemie in Atem, die immer noch anhält. So wie viele der genannten Konflikte, die kein Ende finden. Besonders deutlich zeigt sich das in Afghanistan.
Zu den schwierigsten Momenten in der humanitären Hilfe zählen die ethischen Dilemmata, und damit jene Entscheidungen, die nicht richtig oder falsch, sondern grausam oder unerträglich sind. Mit dem Machtwechsel in Afghanistan hat sich die Anzahl und Komplexität solcher Fragen noch einmal erhöht.
Es gibt vier wirklich große Herausforderungen, die uns im Westen des Landes gerade beschäftigen: An den Stadträndern von Herat leben in drei Lagern gut 70.000 binnenvertriebene Afghanen, die aufgrund ihrer prekären Lage besonders anfällig und auf externe Hilfe angewiesen sind. MSF betreibt dort eine Tagesklinik, von der Geburtsvorbereitung bis zur Behandlung chronischer Krankheiten ist dies eine der wichtigsten Anlaufstationen. Jetzt aber stellen sich täglich immer mehr Kranke vor, seit Anfang des Jahres waren es bereits 57.000, ein Anstieg um 50 Prozent. Die Arbeit ist kaum noch zu leisten. Was sollen wir tun? Eine Begrenzung der Behandlungen, um eine qualitativ gute Versorgung zu gewährleisten?
Viele Kinder hungern
Das nächste Problem sind schwer mangelernährte Kinder. Als der 18 Monate alte Sabratoca eingeliefert wird, bringt sein ausgemergelter Körper gerade einmal 3,5 Kilogramm auf die Waage. Er ist abgemagert auf sein Geburtsgewicht. Zehn Tage Durchfall und Erbrechen reichten aus, um ihn in diesen lebensgefährlichen Zustand zu versetzen. Auch Hunger, der als erstes und am schlimmsten immer die Kinder betrifft, ist nicht neu in Afghanistan. Dennoch bedeuten die 1.500 Aufnahmen in diesem Jahr eine Steigerung um 40 Prozent. Die Betten in unserer Spezialklinik haben wir bereits aufgestockt. Sollen wir weitere Kinder abweisen?
Die Kinderabteilung im Distriktkrankenhaus von Herat ist in einem jämmerlichen Zustand. Die hygienischen Bedingungen sind unerträglich, Pflegende und Ärzte sind nicht zu finden. Das wundert kaum, werden sie doch seit Monaten nicht bezahlt. Wie soll hier eine Kinderheilkunde ausgeübt werden, die diesen Namen verdient?
Und schließlich die COVID-Pandemie. Im Distriktkrankenhaus von Herat betreiben wir eine Corona-Ambulanz, in der wir triagieren und testen können. Seit der Eröffnung im April 2020 haben wir 56.000 Verdachtsfälle untersucht und 5.300 schwere Fälle in eines der beiden Spezial-COVID-Center überwiesen. Mit dem Abklingen der dritten Infektionswelle hatten wir entschieden, unsere 75-Betten-COVID-Clinic bis Ende August zu schließen, die verbleibenden schweren Verlaufsfälle sollten in der städtischen Klinik behandelt werden. Diese meldet nun aber, dass sie keine Medikamente, kein medizinisches Material und keinen Sauerstoff mehr hat. Außerdem könne sie keine Gehälter mehr bezahlen. Damit wäre im Westen Afghanistans, wo sich das tödliche Virus am stärksten verbreitet, keine Behandlung mehr möglich. Wir stehen als Organisation vor der Alles-oder-Nichts-Frage: Bleiben wir bei unserer Entscheidung, was aber jetzt ethisch schwierig ist? Oder übernehmen wir die gesamte Behandlung der COVID-Kranken, was wir aber logistisch und finanziell kaum bewältigen können? Zudem widerspricht es unserer Überzeugung, ganze Gesundheitssysteme zu übernehmen. Welche Entscheidung ist richtig?
Ein MSF-Kollege sagt, das afghanische Gesundheitssystem habe sich von katastrophal zu apokalyptisch verschlechtert. Wem das zu pessimistisch klingt, der sollte nicht vergessen, dass die Krankenbehandlung in diesem vom Krieg gezeichneten Land seit Jahrzehnten künstlich am Leben erhalten wird und in hohem Maße von ausländischen Geldgebern abhängt. Laut Weltbank wurden vor der Machtübernahme der Taliban zwei Drittel der Regierungsausgaben durch internationale Partner finanziert.
MSF hat auch nach dem Machtwechsel die operative Präsenz mit 50 internationalen und 2.300 nationalen Kollegen in allen fünf Projektstandorten – Herat, Kandahar, Khost, Kunduz und Lashkar Gah – aufrechterhalten. Wir können weiterhin Patienten aufnehmen und behandeln. Jetzt, da die Sicherheitslage sich verbessert hat, können die Menschen unsere Krankenhäuser leichter erreichen, und wir behandeln ein breiteres Spektrum an Erkrankungen.
Entwicklungsschub? Wohl kaum
Bei einem Treffen mit 30 hochrangigen medizinischen Vertretern in Herat Mitte September, das von zwei Mitgliedern des Islamischen Emirats Afghanistan (IEA, auch bekannt als Taliban) ohne medizinischen Hintergrund geleitet wurde, haben wir unsere Arbeitsweise und unsere Grenzen dargelegt und die IEA hörte aufmerksam zu. Die vielleicht beste Nachricht dieses Treffens ist, dass mit dem Ende der Feindseligkeiten nach Angaben der IEA die finanziellen Mittel, die zuvor für die Kampfhandlungen benötigt wurden, nun für die Gesundheitsversorgung frei gemacht werden können.
Im Westen hört man oft, in den letzten zwei Jahrzehnten habe die internationale Hilfe Afghanistan einen signifikanten Entwicklungsschub beschert, auch bei den Gesundheitsindikatoren. MSF sieht das deutlich kritischer. Tatsächlich gibt es nur wenige Verbesserungen. Die Müttersterblichkeit und die Lebenserwartung zählen dazu. Aber die Säuglingssterblichkeit liegt bei 106 je 1.000 Lebendgeburten, die höchste Zahl weltweit. Im weltweiten Index der menschlichen Entwicklung (HDI) steht Afghanistan auf Platz 169 von 186 Ländern.
Doch wie lösen wir die eingangs beschriebenen medizinisch-humanitären Herausforderungen?
Die Klinik der Binnenvertriebenen halten wir offen und behandeln jetzt täglich 400 Patienten. Ein schmerzhafter Kompromiss, von dem wir hoffen, dass er nicht lange anhalten muss. Auch die mangelernährten Kleinkinder können wir nicht abweisen, die Belegungskapazität übertrifft zeitweise 200 Prozent. Das bedeutet, dass sich mehrere Kinder, die intensiv behandelt werden müssen, ein Bett teilen. Der kleine Sabratoca wird nicht überleben. Doch Dutzende andere können wir retten, bevor sie an Mangelernährung sterben.
Und wie wollen wir auf die nächste Pandemie-Welle reagieren? Statt unsere spezialisierten Einrichtungen zu schließen, lassen wir die Triage-Station offen. Weiterhin sehen wir dort etwa 100 Patienten pro Tag zur Abklärung und nehmen zehn mit schweren Symptomen stationär auf. Unsere COVID-Station bauen wir aus. Statt bisher 75 wollen wir jetzt über 100 Betten bereitstellen. Auch hier gibt es Lichtblicke. Als ich zufällig ein kleines mobiles Impfteam auf dem Klinikgelände treffe, das vergeblich auf Impfwillige wartet, kann ich alle umherstehenden Afghanen für den lebensrettenden Schutz mobilisieren. Nur vier Prozent der Afghanen sind bisher geimpft, vor allem, weil die reichen Länder alle Impfdosen aufgekauft haben.
Für mich endet ein an Paradoxien reicher Einsatz: Während am Ende des Sommers unzählige Afghanen versuchten, aus dem Land zu fliehen, benötigte ich fast drei Wochen für die Einreise. Und jetzt komme ich in weniger als 24 Stunden auf gleichem Weg zurück nach Berlin. Für die Zukunft habe ich noch einen Wunsch, der weit über den Afghanistan-Konflikt hinausgeht: dass wir 2071 nicht den 100. Geburtstag von „Ärzte ohne Grenzen“ feiern müssen, weil die humanitären Nöte weltweit bis dahin überwunden sind.
Dr. Tankred Stöbe ist Internist und Notarzt in Berlin. Von 2007 bis 2015 war er Präsident der deutschen Sektion von „Ärzte ohne Grenzen“. Noch immer absolviert er regelmäßig Hilfseinsätze für die Organisation.