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Praxis

Advance Care Planning: Ein Fallbeispiel

25.08.2021 Seite 22
RAE Ausgabe 9/2021

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 9/2021

Seite 22

Das Konzept Advance Care Planning (ACP), zu Deutsch Behandlung im Voraus Planen (BVP), fokussiert auf drei Behandlungsszenarien und der im Beratungsprozess vorausgehenden Erarbeitung und Dokumentation der Werte, Präferenzen und Ziele der vorausplanenden Person. Im konkreten Fallbeispiel kann die bevollmächtigte Tochter aufgrund der zuvor erarbeiteten ACP-Dokumentationsbögen den Willen ihrer nicht mehr einwilligungsfähigen Mutter in der akuten Situation klar nachvollziehen und eine begründete Therapieentscheidung treffen.

von Thomas Otten und Stefan Meier

Die 79-jährige Frau A., Bewohnerin eines Kölner Seniorenheims, wird gegen 19:45 Uhr von ihrer Pflegerin deutlich bewusstseinsgemindert in ihrem Sessel sitzend aufgefunden. Auf Ansprache reagiert sie lediglich mit einem angedeuteten Öffnen der Augen und Lautäußerungen. Die umgehend erhobenen Vitalwerte zeigen eine normfrequente, unbeeinträchtigte Atmung und einen normfrequenten, aber unregelmäßigen Puls bei deutlich hypertonen Blutdruckwerten.

Während die Pflegekraft bei der Bewohnerin bleibt, informiert ein Kollege den Rettungsdienst und holt die Pflegedokumentation samt Vorsorgeinstrumenten der Bewohnerin. Der Notfallbogen Ärztliche Anordnung für den Notfall zeigt, dass Frau A. in einer akuten Notfallsituation eine Wiederbelebung (CPR) ausschließen würde. Ansonsten wünscht sie sich aber, maximal therapiert zu werden (siehe QR-Code „Ärztliche Anordnung für den Notfall“). Die von Frau A. bevollmächtigte Tochter kann bis zum Eintreffen des Notarztes telefonisch nicht erreicht werden.

Die von der Notärztin vorgenommene Untersuchung zeigt neben einer weiterbestehenden Vigilanzstörung und Bluthochdruck eine fehlende Motorik der rechten Körperhälfte. Als wesentliche Vorerkrankungen sind eine chronische Herzinsuffizienz (NYHA III) auf dem Boden einer fortgeschrittenen Koronaren Herzerkrankung mit höhergradig reduzierter linksventrikulärer Pumpfunktionsstörung, ein permanentes Vorhofflimmern und eine arterielle Hypertonie dokumentiert. Klinisch war die Patientin auf Stationsebene mobil und hat sich – mit pflegerischer Hilfe – auch noch selbst versorgt. 

Mit Verdacht auf Apoplex veranlasst die Ärztin die stationäre Einweisung in das nächstgelegene Krankenhaus mit neurologischer Klinik. Die in der Bewohnerakte für diesen Fall vorgehaltene Kopie der BVP-Patientenverfügung (PV) wird ins Krankenhaus mitgegeben. Die in der Klinik umgehend durchgeführte Computertomographie zeigt eine supratentorielle intrazerebrale Blutung links.

Die Tochter der Patientin trifft kurz nach Durchführung des CT in der Klinik ein. Der diensthabende Arzt informiert sie unmittelbar über die Situation. Er erklärt, dass eine operative Ausräumung in Anbetracht der Blutungslokalisation nicht indiziert ist. Frau A. bedürfe jedoch einer intensivmedizinischen Überwachung. Angesichts der sich seit Aufnahme verschlechternden Vigilanz stelle sich zudem die Frage der Intubation.

Einwilligungsunfähigkeit unklarer Dauer

Die Tochter fragt den Arzt nach der sich aus diesem Befund ergebenden Prognose. In diesem Rahmen informiert sie ihn auch über die stattgehabte ausführliche Auseinandersetzung ihrer Mutter mit möglicherweise einmal auf sie zukommenden Behandlungssituationen. In den ACP-Vorausplanungsgesprächen sei das Thema Krankenhausbehandlung bei Einwilligungsunfähigkeit unklarer Dauer unter anderem am Beispiel eines Schlaganfalls ausführlich besprochen worden. Im Rahmen dieses Prozesses sei ihre Mutter sich darüber klar geworden, dass sie eine bleibende schwere Pflegebedürftigkeit für sich nicht wolle. Selbst für den Fall, dass dieser Outcome lediglich mit geringer Eintrittswahrscheinlichkeit absehbar wäre, lehne sie eine lebensverlängernde Therapie ab (siehe QR-Code „Einwilligungsunfähigkeit unklarer Dauer“). Die Vorstellung zu sterben besaß für Frau A. – auch wegen ihres von ihr als erfüllt empfundenen Lebens und ihrer bereits jetzt gegebenen Einschränkungen – keinen Schrecken.
Die Tochter war im Rahmen der ACP-Gesprächsbegleitung in die Auseinandersetzung der Patientin mit diesen Fragen eng eingebunden. In Anbetracht der in diesem Gesprächsprozess deutlich gewordenen Einstellungen der Patientin und der vom Arzt ausgesprochenen Prognose mit einer hohen Wahrscheinlichkeit für bleibende Defizite mit konsekutiver Pflegebedürftigkeit sprach sich die Tochter für ein palliativ ausgerichtetes Therapiekonzept aus. Bei dem für das Behandlungsteam aufgrund der vorliegenden Vorsorgedokumente und der Aussagen der Tochter klar erkennbaren Patientenwillen wurde auf eine weitere intensivmedizinische Therapie verzichtet. Frau A. wurde daraufhin auf die neurologische Normalstation des Hauses verlegt. 

Nachdem die Tochter am nächsten Morgen durch das Pflegeheim die Bestätigung erhielt, dass die weitere Versorgung der Mutter dort in dem ihr vertrauten Zimmer möglich sei, wurde Frau A. noch am gleichen Tag zurück in die Senioreneinrichtung verlegt. Pflege und Behandlung wurden vor Ort durch den Dienst der örtlichen Spezialisierten ambulanten Palliativversorgung unterstützt. Nach einer auch intensiven familiären Begleitung starb Frau A. drei Tage später im Seniorenheim.

Einstellungen zu Leben, schwerer Krankheit und Sterben

Die Entscheidungsklarheit der bevollmächtigten Tochter von Frau A. wirft ein Licht auf den Vorausplanungs- und Dokumentationsabschnitt Einstellungen zu Leben, schwerer Krankheit und Sterben (siehe Abbildung). Es wird deutlich, wie grundlegend wichtig dieser Teil der BVP-Gesprächsbegleitung im ACP-Ansatz ist. Mit Unterstützung der Beraterin und im Dialog mit den ihr bedeutsamen Menschen hatte Frau A. im Rahmen der gesundheitlichen Vorausplanung den Raum, sich auf dem Hintergrund ihrer Biografie und ihrer Werte frühzeitig mit möglicherweise einmal auf sie zukommenden Behandlungssituationen auseinanderzusetzen. Sie konnte sich klar darüber werden, welche Qualitäten ihr Leben für sie erhaltenswert machen, in welchem Ausmaß es für sie von Bedeutung ist, noch lange weiterzuleben, unter welchen Umständen und in welchem Umfang medizinische Behandlungen auf Lebensverlängerung ausgerichtet sein sollten, und welche Belastungen und Risiken sie dafür in Kauf zu nehmen bereit wäre. Und schließlich konnte sie erkennen, ab wann für sie die Grenze erreicht wäre, ab der sie für sich eine palliative Therapie-Ausrichtung wünscht. Alle später in der Patientenverfügung getroffenen Festlegungen erklären sich aus dieser grundlegenden Reflexion und zeigen, dass die Vorausplanung auf dem Niveau einer Informierten Einwilligung erfolgt ist. Dass die Tochter als Bevollmächtigte intensiv in diesen Prozess involviert war, hat ihr ermöglicht, ihrem Auftrag, dem Willen der vertretenen Person „Ausdruck und Geltung zu verschaffen“ (vgl. § 1901a BGB), wirksam nachkommen zu können. 

Kontakt und weiterführende Informationen

Das Konzept Advance Care Planning (ACP) nimmt drei Szenarien in den Blick: die akute Notfallsituation, die Einwilligungsunfähigkeit unklarer Dauer und die 
dauerhafte Einwilligungsunfähigkeit. Zuvor erfolgt eine grundlegende Auseinandersetzung der vorausplanenden Person mit ihren Werten, Präferenzen und Zielen.

Regionale Ansprechpartner für das Konzept ACP/BVP in Nordrhein können Sie über die Deutsche interprofessionelle Vereinigung Behandlung im Voraus Planen (DiV-BVP) erfragen unter 069 / 34 87 20 55 oder per E-Mail an info(at)div-bvp.de

https://www.div-bvp.de/

https://www.acp-i.org/

Dauerhafte Einwilligungsunfähigkeit

Auch wenn aufgrund der Situation und der getroffenen Entscheidungen der in den Vorausplanungsgesprächen erarbeitete und dokumentierte Abschnitt Dauerhafte Einwilligungsunfähigkeit bei Frau A. nicht relevant wurde, soll dieser Gesprächs- und Dokumentationsteil hier zur Verdeutlichung noch kurz erläutert werden.
Für den Fall des Eintretens einer Situation mit Dauerhafter Einwilligungsunfähigkeit, zum Beispiel einer Demenz oder einer irreversiblen Hirnschädigung, hatte Frau A. Entscheidungen über gegebenenfalls erforderlich werdende Behandlungsschritte bewusst in die Hände ihrer bevollmächtigten Tochter gelegt (siehe QR-Code „Dauerhafte Einwilligungsunfähigkeit“). Der Maßstab für diese Entscheidungen sollten wiederum die von Frau A. unter dem Abschnitt „Einstellungen“ des ACP-Dokuments gemachten Aussagen sein. Dort hatte sie erklärt, eine lebensverlängernde Behandlung solle bei Eintritt des Verlustes ihrer kognitiven Fähigkeiten und ihres Vermögens, differenziert und klar zu kommunizieren, unterbleiben. An dieser Stelle des Vorausplanungsgespräch wurde jedoch erarbeitet, dass in diesem Fall das Therapieziel „Lebensverlängerung“ so lange beibehalten werden soll, wie Frau A. nach Einschätzung der Tochter „überwiegend Freude am Leben“ empfindet. Bei gleichzeitigem Vorliegen einer dauerhaften Bettlägerigkeit sollte diese Sonderregelung jedoch nicht angewendet werden. Außerdem schloss Frau A. für diese Situation über den ohnehin geltenden Ausschluss einer kardiopulmonalen Reanimation auch noch folgende Therapiemaßnahmen aus: invasive Beatmung, Intensivstation, Dialyse, PEG-Sonden-Anlage. 

Dr. rer. medic. Thomas Otten (Dipl. Theol. Univ.) arbeitet als Krankenhausseelsorger in den Städtischen Kliniken Köln und als Beauftragter für Ethik im Gesundheitswesen im Erzbistum Köln. Er ist Gründungsmitglied der Deutschen interdisziplinären Vereinigung Behandlung im Voraus Planen e. V. (DIV-BVP), Trainer für ACP (DIV-BVP), Trainer für Ethik im Gesundheitswesen (AEM) und Supervisor (DGSv). Er hat über das Thema Advance Care Planning promoviert und in den vergangenen Jahren ACP-Projekte in der Region Köln mit implementiert.

Dr. Stefan Meier ist Oberarzt der Klinik für Anästhesiologie am Universitätsklinikum Düsseldorf. Er ist Mitglied der Sektion Ethik der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin und des Gründungsausschusses für das Komitee für medizinethische Beratung der Ärztekammer Nordrhein.