Die Coronapandemie hat zwei grundsätzliche Probleme im Kontext des Themas "Patientenverfügung" in den Fokus gerückt: Zum einen bilden Patientenverfügungen akute Notfallsituationen häufig nicht ab. Zum anderen stellt sich im Falle nicht vorhandener Patientenverfügungen bei schwer vorerkrankten und hochaltrigen Patienten oftmals die Frage, ob eine intensivmedizinische Behandlung von diesen auch wirklich gewünscht ist.
von Stefan Meier und Thomas Otten
Mitte März 2020 stieg die Zahl der täglich in Deutschland registrierten SARS-CoV-2 Neuinfektionen rapide. Angesichts erster Infektionsausbrüche in Pflege- und Senioreneinrichtungen und der besonderen Gefährdung alter und hochaltriger Menschen wurden die Altenheime weitgehend von der Außenwelt abgeschirmt. Gerade bei dieser vulnerablen Personengruppe stellte sich damals häufig die Frage, in welchem Ausmaß im Falle einer schweren COVID-19-Erkrankung therapiert werden sollte. Weil akute Notfallsituationen in Patientenverfügungen bislang in aller Regel nicht berücksichtigt sind, lösten auch gegebenenfalls vorliegende Dokumente dieses Problem nicht. Angesichts der hohen Akuität wurde dann meist eine maximale intensivmedizinische Behandlung eingeleitet, obwohl es häufig Bedenken gab, ob eine solche Therapie von den Betroffenen auch wirklich gewünscht wurde.
Die Grenzen herkömmlicher Patientenverfügungen
Die Corona-Pandemie rückte damit zwei grundsätzliche Probleme in den Fokus: Neben der fehlenden Abbildung von akuten Notfallsituation in den meisten Patientenverfügungen erscheint die Anwendung aller maximal indizierten Möglichkeiten der Medizin bei schwer vorerkrankten und hochaltrigen Patienten mitunter fragwürdig. So zeigte eine unlängst erschienene Analyse von 2.900 Reanimationen in Pflegeeinrichtungen, dass nur circa ein Prozent der über 85-jährigen reanimierten Patienten das Krankenhaus mit einem guten neurologischen Outcome verlassen konnten. [1] Es ist mehr als fraglich, ob die Betroffenen in Anbetracht dieser Prognose tatsächlich alle hätten reanimiert werden wollen. Gerade bei multimorbiden und hochaltrigen Menschen, bei denen mit hoher Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit mit Entscheidungen über lebensverlängernde oder intensivmedizinische Behandlungen zu rechnen ist, stellt sich also die Frage, warum diese Szenarien nicht frühzeitig vorbesprochen und Behandlungswünsche – insbesondere auch für Notfallsituationen – dokumentiert werden.
Genau an diesem Punkt setzt das ursprünglich in den Vereinigten Staaten entwickelte und sich nun auch in Deutschland etablierende Konzept des Advance Care Planning (ACP; Deutsch: Behandlung im Voraus Planen, BVP) an. Es soll ermöglichen, dass Menschen auch in Behandlungssituationen, in denen sie selbst nicht einwilligungsfähig sind, so behandelt werden, wie es ihren Werten, Vorstellungen und Wünschen entspricht. Im Rahmen des Konzepts werden sie dazu ermutigt, sich möglichst frühzeitig mit den mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit einmal auf sie zukommenden medizinischen Entscheidungen zu beschäftigen. Dabei soll die Entscheidungsfindung auf einem informed consent basieren. Dazu bedarf es – analog zur Einwilligung in einer Akutsituation – einer der Entscheidung vorausgehenden Befähigung der vorausplanenden Person (VP). Diese Befähigung ist Gegenstand der ACP Gesprächsbegleitung (Beratung), die durch eigens für diese Aufgabe qualifizierte Gesundheitsfachkräfte, in der Regel Pflegekräfte oder Sozialdienstmitarbeiter, erfolgt.
In einem ersten Schritt geht es in dieser Begleitung um eine ausführliche und sorgfältige Auseinandersetzung der VP mit den eigenen Werten, Präferenzen und Zielen. Gerade bei gebrechlichen und hochaltrigen Menschen ist keineswegs immer klar, dass sie in einer medizinischen Krise in jedem Fall lebensverlängernd behandelt werden möchten. Viele wünschen sich vielmehr, mit angemessener ärztlicher und pflegerischer Begleitung „in Ruhe“ sterben zu können. In der Konsequenz kann eine solche Haltung dann bedeuten, dass diese Menschen zum Beispiel im Falle einer SARS-CoV-2 Infektion nicht mehr stationär oder gar intensivmedizinisch, sondern ausschließlich symptomkontrollierend behandelt werden. Selbstverständlich werden die Konsequenzen dieser Einstellung, also ein mögliches Versterben, in den Begleitgesprächen dann auch ausdrücklich thematisiert. Durch die Einbeziehung relevanter Nahestehender und der benannten Patientenvertreter (Bevollmächtigte, Betreuer) in den Begleitprozess trägt ACP dem relationalen Charakter des Autonomiepostulats Rechnung.
Durch die Verankerung im Hospiz- und Palliativgesetz wird ACP häufig als Teilgebiet der Palliativmedizin verstanden. Vorsorgeplanung ist auch unzweifelhaft ein wichtiger Bestandteil palliativmedizinischer Arbeit, jedoch sieht ACP die Auseinandersetzung mit Fragen möglicher Behandlungsziele nicht auf die Zielgruppe palliativmedizinisch behandelter Menschen begrenzt.
Fallgeschichte im September
Das Rheinische Ärzteblatt wird das Thema Advance Care Planning in der September--Ausgabe erneut aufgreifen. Anhand einer Fallgeschichte wird der Behandlungs-verlauf einer Patientin vom Eintritt einer akuten Notfallsituation an im -Kontext -ihrer ACP-Patientenverfügung dargestellt.
Behandlungswünsche erschließen sich unmittelbar
Erst nachdem die grundlegende Auseinandersetzung der VP mit ihren Werten, Präferenzen und Zielen erfolgt ist, fokussiert der Beratungsprozess auf konkrete Behandlungssituationen. Dabei werden anhand von Beispielen drei Szenarien genau in den Blick genommen:
- die akute Notfallsituation;
- die Einwilligungsfähigkeit unklarer Dauer sowie
- die dauerhafte Einwilligungsunfähigkeit (siehe Kasten „Drei Szenarien im Blick“).
Die Einstellungen der VP zum Leben, zum Sterben, zur medizinischen Behandlung und zu eventuellen Grenzen eines Behandlungswunsches werden in einem vorgegliederten Freitext dokumentiert. Die Dokumentation von konkreten Behandlungswünschen hinsichtlich der drei Szenarien erfolgt auf einheitlichen Formularen. Dabei sind alle Festlegungen so dokumentiert, dass sich Ersthelfern und Ärzten unmittelbar erschließt, wie die Behandlungswünsche der betroffenen Person sind. Abgerundet wird die Verfügung mit der Dokumentation von Wünschen zur Gestaltung und Begleitung in der terminalen Lebensphase.
Die im Kontext professioneller Begleitung entstandenen validen und aussagekräftigen Patientenverfügungen sind allerdings nur ein Teil eines erfolgversprechenden ACP-Konzepts. Damit diese Verfügungen auch tatsächlich umgesetzt werden, müssen geeignete Strukturen geschaffen werden. Konkret bedeutet dies, dass alle zukünftig in die Behandlung der VP involvierten Gesundheitsberufe (Pflegeheimmitarbeiter, niedergelassene Ärzte, Rettungsdienstpersonal, stationär tätige Ärzte und Pflegende) die regional möglichst einheitlichen Dokumentationsbögen nicht nur kennen müssen. Vielmehr muss ihnen – um im Anwendungsfall von der Validität der Patientenverfügung ausgehen zu können – das Konzept und die dahinterstehende patientenzentrierte Sorgfalt der Erarbeitung vertraut sein. Dieser, für eine erfolgreiche Implementierung unverzichtbare Teil eines ACP-Projekts, wird auch als die zweite Säule des ACP bezeichnet.
Drei Szenarien im Blick
Akute Notfallsituation
Kennzeichen: Notwendigkeit des -unmittelbaren Handelns (ohne Zeit-verzug); in der Regel auf Grundlage nur weniger -gesicherter diagnostischer Parameter
Einwilligungsfähigkeit unklarer Dauer
Kennzeichen: Diagnose und Prognose sind im Vergleich zur Notfallsituation -klarer. Der Outcome ist allerdings -abhängig von verschiedenen Variablen und einem noch unbekannten Verlauf.
Dauerhafte Einwilligungsunfähigkeit
Kennzeichen: Irreversibilität der kogni-tiven Einschränkungen. Die verbleibende Lebenszeit ist allerdings abhängig von verschiedenen Variablen und einem noch unbekannten Verlauf.
Versorgungsplanung ist gesetzlich verankert
Unter dem Namen „Gesundheitliche Versorgungsplanung“ hat ACP mit der Verabschiedung des Hospiz- und Palliativgesetzes (HPG) Ende 2015 Einzug in die deutsche Sozialgesetzgebung gefunden (§ 132 g SGB V). Danach können anerkannte Träger von Senioreneinrichtungen und Einrichtungen der Eingliederungshilfe ihren gesetzlich versicherten Bewohnern ein entsprechendes Angebot machen. Die Kosten werden von den Krankenkassen refinanziert. An verschiedenen Standorten in Nordrhein-Westfalen haben sich insbesondere durch Initiative einzelner Träger ACP-Schwerpunktprojekte herausgebildet. So auch in der Region Köln, wo ACP mittlerweile von acht Trägern von Einrichtungen der Alten- oder Eingliederungshilfe implementiert wird. Interesse und Resonanz sind bei Bewohnern, Angehörigen und beteiligten Ärzten gleichermaßen groß und positiv. Dabei wird immer wieder deutlich, dass auch über die vom HPG erfassten Zielgruppen hinaus ein großer Beratungs- und Unterstützungsbedarf besteht. Wünschenswert wäre daher, dass diese Leistung auch weiteren Personengruppen unabhängig von Wohnort oder Versicherungsstatus zugutekommt.
Dr. Stefan Meier ist Oberarzt der Klinik für Anästhesiologie am Universitätsklinikum Düsseldorf und Mitglied des Klinischen Ethikkomitees des Universitätsklinikums Düsseldorf. Er ist weiter Mitglied der Sektion Ethik der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin und des Gründungsausschusses für das Komitee für medizinethische Beratung der Ärztekammer Nordrhein.
Dr. rer. medic. Thomas Otten (Dipl. Theol. Univ.) arbeitet als Krankenhausseelsorger in den Städtischen Kliniken Köln und als Beauftragter für Ethik im Gesundheitswesen im Erzbistum Köln. Er ist Gründungsmitglied der Deutschen interdisziplinären Vereinigung Behandlung im Voraus Planen e. V. (DIV-BVP), Trainer für ACP (DIV-BVP), Trainer für Ethik im Gesundheitswesen (AEM) und Supervisor (DGSv). Er hat über das Thema Advance Care Planning promoviert und in den letzten Jahren ACP-Projekte in der Region Köln mit implementiert.
Links:
https://www.div-bvp.de/
https://www.acp-i.org/
Literatur:
[1] Günther et al.; Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 757-63; DOI: 10.3238/arztebl.2020.0757